ebook img

Schriftlichkeit und Gesellschaft: Kommunikation und Sozialität der Neuzeit PDF

287 Pages·1999·8.203 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Schriftlichkeit und Gesellschaft: Kommunikation und Sozialität der Neuzeit

Cornelia Bohn Schriftlichkeit und Gesellschaft Cornelia Bohn Schriftlichkeit und GeseIIschaft Kommunikation und Sozialitat der Neuzeit Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Aile Rechte vorbehalten © Springer Fachmedien Wiesbaden 1999 Urspriinglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1999. Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urhe berrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Dbersetzun gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. http://www.westdeutschervlg.de Hochste inhaltliche und technische Qualitat unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produktion und Verbreitung unserer Bucher wollen wir die Umwelt schon en: Dieses Buch ist auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die EinschweiB folie besteht aus Polyathylen und damit aus organischen Grundstoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen. ISBN 978-3-531-13257-0 ISBN 978-3-663-07753-4 (eBook) DOl 10.1007/978-3-663-07753-4 Inhalt Einfiihrung: 1st die Soziologie schriftvergessen? 9 Kapitel I: Sinnsysteme 15 1. BewuBtsein und Kommunikation sind strukturell gekoppelt 15 2. Sinnzwang, Selektionszwang und Selbstveranderungszwang 17 3. Wiederholung und Kontinuitat in ereignisfundierten 24 Systemen 4. Verschriftlichte Selbstreferenz 30 5. Das Prinzip der Schriftlichkeit: Stabilitat und Kontingenz 35 5.1 Aktualitat und Virtualitat: eine asymmetrische 35 Verweisungsstruktur 5.2 Sinndimensionen und Kontingenz: 40 5.2.1 Sachdimension, 41 5.2.2 Zeitdimension 44 5.2.3 Sozialdimension 50 Kapitel II: Sozialitat und Schriftlichkeit 59 1. Die Differenz schriftlichlmiindlich 59 l.1 Sprache und Schrift transzendieren den Wahrnehmungs- 64 kontext l.2 Sprache und Schrift entkoppeln Kommunikation vom 67 Wahrnehmungskontext 2. Fragen an die Tradition: Sozialitiit und Schriftlichkeit ? 78 6 Inhalt 2.1 Ursprungliche Soziali111t 78 2.2 Doppelte Kontingenz 84 2.2.1 Dissenstoleranz in der Schriftlichkeit 89 2.3 Koprasenz 100 2.3.1 Reziprozitat der Perspektiven 100 2.3.2 Gleichzeitigkeit als Garant fUr Sozialitat 104 2.3.3 Verstehen 113 2.3.4 Zeit 120 3. Schriftliche Kommunikation: eine Skizze 129 3.1 Schriftliche Dokumente als Glaubwiirdigkeitsgaranten 138 3.2 Prazisionsgestaiten im Produktions-und Erwartungs- 142 format: Rekursion und doppelte Schlie6ung 3.3 Lesegeschichte: Der Autor als sammelnder Leser und die 154 Mehrfachlektiire Exkurs: Rhetorik und Hermeneutik in der Selbstbeschreibung der 161 Kommunikation Kapitel m: Eioe Alliaoz: Schriftlichkeit ood soziale 173 DifTereozieroog 1. Konversation und ihre schriftlichen Genera 181 2. Dichtungslehren und die "gloire" des Schriftstellers 194 3. Schriftphanomene: Genialitat, Originalitat und Neuheit 200 4. Authentizitat und Autorisierung 221 5. SchrUtlGntik 226 6. Schrifrrehabilitierung 237 Inhalt 7 Literatur 259 Index 287 Einfiihrung: 1st die Soziologie schriftvergessen? Die vorliegende Arbeit geht von einem Theoriedefizit in der Soziologie aus. In den letzten Dekaden hat es iiber Schriftlichkeit, Verschriftlichung, Auf schreibesysteme, die Materialitaten der Kommunikation, die Differenz schriftlicher und miindlicher Kommunikation zahlreiche Untersuchungen gegeben. Es hat sich ein Feld intensiver Forschung konstituiert, in dem histo rische, philologische, ethnologische, medien- und kulturwissen-schaftliche Fragen zusammengefiihrt werden. Sie hinterlassen als Problemhorizonte Spuren in den beteiligten Wissenschaften. Nur die Soziologie scheint sich auf die eine Seite der Differenz schriftlichlmiindlich zu konzentrieren. Die ver schiedenen Varianten von Interaktions- und Konversationsanalysen sind ein Beispiel dafiir. Diese Praferenz hat Tradition. In der sozialphilosophischen Tradition fiihrt die Bemiihung urn eine anthropologische Fundierung der Sozialitat zur Suche oach der ihr eigenen sinnlichen Basis, zur Frage also, welcher unserer Sinne Sozialitat vor allen anderen tragt und ermoglicht. Die Abstande ermoglichende Erreichbarkeit des Anderen privilegierte die Sinne des Horens und Sehens als sozialitats stiftende vor Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn. Ihre grofiere Differen ziertheit und reflexive Struktur waren dabei nicht allein ausschlaggebend dafiir, sie von der reinen Wahrnehmung zu unterscheiden. Der Sinn des Ge hOrs, so heifit es bei Kant, "ist einer der Sinne von bIos mittelbarer Wahr nehmung". GehOr und Gesichtssinn sind mittelbar, insofern sie die Wahr nehmung der Wahrnehmung ermoglichen, d.h. durch den Anderen, durch Stimmorgan und Laute vermittelte Wahrnehmung. "Durch eben dieses Mit- 10 Einfiihrung: 1st die Soziologie schriftvergessen? tel," so Kant, "welches durch das Stimmorgan, den Mund in Bewegung ge setzt wird, konnen sich Menschen am leichtesten und vollstandigsten mit anderen in Gemeinschaft der Gedanken und Empfindungen bringen, vor nehmlich, wenn die Laute, die jeder den anderen hOren laBt, articuliert sind und in ihrer gesetzlichen Verbindung durch den Verstand eine Sprache aus machen."1 Anders optiert Simmel. Hier ist der Gesichtssinn vor allen anderen - denen freilich eine abgeleitete Bedeutung zukommt -sozialitatsstiftend durch Wechselwirkung und Reziprozitat, denen er unausweichlich ausgesetzt ist. 2 Der Blick kann sich dem Erblicktwerden nicht entziehen. 1m Erblicken eines anderen Blicks erblicke ich immer die Wahrnehmung meines eigenen Blik kes. Was Auge und die Kombination von GehOr und Lautbildung aber un terscheiden, ist der Verweis des letzteren auf die Selbst und SelbstbewuBtsein konstituierende Wirkung der Sozialitat. Der Sprechende wird nicht nur ge hOrt. Er hOrt sich immer auch selbst. Der Blick kann sich selbst nur in der Wahrnebmung des anderen erblicken, das Selbst existiert nur als ein von anderen wahrgenommenes Selbst. Der Unverfugbarkeit des eigenen Blickes steht die lautliche, symbolhaft formbare Ausdrucksweise gegeniiber. Sie ist den an der Interaktion Beteiligten in gleicher Weise gegeben, gleichgiiltig, von wem sie erzeugt wird. Nachhaltig wirksame soziologische Theorietradi tionen haben daher in der Spur Kants die Pradominanz des GehOrs in Verbin dung mit der Lautbildung und deren symbolhafter Formung zur Grundlage des Sozialen erkliirt. Gemeinsam ist beiden Ausgangspunkten -Wechselwirkung der Blicke oder gemeinsame Vernahme symbolhafter Laute -die Annahme, daB ego und alter ego sich in einem gemeinsamen Wahrnebmungsfeld befinden. 1 Kant, 1798/1968, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke Bd. VII, Akademie Textausgabe, Berlin, S. 155. Einfiihrung: 1st die Soziologie schriftvergessen? 11 Auch wenn Sprache eine hOhere Generalisierung ihrer Symbolik zuHiBt, wird in der Interaktion vorausgesetzt, daB die Beteiligten gleichzeitig anwesend sind. Was aber, wenn wir von einer schriftlichen Kommunikation ausgehen? Die an leiblicher Prasenz abgelesene Ordnung der Sinne gerat durcheinander. Wir benutzen das Auge, urn geschriebene Sprache wahrzunehmen. Hand und Auge ersetzen GehOr und Sprechorgan. Reziprozitat und Gleichzeitigkeit werden durch Sukzession und AnschlieBbarkeit ersetzt. 1st die soziologische Tradition also schriftvergessen, wie Derrida dies in beeindruckenden Lesarten der abendlandischen Metaphysik vorgefiihrt hat? Das Thema der Schriftlichkeit als sozial bedeutsames Phanomen ist durchaus in der soziologischen Tradition vorhanden. Georg Simmel erortert den "schriftlichen Verkehr" unter dem Gesichtspunkt der Objektivation und dem besonderen Verhliltnis von Explizitheit und Implizitheit.3 Max Webers religionssoziologische und rechtssoziologische Schriften raumen der Ent wicklung des Schreiberintellektualismus und dem Schrifigelehrtenturn einen bedeutenden Platz ein. Seine Herrschaftssoziologie ware weder in ihren Pas sagen tiber die Antike noch in der Ausformulierung des modemen Typs bti rokratischer Herrschaft ohne die Beachtung des verwaltungsmaBigen "Schreib- und Rechenwesens" moglich gewesen.4 Ftir die komplexer wer dende Gesellschaft wird bei Weber v.a. auf die AktenmaBigkeit der Verwal tung verwiesen. Zusammen mit den Wissenstypen des Fach- und Dienstwis sens, dem Beamtentum, monetarer Gratifikation und der Regelhaftigkeit der Verwaltung bildet sie die Grundlage der "btirokratischen Herrschaft". Schriftlichkeit wird also im Problemhorizont von gesell-schaftlicher Stratifi zierung, neuen Wissenstypen, Rationalisierung und Formalisierung erortert. 2 Simmel, Georg, 1908/1992, Soziologie, FrankfurtlM: Suhrkamp, S.722-742. 3 Ebenda., S.429-433. 4 Max Weber, 1922/1985, Wirtschaft und Gesellschaft, Tiibingen: Mohr, bes. S. 653, 738; ZUT AktenmaBigkeit der Verwaltung vgl. ebenda, S. 126: "Es gilt die AktenmaJ3igkeit der Verwaltung auch da, wo miindliche Erorterung tatsachlich Regel oder geradezu Vorschrift ist." 12 Einfiihrung: 1st die Soziologie schriftvergessen? Themen, die bei Parsons wieder aufgenommen und fortgesetzt wer den. Eine gut institutionalisierte Schriftsprache ist in der Theorie Parsons Voraussetzung einer fortgeschrittenen Form "evolutionarer Universalien", auf der Ebene der sozialen Organisation der Gesellschaft, die das "primitive Stadium" deutlich hinter sich gelassen hat.5 Zwischen der primitiven, inter mediaren und modernen evolutionaren Entwicklungsstufe der Gesellschaft siedelt Parsons Schriftsprache und Literalitat an, gleichsam als Katalysator der gesellschaftlichen Evolution. Sie steigert dariiber hinaus - in Parsons Sprache - die fundamentale Differenzierung zwischen sozialem und kultu rellem System, zwischen Normen und Werten, zwischen der Erhaltung und Tradierung kultureller Bestande und der Integration der gesellschaftlichen Gemeinschaft. In der Gesellschaftstheorie Parsons ist Schriftlichkeit nicht nur Vorraussetzung der Differenzierung zwischen Sozialsystem und Kultursystem, sie sorgt auch dafiir, dafi das kulturelle System innerhalb der hierarchisch geordneten Subsysteme der Gesellschaft an die Spitze gemt. Die Frage, nach der Schriftvergessenheit der soziologischen Tradition konnen wir offenbar nur so beantworten: Sie ist schriftvergessen, und sie ist es nicht. Sie ist es dort, wo es urn die Konstitution von Sozialitat selbst geht. Sie ist es nicht, wenn es urn die Herausbildung komplexer Gesellschaften und deren Organisation geht. In dieser Trennung liegt allerdings ein Problem. Wir gehen davon aus, dafi Schriftlichkeit selbst eine sozialitatskonstiuierende Form ist, die wir in der Differenz zur Miindlichkeit beobachten werden. Schriftlichkeit solI hier als Operation und nicht als Zeichen, Spur oder Gra phem aufgefafit werden. Wir begreifen Schriftlichkeit als Operation in sozia len Systemen, die wir als Sinnsysteme beschreiben. Die Arbeit gliedert sich 5 Vgl. Talcott Parsons, 1964, Evolutionary Universals in Society, in: American Sociological Review, Vo1.29, S.339-357.

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.