Schieflagen im Bildungssystem Interkulturelle Studien Herausgegeben von Georg Auemheimer Wolf-Dietrich Bukow Christoph Butterwegge Hans-Joachim Roth Band 16 Georg Auemheimer (Hrsg.) Schieflagen im Bildungssystem Die Benachteiligung der Migrantenkinder Leske + Budrich, Opladen 2003 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für die Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 978-3-8100-3939-2 ISBN 978-3-322-97594-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97594-2 Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. © 2003 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtIich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis Georg Auernheimer Einleitung ........................................................................................................ 7 1 Die PISA-Studien - Herausforderung und Chance Anne Ratzki Skandinavische Bildungssysteme - Schule in Deutschland. Ein provokanter Vergleich ............................................................................. 23 Ingrid Gogolin Chancen und Risiken nach PISA - über die Bildungsbeteiligung von Migrantenkindern und Reformvorschläge ................................................................................... 33 Uwe Hunger & Dietrich Thränhardt Der Bildungserfolg von Einwandererkindern in den Bundesländern. Diskrepanzen zwischen der PISA-Studie und den offiziellen Schulstatistiken ...................................................................... 51 2 Strukturelle Aspekte der Bildungssituation von Migrationskindern Reimer Kornmann Zur Überrepräsentation ausländischer Kinder und Jugendlicher in "Sonderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen" ............................................ 81 Mechthild Gomolla Fördern und Fordern allein genügt nicht! Mechanismen institutioneller Diskriminierung von Migrantenkindern und -jugendlichen im deutschen Schulsystem ............................................... 97 Mona Granato Jugendliche mit Migrationshintergrund - auch in der beruflichen Bildung geringere Chancen? .................................. 113 5 3 Über Schul- und Unterrichtsqualität, Sprach- und Lesekompetenz Rainer Peek & Astrid Neumann Schulische und unterrichtliche Prozessvariablen in internationalen Schulleistungsstudien ...................................................... 139 Gesa Siebert-Ott Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg ......................................................... 161 Bettina Hurrelmann Ein erweitertes Konzept von Lesekompetenz und Konsequenzen für die Leseförderung ................................................... 17 7 4 Bildungsbeteiligung und Förderung von jungen Migranten in Fallstudien Erika Schulze & Eva-Maria Soja Verschlungene Bildungspfade. Über die Bildungskarrieren von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ........................................................................... 197 Dorothea Bender-Szymanski Unzureichend gefördert? Eine Analyse der Bildungssituation und der Förderbedingungen für Migrantenkinder an Frankfurter Schulen- auch aus der Perspektive von Schulleitern ................................................... 211 Autor(inn)enverzeichnis .................................................................... 233 6 Georg Auernheimer Einleitung Die Studien im Rahmen von PISA (Programme for International Student Assessment) haben die bildungspolitische Debatte in Deutschland wiederbe lebt und ihr wieder öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Sie haben durch den internationalen Vergleich sowohl die mangelnde Leistungs- als auch die mangelnde Integrationsfähigkeit unseres Bildungssystems ins öffentliche Be wusstsein gerückt, während vorangegangene Schulleistungsvergleiche nur im Expertenkreis fiir Diskussionen gesorgt hatten. Die Identifikation der Defizite im Besonderen ist allerdings kontrovers. Durch die PISA-Studien ist man auch über die Erziehungswissenschaft hinaus endlich auf die Benachteiligung der Heranwachsenden mit Migrationshintergrund (im folgenden Migrations kinder oder -jugendliche genannt) aufmerksam geworden. Es sei denn, man stellt die Sache auf den Kopf und beklagt wie mancher Politiker die angebli che Benachteiligung unseres Schulsystems durch den hohen Anteil an Schü lern mit Migrationshintergrund. Diese Erklärung fiir das schlechte Abschnei den unseres deutschen Bildungssystems im internationalen Vergleich wird wohl von vielen nicht ungern gehört, weil sie entlastet. Solche Erklärungen sind in unserer Mediengesellschaft ernst zu nehmen. Sie entbehren freilich je der wissenschaftlichen Grundlage. Inzwischen sind neben der international vergleichenden PISA-Studie (PISA-O) die Ergebnisse des innerdeutschen Leistungsvergleichs zwischen den Bundesländern (PISA-E) und außerdem die Ergebnisse der Internationa len Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) vorgelegt worden. Die Ergebnis se dieser drei Untersuchungen wären eigentlich gemeinsam zu diskutieren. Sie standen aber leider bei der Abfassung der meisten Beiträge dieses Bandes noch nicht zur Verfiigung. PISA-E haben Hunger/Thränhardt zum Thema ihres Beitrags gemacht, aufIGLU nimmt Gogolin kurz Bezug. Ungeachtet der kontroversen Ursachenzuschreibungen und der daraus folgenden Lösungsansätze können folgende Ergebnisse der ersten PISA-Stu die, zum Teil bestätigt und ergänzt durch PISA-E und IGLU, als unbestritten gelten: Das deutsche Bildungssystem schneidet im Kreis der Länder mit ver gleichbarem Entwicklungsstand äußerst schlecht ab; denn die meisten 15-Jährigen erreichen gegen Ende der Pflichtschulzeit nur ein sehr be scheidenes und, gemessen an den gesellschaftlichen Anforderungen, un zureichendes Kompetenzniveau. Selbst die Leistungen auf höheren Ni veaustufen bleiben hinter denen in anderen Ländern zurück. 7 Das deutsche Bildungssystem ist ungewöhnlich selektiv, was sich unter anderem auch an der restriktiven Versetzungspraxis zeigt. 24 Prozent der 15-Jährigen haben mindestens einmal im Verlauf ihrer Schulzeit eine Klasse wiederholen müssen (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S.414). Diesbezügliche Unterschiede zwischen den Bundesländern macht die innerdeutsche Vergleichsstudie PISA-E deutlich. Die Diskrepanz zwischen den oberen und den unteren Kompetenzni veaus ist im Vergleich zu anderen Ländern bei den in PISA-O untersuch ten Jugendlichen besonders groß und außerordentlich eng an die soziale Herkunft gekoppelt. Aufschlussreich ist dabei das Ergebnis der Grundschul-Lese-Untersuchung, dass die Schere zwischen oberen und unteren Kompetenzniveaus sich am Ende der Grundschulzeit noch nicht so weit geöffnet hat (Bos u.a. 2003, S.12). Zur Schichtzugehörigkeit kommt bei Migrationskindern und -jugend lichen die sprachliche Sozialisation als Belastungsfaktor hinzu. Das Bil dungssystem hat sich bisher offenbar nicht ausreichend auf deren sprach liche Ausgangslagen eingestellt. Wegen der starken Abhängigkeit des Schulerfolgs von Sozialschicht und Sprachvermögen, die von der deut schen Schule bisher nicht gelockert wird, sind Migrationsjugendliche von der Ungleichheit der Bildungschancen besonders stark betroffen. Die Frage der Struktur des deutschen Bildungssystems - ein Tabu Außer diesen wohl kaum bestreitbaren Ergebnissen ist vieles strittig, vor al lem was die Ursachenzuschreibungen betrifft. Zur Vermeidung der seit drei Jahrzehnten tabuisierten Strukturfragen, die man als "ideologischen Ballast" etikettiert, tendiert man zumindest im politischen Raum zu einer Verengung des Fragehorizonts auf das, was man früher "innere Schulreform" nannte, und damit zur einseitigen Auslegung der Daten. Aus dem von der damaligen Präsidentin der Kultusministerkonferenz verfassten Vorwort zur ersten PISA Studie lässt sich das Bemühen um eine Begrenzung des Fragehorizonts able sen. Dr. Annette Schawan, Kultusministerin von Baden-Württemberg schrieb: ,,Die Kultusministerkonferenz hat den Diskussions- und Entschei dungsprozess so angelegt, dass nicht nur Untersuchungen in Auftrag gege ben, sondern auch auf den verschiedenen Ebenen und in den zuständigen Gremien Konsequenzen aus den Befunden gezogen werden, und zwar in cur ricularer und didaktischer Hinsicht, im Hinblick auf die Strategien zur Quali fizierung von Lehrkräften und Schulen, im Hinblick auf die weitere Entwick lung der empirischen Bildungsforschung und der fachdidaktischen Forschung sowie schließlich im Hinblick auf die Verfahren der Steuerung im Bildungs- 8 wesen" (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S.ll). Wenn man von dem letz ten Aspekt absieht, werden Fragen der Bildungsorganisation hier ausgeklam mert. Drei Autor(inn)en in diesem Band sprechen die Einspeisung der Unter suchungsergebnisse in den bildungspolitischen Diskurs an und beklagen oder befürchten deren teilweise "simplifizierende" (Gogolin) oder "selektive" Nutzung (Hunger/lbränhardt). In diesem Zusammenhang machen sie auch mehr oder weniger ausführliche Anmerkungen zu den Untersuchungsdesigns und Unterschieden zwischen PISA-O und PISA-E, die für die Interpretation der Ergebnisse bedeutsam sind. Gogolin macht darauf aufmerksam, dass die in den beiden PISA-Studien verwendeten Leistungsmaßstäbe insofern variie ren, als sich der bundesinterne Vergleich stärker an curricularen Vorgaben o rientiert, also an dem, was gelernt werden konnte, während die international vergleichende Studie allein gesellschaftliche Anforderungen (an Lesekompe tenz zum Beispiel) als Kriterium zugrunde legt. Hunger/Thränhardt erinnern an die Unterschiede in der Zusammensetzung der Untersuchungsgruppen. Während nämlich für PISA-O der internationalen Vergleichbarkeit wegen die Alterskohorte der 15-Jährigen als Sampie gewählt wurde, wurden in PISA-E die Schülerinnen und Schüler des neunten Schuljahres unabhängig vom Alter erfasst und außerdem - anders als in PISA-O - unter Ausschluss der Sonder schüler. Die Folgen solcher Auswahlkriterien sind bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen, wie man sich denken kann. Häufig wird dies aber in der öffentlichen Debatte missachtet. Was die Frage der Struktur des deutschen Bildungssystems betrifft, so haben die drei Schulleistungsvergleiche ein Hin und Her in der bildungspoli tischen Debatte bewirkt. Zunächst ließ sich nach der Veröffentlichung der in ternational vergleichenden Studie wegen der hervorragenden Platzierung von Ländern mit Gesamtschulsystemen die Diskussion über die Folgen der Mehr gliedrigkeit kaum unterdrücken, bis dann die gute Leistungsbilanz der Bun desländer mit einem prononciert hierarchisch aufgebauten Sekundarschulsys tem, vor allem Bayerns, Kritiker des selektiven deutschen Systems zeitweilig in Verlegenheit brachte, obwohl das gute Abschneiden der bayerischen NeuntkIässler/innen nicht über die besonders hohe Selektivität der dortigen Schulen hinweg täuschen kann (dazu Hunger/lbränhardt). Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung wiederum, die zeigt, dass die Schülerleis tungen am Ende der Grundschule weit weniger stark streuen als am Ende der Sekundarstufe I, hat die Debatte um die Differenzierung nach Schulformen erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Die Autor(inn)en stellen in einer Kurz fassung sogar fest: ,,Die Streuung der Leistungswerte ist in Deutschland am Ende der vierten Jahrgangsstufe klein ... Nur wenige andere Länder erreichen eine geringere Streuung und übergeben somit eine in ihren Leseleistungen insgesamt homogenere Schülerschaft an nachfolgende Klassen" (Bos u.a. 2003, S.12). - Man muss hinzufügen: an die Sekundarschulen. Dabei "sind 9 die Leistungen in der Grundschule signifikant weniger vom sozialen Hinter grund abhängig als in der Sekundarstufe" (Bos u.a. 2003, S.33). Und nicht nur die Streuung ist wesentlich geringer als bei den Leistungen der 15-jähri gen, sondern auch das insgesamt erreichte Niveau höher, so dass es - anders als bei der internationalen PISA-Studie - "einem Vergleich mit europäischen Nachbarländern durchaus standhalten kann" (Bos u.a. 2003, S.ll). Registriert werden "vergleichsweise hohe Kompetenzen" und ein geringer Anteil "echter Risikokinder" (Bos u.a., S.13f.). Genau das Gegenteil hatte bei der ersten PISA-Studie für Aufregung gesorgt. Die Differenzen lassen sich kaum durch die Unvollständigkeit der IGLU-Stichprobe erklären, an der nicht alle Bun desländer beteiligt waren. In ein fragwürdiges Licht wird die Auft eilung nach Schulformen auch durch die Entdeckung gerückt, dass zwischen der in IGLU ermittelten Lese kompetenz und den Übergangsempfehlungen der Grundschulen wenig Zu sammenhang besteht. ,,Betrachtet man den Zusammenhang zwischen der von den Lehrpersonen erteilten Grundschulempfehlung bzw. der Schulentschei dung der Eltern mit den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in der Schlüsselkompetenz Lesen, so wird deutlich, dass eine große Überlappung der Leistungen (gemäß Übergangsempfehlung, G. A.) besteht, die über drei Kompetenzstufen streuen. Das bedeutet, unserem Bildungssystem insgesamt gelingt erwartungsgemäß nicht die Form der Auslese, die Grundlage des drei gliedrigen Schulsystems ist" (Bos u.a., S.18). Nach dem in IGLU angestellten Vergleich ,,kann aus der Kompetenzstufenzugehörigkeit nicht wirklich auf die Zensur der Schülerinnen und Schüler bzw. umgekehrt geschlossen wer den" (S.19). Damit werden die bereits in der internationalen PISA-Studie überraschend festgestellten Leistungsüberschneidungen zwischen den Schul formen bestätigt (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S.12lf.). Erwartungsge mäß entsprechen zwar die dort ermittelten Kompetenzstufen der Hierarchie der Schulformen, gemessen an den Mittelwerten. Die Leistungsstreuung in nerhalb der Schulformen ist aber jeweils so groß, dass nicht wenige Schüler genau so gut auch die nächst höhere Schulform besuchen könnten. Die Autor(inn)en der international vergleichenden PISA-Studie hielten sich bei der Auswertung der Daten in Fragen der Schulorganisation sehr be deckt. Zwar stellen sie klar, dass es außer in Deutschland nur in der Schweiz und Liechtenstein Schulsysteme mit einer so frühen Schullaufbahnentschei dung aufgrund der vertikalen Gliederung gibt (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S.425). Aber unter Hinweis darauf, dass es auch innerhalb einiger äußerlich integrativer Systeme (z.B. USA, Kanada) eher verdeckte Formen der äußeren Differenzierung gibt wie leistungshomogene Züge mit bestimm ten Eingangsvoraussetzungen oder Niveaukurse, schließen sie mit großer Vorsicht: ,,Da über die Verbreitung von funktionalen Äquivalenten für tradi tionelle Formen der Niveaugliederung im Schulwesen derzeit noch zu wenig bekannt ist, wird die Behandlung dieses Themas vorläufig zurückgestellt" 10