Elisabeth K. Paefgen Schreiben und Lesen Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur Herausgegeben von Dirk Grathoff, Gunter Oesterle und Gert Sautermeister In der Reihe "Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur" werden Forschungsarbeiten veroffentlicht, die eine Erweiterung der tradierten germanistischen Arbeitsgebiete anstreben. Neben dem traditio nellen Kanon asthetischer Literatur sollen vernachlassigte Textgenres, etwa journalistische Pros a, Briefe und Berichte sowie Darstellungs- und Diskursformen technisierter Medien wie Radio, Film und Fernsehen berucksichtigt werden. In methodisch-theoretischer Hinsicht werden im Rahmen literaturwis senschaftlicher Analysen unterschiedliche Ansatze - z.B. der kultur wissenschaftlichen Anthropologie und der Psychoanalyse, des Struktura lismus und der Gesellschaftswissenschaften - integrativ verbunden und auf ihre Ergiebigkeit fur die traditionellen hermeneutischen, literarasthe tischen und -historischen Verfahren erprobt. Elisabeth K. Paefgen Schreiben und Lesen Asthetisches Arbeiten und literarisches Lernen Westdeutscher Verlag Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Paefgen, Elisabeth Katharina: Schreiben und Lesen: asthetisches Arbeiten und literarisches Lemen / Elisabeth K. Paefgen. - Opladen: Westdt. VerI., 1996 (Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur) AIle Rechte vorbehalten © 1996 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Der Westdeutsche Verlag ist ein Untemehmen der Bertelsmann Fachinformation. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Ur heberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzuIassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Dber setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeic herung und Ver arbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Hallstadt Gedruckt auf saurefreiem Papier ISBN-13:978-3-53l-l2847-4 e-ISBN-13:978-3-322-83267-2 DOl: 10.1007/978-3-322-83267-2 keine Geschichte - trotzdem fur F. Viele haben sich in diese Arbeit 'eingeschrieben'; der Dank geht insbesondere an: Fritz Seidenfaden Theresia Birkenhauer D.C. Kochan Jiirgen Forster Hubert Ivo Angelika Lowenau Karin Borck Ute Zolondek Doris Kaufinann Dagmar Plugge Klaus Veihelrnann - die SchOlerinnen und Schuler der Klassen und Kurse des Bertha-von-Suttner Gymnasiums in Berlin-Reinickendorf; - die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der an der Technischen Universitat Berlin durchgefiihrten Schreib-Seminare. Hartmut Eggert Karlheinz Fingerhut Valentin Merkelbach Kaspar H. Spinner Die muhsame Arbeit des Setzens hat Peter Przybilla mit Einfiihlungsvermogen und Engagement ubernommen. DaB diese Habilitationsschrift als Buch erscheint, ist Gert Sautermeister zu verdanken. Inhaltsverzeichnis Einleitung .......................................................................................................... 9 A. Theoretischer Teil: Schreiben und Lesen in didaktischer und asthetischer Forschung I. Schreiben............................................................................................. 19 1. Gestaltungsversuche und Produktionsdidaktik - Schreiben und Literatur ........ .. .. .. .. .. ... ............................................... 20 2. Kommunikation - Schreiben an Adressaten ..................................................................... 34 3. Kreativitat - subjektives, freies und spielerisches Schreiben ................................... 38 4. LernprozeB- Schreiben als "Problemlosen" .............................................................. 59 ll. (Schreiben und) Lesen ... ..................................................................... 79 1. Uberlegungen zum Unterschied von Schreiben und Lesen .................................................................... 80 2. Lese-Padagogik ............. .. ................................................................ 96 3. Rezeptions-und Wirkungsasthetik: 'Aile (ideelle) Macht dem Leser' ....................................................... 104 4. Literaturdidaktische Folgen .............................................................. 114 ID. SchreibenundLesen .......................................... ". ................................ 128 1. Pastiche, Intertextualitat und Diskursanalyse .................................... 130 2. Exkurs: Das Original in Kunst-und Textwissenschaft .......................... 149 3. Roland Barthes' avantgardistisches Textverstandnis: "Ich schreibe mein Lesen" ................................................................ 163 4. Roland Barthes in didaktischer Diskussion .................................... 190 5. Perspektiven fur eine Schreib-Lese-Didaktik .......................... 197 7 B. Praktischer Teil: Lesendes Schreiben und schreibendes Lesen: Franz Kafka, Das Urteil I. Begriindung und Einordnung der praktischen Venuche Einwirkung der Praxis auf die Entwicklung der FragesteUung: Vor-Venuche ..................................................................................... 201 1. Entstehung der Fragestellung: Schreibseminare an der Universitat ................................................... 206 2. Konzentration der Fragestellung: Vor-Versuche in einer 11. Klasse ..................................................... 212 n. Schreib-Lese-Venuchsreihe zu Franz Kafka: Das Urteil ................. 222 1. Methodische Vorbemerkungen ......................................................... 222 2. Erster Versuch in einer 11. Klasse (Dezember 1991) ............................................................. ............... 241 3. Zweiter Versuch in einem universitaren Pro seminar (Sommersemester 1992) ................................................................... 253 4. Dritter und vierter Versuch in einem Grund-und einem Leistungskurs Deutsch, 4. Semester (Februar1993) .................................................................................. 272 5. FOnfter Versuch in einer 11. Klasse (Mai 1993) ....................................................................................... 295 C. SchluO: Reflexion und Auswertung der Venuchsreihe ...................................... 315 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 323 8 Einleitung "Nur darauf kommt es an, daB man Geschriebenes vorweisen kann und die Leute Agyptens wieder etwas zu schreiben haben und konnen's irgendwohin schicken, daB es geschrieben werde abermals und diene der Buchfuhrung. Freilich, ohne Schriftliches kommst du nicht durch; kannst du aber eine Scherbe vorweisen oder eine Rolle und Urkunde, so hell en sie sich auf Denn sie sagen wohl, Ammun sei ihnen der Hochste oder Usir, der Sitz des Auges; aber ich kenne sie besser, im Grunde ist's Tut der Schreiber" (MANN 1960, S.71O). Das Geschriebene ist nicht dazu da, gelesen zu werden, sondem dient einem emeu ten Schreiben. AusschlieBlich schriftliche Dokumente garantieren ein 'Durch- und Weiterkommen'. DarOber hinaus auBert der nicht-agyptische Sprecher die Vermu tung, daB der Schreiber unter den vielen in diesem Land verehrten Gottem der 'eigentliche' sei, weil das, was er herzustellen vermag, in so hohem Ansehen stehe. - Wenngleich von einer gottergleichen Hochachtung des Schreibers heute nicht mehr die Rede sein kann, so umreiBt der erste Teil des Zitats aus Thomas Manns Joseph-T etralogie, das die agyptische als eine schreibbesessene Kultur kennzeich net, ein Schreib-Programm, wie es auch fur diese Arbeit grundlegend ist: Schreiben in der Nachfolge von bereits Geschriebenem und unter BerOcksichtigung desselben. Schreiben aber auch, urn - in einem ubertragenen Sinn - 'durchzukommen' durch dieses schon Geschriebene und 'hineinzukommen', nicht in das durch die Feste Zel gut gesicherte Land Agypten, sondem in einen literarischen Text, der sich gleichfalls nicht jedem, der EinlaB begehrt, bereitwillig ofihet. Die Prioritat des Schreibens, die aus dieser Charakterisierung der agyptischen Schriftkultuf. spricht, erfahrt ihre letzte Legitimation durch die bedeutende Position, die "Tut der Schreiber" eingenommen haben soIl; eben diese Prioritat des Schreibens - vor der des Lesens - ist auch pro grammatisch fur diese Arbeit, die insofem eigentlich den Titel tragen muBte: SchreibenundLesenundSchreiben. Allerdings dient das Schreiben in unserem Zusammenhang erklartermaBen nicht der "Buchfuhrung"; spatestens hier enden die Parallelen, die das Zitat ermoglicht. Auch wird nicht nur geschrieben, damit andere weiteres schreiben konnen: Das Lesen hat seine Funktion und kann nicht ubergangen werden. Beide Tatigkeiten, die des Schreibens wie auch die des Lesens, werden in ihrer Beziehung zur asthetischen - d.h. literarischen, poetischen - Sprache untersucht. Es geht nicht urn den zweck dienlichen Alltagsgebrauch der schriftsprachlichen Kompetenz, sondem urn die ge staltete, (uber)strukturierte, verfremdete, indirekt sprechende, metaphorisch um schreibende und im Fiktionalen angesiedelte Sprache der Literatur, einer Sprache also, die - im Unterschied zur sachlich auflistenden der Buchfuhrung - nicht auf unmittelbare 'Nutzanwendung' ausgerichtet ist: In Abwandlung einer bekannten Definition kann dieses Schreiben als 'Schreiben in Bildem' definiert werden (vgl. 9 SKLOVSKIJ 1969/1988, S.4; TYNJANOV 1969/1988, S.394) im Gegensatz zu einem 'Schreiben in Sachen'. Die Diskussion urn die Berechtigung wie auch urn die mogli chen Chancen einer literarischen Laien-Schreibpraxis sind in den beiden zurucklie genden Jahrzehnten intensiv gefiihrt worden, ohne daB die iiberspannten Erwartun gen und die teilweise hybriden Hoffuungen stets einer kritischen Reflexion unter zogen worden waren. 1m Kontext der hier entwickelten Argumentation wird die schreibende Anwendung der asthetischen Sprache nicht anthropologisch, entwick lungspsychologisch oder padagogisch begrOndet, sondem als Konsequenz eines 'li terarischen Lesens' verstanden: "Niemand weiB es, daB wir beim Lesen unsere Versuchung, Dichter zu sein, neu erleben. Jeder etwas passionierte Leser nahrt und verdrangt in der Lekttire den Wunschtraum, Schriftsteller zu sein" (BACHELARD 1987, S.16). Die hier vorgelegte Arbeit ist eine didaktische, die sich - theoretisch und praktisch - mit dem Lehren und Lemen literarischer Schreibformen auseinandersetzt und die Frage verfolgt, wie das Lesen asthetischer Texte in ein asthetisches Schreiben tiberfuhrt werden und ob diese schreibende Fortsetzung eine begrundete Funktion innerhalb des Literaturunterrichts gewinnen kann. Ausgangspunkt dieser Oberle gung ist der Minimalkonsens, daB das Lesen literarischer Texte auch dann noch eine sinnvolle Tatigkeit ist, wenn der ideelle Wert der Literatur umstritten, die Konkur renz hart geworden und die Krise der literarischen Bildung in aller Munde ist. Die in Bedrangnis geratene Literatur erfordert anders ausgebildete Leser, welche, ist noch nicht entschieden, aber moglicherweise eben solche, die weniger, aber genauer le sen, die schreibend lesen und die, gewappnet durch eigene asthetische Schreiberfah rung, mit einer anderen Sprachaufinerksamkeit lesen. DaB die schreibende Herstellung asthetischer Sprachprodukte als Arbdl verstanden wird, bedarf kaum weiterer Erlauterung. Allzu bekannt sind die Dokumente und Aussagen tiber Schreibmiihen, -schwierigkeiten und -blockaden professionell Schreibender (vgl. EYKMAN 1985; FROCHLING 1987), die belegen, daB die schrei bende Formung der Sprache in eine literarische einen ,,ProblernlosungsprozeB" vor stellt, der Arbeit bedeutet (BEETzJANTos 1984, S.104): "Die Mehrzahl der Autoren erfahrt das Formulieren literarischer Texte als anstrengende Arbeit, nicht wenige leiden unter jahrelangen Schreib hemmungen. Seit Lessing, der die 'lebendige Quelle' in sich vermiBte und alles 'durch Druckwerk und Rohren' aus sich 'heraufpressen' muBte, reiBen die Klagen tiber das schwere Handwerk des Schreibens nicht ab; Mallarme resigniert: 'Mon art est une impasse!' und gesteht: 'II n'y a pas un mot, qui n'ait coute plusieurs heures de recherche'" (BEETzJANTos 1984, S.105). Die Vorstellung, daB literarische Texte miihelos, scheinbar 'wie von selbst' durch bloBe Intuition und Inspiration des Schreibenden leichthin auf das Papier flieBen, ist seit der Berucksichtigung produktionsasthetischer Dokumente iiberholt: Literari sches Schreiben unterliegt mindestens denselben, wenn nicht noch komplexeren Schreibproblemen als das 'buchfuhrende', weil es nach einer anderen als der AlI tagssprache sucht (vgl. WALDMANN 1988, S.229). DarOber hinaus ist Schreiben grundsatzlich als eine - in bewuBter Tautologie formuliert - 'aktivere Tatigkeit' zu 10
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