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Schema und Variation in den Sherlock-Holmes-Stories von Arthur Conan Doyle PDF

731 Pages·2004·4.85 MB·German
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Schema und Variation in den Sherlock-Holmes-Stories von Arthur Conan Doyle (Band 1) Von der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie genehmigte Dissertation vorgelegt von Constanze Gehrke aus Mechernich/Eifel Berichter: Universitätsprofessor Dr. phil. Peter Wenzel Universiätsprofessor Dr. phil. Ludwig Deringer Tag der mündlichen Prüfung: 24.01.2003 Danksagung Nach Vollendung eines Projektes wie einer Dissertation weiß man, dass ein solches Unterfangen nur mit der Unterstützung vieler anderer Menschen möglich ist. Großer Dank gilt der Graduiertenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen an der RWTH Aachen, die durch die Finanzierung des Projektes meine Promotion ermöglicht hat. Ganz herzlich danke ich meinem Doktorvater Prof. Peter Wenzel für seine Hilfe und Unterstützung während der letzten drei Jahre und dafür, dass er mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Meinen Eltern, Angelika und Manfred Gehrke, denen ich selbst alles verdanke, möchte ich auf diesem Weg für ihre Ermunterung und ihren Beistand und dafür, dass sie die Literatur - und nicht zuletzt die Kriminalliteratur - fast so sehr lieben wie ihre Kinder, Dank sagen. Während der Jahre der Promotion konnte ich wieder einmal feststellen, wie glücklich ich mich schätzen kann, Teil einer kinderreichen Familie zu sein. Großer Dank an meine Schwester Susanne, die meine Gedanken auch ohne Worte kennt. Ohne sie wäre das Leben nicht mal halb so schön. Danke für die vielen Tassen Kaffee, Lästereien, Lachen, Tränen (meistens freudig), Hugh-Grant-Sessions, Berliner Weiße, Kurzurlaube in Bayern und für noch so viel mehr. Danke auch an Kalle, Lilia, Judith und Philippa, die mir zusammen mit Susanne für lange Zeit ein zweites Zuhause in Aachen gegeben haben. Auch bei meinen anderen Geschwistern (Thomas, Christiane, Mechthild, Angela, Uta und Johannes) möchte ich mich für ihre Unterstützung und ihren Zuspruch bedanken, besonders bei den Korrekturlesern unter ihnen, denen es auch beim Vorlegen der x-ten Version der Doktorarbeit noch gelang, einen freudig-erwartungsvollen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Großer Dank auch an Sushi, eine Freundin ohnegleichen, mit der ich alle Phasen der Frustration und Hysterie während der Zeit der Promotion durchlitten habe. Danke für die vielen aufmunternden Worte, zahlreiche durchwachte Filmnächte und ca. 3746 unterhaltsame Telefonate. Besonderer Dank an Birgit, ohne deren Computer-Rettungsaktion die Dissertation kurz vor Schluss noch beinahe gescheitert wäre. Danke auch für die Tipps und die Aufheiterung während der letzten Wochen, die mir das Leben sehr erleichtert haben. Und - last but not least - Robert einen großen Dank, der trotz meiner Panikattacken glücklicherweise seinen letzten Nerv noch behalten hat. You help me know my name. Meinen geliebten Eltern, Angelika und Manfred Gehrke Inhaltsverzeichnis Seite 0. Einleitung 1 1. Zu den theoretischen Grundlagen und zur Methode der Untersuchung 3 1.1 Kritik an den bisherigen Forschungsansätzen zur Detektivliteratur 3 1.1.1 Zur Unterscheidung und Wertung von "hoher" Literatur und Trivialliteratur 3 1.1.1.1 Zur Geschichte der Kritik an der Trivialliteratur 4 1.1.1.2 Der Trivialliteraturstreit 6 1.1.2 Zur Struktur von Trivialliteratur 8 1.2 Zur Entwicklung des eigenen Ansatzes: Literatur als Spiel 9 1.2.1 Definitionen des Spiels und Gemeinsamkeiten von Spiel und Detektivgeschichte 11 1.2.2 Schema und Variation 16 1.2.2.1 Variation als spielerisches Prinzip der Kunst 17 1.2.2.2 Zu den Ursprüngen der Variation 18 1.2.2.3 Das Variationsprinzip 19 1.2.2.4 Das Variationsprinzip in der Detektivgeschichte 20 1.2.3 Ein Modell zur Untersuchung des Variationsgrades 22 2. Die Sherlock-Holmes-Stories: Voraussetzungen und Grundmodell 24 2.1 Die Rätselgeschichte von Edgar Allan Poe 24 2.1.1 Poes "Philosophy of Composition" und die Struktur der Rätselgeschichte 24 2.1.2 Zum Spielverständnis Poes 26 2.1.3 Spielcharakter und Grundschema in den tales of ratiocination 30 2.1.3.1 "The Murders in the Rue Morgue" 30 2.1.3.1.1 Das Grundschema in "The Murders in the Rue Morgue" 32 2.1.3.2 "The Mystery of Marie Rôget" 33 2.1.3.2.1 Schema und Variation in "The Mystery of Marie Rôget" 35 2.1.3.3 "The Purloined Letter" 36 2.1.3.3.1 Schema und Variation in "The Purloined Letter" 37 2.2 Fazit:Poes Spielregeln der Rätselgeschichte 38 2.3 Schema und Variation in den Sherlock-Holmes-Stories: Vorüberlegungen 39 2.3.1 "The Purloined Story"? Konstruktion und Spielcharakter bei Conan Doyle 40 2.3.2 Untersuchungen zur Struktur der Sherlock-Holmes-Stories 41 2.3.2.1 Schklovskijs Strukturanalyse von The Adventures of Sherlock Holmes 42 2.3.2.2 Knights Strukturanalyse von The Adventures of Sherlock Holmes 43 2.3.3 Vorbemerkungen zur Analyse der Sherlock-Holmes-Stories 45 2.3.4 Grundstruktur und Variationsprinzip bei Arthur Conan Doyle und Erstellung der Tabellen 48 3. Auswertung der Analysen 53 3.1 Auswertung der Figurentabelle 53 3.1.1 Vorbemerkungen: Zur Figurenanalyse anderer Kritiker 53 3.1.2 Auswertung der männlichen Figuren 59 3.1.2.1 Männliche Figuren mit geringer Varianz 59 3.1.2.2 Männliche Figuren mit stärkerer Varianz 83 3.1.2.3 Atypische männliche Figuren 96 3.1.3 Auswertung der weiblichen Figuren 105 3.1.3.1 Weibliche Figuren mit geringer Varianz 105 3.1.3.2 Weibliche Figuren mit stärkerer Varianz 115 3.1.3.3 Atypische weibliche Figuren 127 3.1.3.4 Blaustrümpfe, Sufragetten, die "New Woman" und Conan Doyle 133 3.1.4 Ergebnisse der Auswertung der Figuren 138 3.2 Auswertung der Tabelle setting und Handlungselemente 147 3.2.1 Auswertung der einzelnen Kategorien der Tabelle 147 3.2.1.1 setting 147 3.2.1.2 Milieu 157 3.2.1.3 Art des Auftrags/Delikt 163 3.2.1.4 Tatwaffe 171 3.2.1.5 Clues 176 3.2.1.6 Red herrings 184 3.2.1.7 Irreführung des Lesers durch misdirection 188 3.2.1.8 Spannungselemente und Gothic elements 191 3.2.1.9 Unterhaltungselemente 199 3.2.1.10 Fallen 203 3.2.1.11 Ist Holmes erfolgreich? 206 3.2.1.12 Strafe 208 3.2.2 Ergebnisse der Auswertung des setting und der Handlungselemente 214 3.3 Auswertung des Handlungsverlaufs 223 3.3.1 Zu Form und Funktion des Handlungsverlaufs 223 3.3.2 Der Handlungsverlauf der Sherlock-Holmes-Stories 225 3.3.3 Typen des Handlungsverlaufs in den Sherlock-Holmes-Stories 238 3.3.3.1 Typ 1: Typischer Handlungsverlauf mit schwacher bis weniger schwacher Variation 238 3.3.3.2 Typ 2: Handlungsverlauf mit mittelstarker bis stärkerer Variation 244 3.3.3.3 Typ 3: Handlungsverlauf mit starker Variation sowie Extremvarianten 250 3.3.4 Ergebnisse der Auswertung des Handlungsverlaufs 261 3.4 Abschließende Bemerkungen zur Auswertung 264 3.5 Gegenprobe: Ein Vergleich mit Stories von Agatha Christie 270 4. Schlussbemerkungen und weiterführende Überlegungen 279 4.1 Zum Trivialisierungsprozess in den Sherlock-Holmes-Stories 279 4.2 Zur Gattungsgenese der Detektivgeschichte 283 4.3 Schema und Variation in den Sherlock-Holmes-Stories: Abschließender Befund 290 Literaturverzeichnis 295 1 0. Einleitung Im Philologischen Sachkatalog der Bibliothek der RWTH Aachen findet man hinter der Karte „Doyle, Arthur Conan“ auch eine Karte für „Sherlock Holmes“ – die einzige im gesamten Katalog für eine literarische Figur. Wie sehr Sherlock Holmes als reale „Person“ angesehen wird, ist auch daran erkennbar, dass eine Biographie über ihn 16 Jahre früher als über Conan Doyle erschien.1* Auf Grund des großen Interesses an der literarischen Figur hat es zahlreiche Untersuchungen zu dieser, jedoch kaum Arbeiten zu den Geschichten als solchen gegeben. Dabei ist auch die Struktur der Geschichten, die Spannung aufbaut und die Spielfreude des Lesers anspricht, für den großen Erfolg der Erzählungen verantwortlich. Die Idee zur vorliegenden Untersuchung hatte ihren Ursprung in einem Vortrag, den Ulrich Suerbaum im Frühjahr 1999 am Institut für Anglistik der RWTH Aachen hielt. Im Vortrag mit dem Titel „Sherlock Holmes in Aktion - Die Konstruktion der Kriminalgeschichte“ wurde deutlich, dass die Conan Doyle’schen Detektivgeschichten zum einen nach einem sehr rigiden Schema funktionieren, zum anderen aber auch einem „Mordpuzzle“ gleichkommen. Sowohl die Struktur als auch der Spielcharakter von Detektivgeschichten scheinen somit die Besonderheiten zu sein, wegen derer die Sherlock-Holmes-Geschichten für den Leser bis zum heutigen Tag noch immer attraktiv sind. Interessanterweise liegt dennoch bislang keine Untersuchung zum Gesamtwerk Conan Doyles vor. Dies hängt vermutlich primär damit zusammen, dass Auseinandersetzungen mit der Trivialliteratur lange als nicht wissenschaftlich galten; erst seit den sechziger Jahren wurde versucht, den eigenen Stellenwert der Trivialliteratur zu untersuchen. Allerdings liegt bisher keine angemessene Methode dafür vor. Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Sherlock-Holmes-Stories Conan Doyles unter dem Aspekt ihres Grundschemas und ihrer verschiedenen Variationen unter Berücksichtigung des damit verbundenen Spielcharakters von Kriminalliteratur im Allgemeinen. Die vier Romane Conan Doyles sollen in dieser Arbeit nicht behandelt und untersucht werden, da sie für die in dieser Arbeit entwickelte Methode zur Untersuchung der Erzählungen zu komplex sind und sich strukturell zu sehr von diesen unterscheiden. Im ersten Kapitel wird dargestellt, warum sich eine so schematisierte Literaturform wie die Detektivgeschichte nicht mit den Maßstäben der sogenannten ‘hohen’ Literatur messen lässt. Dazu muss näher auf die Geschichte der Trivialliteratur als solcher und auf ihre Grundzüge eingegangen werden. Daneben wird der 1 Vgl. hierzu Becker, Jens Peter: Essays zur englischen und amerikanischen Detektivliteratur. München 1975, S.13. 2 Spielcharakter der Kriminalliteratur beleuchtet und aufgezeigt, wie sehr sich ein Spiel und eine Detektivgeschichte in ihrer Grundkonzeption ähneln. Dies steht im engen Zusammenhang mit den vielen Variationen von Spielzügen und verschiedenen Formen der Kriminalerzählung. Deshalb wird das Prinzip der Variation untersucht und dargestellt, was es als solches bedeutet und nach welchen Regeln es funktioniert. Es lässt sich demonstrieren, wie der Leser in der Detektivgeschichte in eine Art Wettkampf mit dem Detektiv um die richtige Lösung eintritt. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Grundschema der Kriminalerzählung und seiner Entstehung; dazu werden die theoretischen Vorgaben von Edgar Allan Poe zur Konzeption der Kurzgeschichte sowie die Konstruktion seiner tales of ratiocination, die eine Vorläuferform der Detektivgeschichte darstellen, beleuchtet. Conan Doyle entlehnt Elemente aus dem von Poe entwickelten Schema, nimmt aber viele eigene Modifikationen vor und entwickelt daraus das allen Krimifans bekannte, typische Muster für die Sherlock-Holmes-Geschichten. Um das Grundschema und die Variationsmöglichkeiten im Werk Conan Doyles untersuchen zu können, mussten Strategien zur Analyse entworfen werden. Dazu wurden, da sich diese Methode für die Untersuchung einer Variationsgattung wie der Kriminalliteratur am besten eignet, verschiedene Tabellen erstellt. Diese erfassen die grundlegenden inhaltlichen und formalen Elemente der Detektivgeschichte und zeigen auf, wie diese von Geschichte zu Geschichte variiert werden. Die Gesamtanalyse der 56 Sherlock-Holmes-Geschichten wird in Kapitel 3 ausgewertet und beurteilt. Abschließend wird demonstriert, wie Elemente variiert und kombiniert werden, welche Elementtypen häufig oder selten vorkommen, aber auch, wie die typische Grundstruktur der Erzählungen und ihre Extremvarianten aussehen. Auf diese Weise kann der spielerische Charakter von Kriminalliteratur, der sich in jeder Geschichte in einer anderen Variante darstellt, am angemessensten untersucht und präsentiert werden: „Ohne Zweifel gibt [die Detektivgeschichte] uns in der Hauptsache jene Art von Befriedigung, die man empfindet, wenn man eine schwierige Aufgabe gelöst hat, und die dem ursprünglichen Spieltrieb, der in uns allen mächtig ist, entspricht.“2 2 Matthews, Brander: „Edgar Allan Poe und die Detektivgeschichte“. In: Buchloh, Paul G./Becker, Jens P. (Hgg.): Der Detektiverzählung auf der Spur: Essays zur Form und Wertung der englischen Detektivliteratur. Darmstadt 1977, S.41-58. Hier: S. 47. 3 1. Zu den theoretischen Grundlagen und zur Methode der Untersuchung Die Literaturwissenschaft hat eine Auseinandersetzung mit der Trivialliteratur lange gescheut. Es bestand Unsicherheit darüber, wie diese Literaturform überhaupt zu bewerten sei. Ganz offensichtlich funktioniert Trivialliteratur nach anderen Kriterien als die „hohe“ Literatur. Es war so nicht möglich, beide Literaturformen nach dem gleichen Muster zu analysieren. Um ein Werk wie die Sherlock-Holmes-Erzählungen untersuchen zu können, mussten neue Wege zur Erforschung der Trivialliteratur gefunden werden; dazu musste ihre Struktur genauer betrachtet werden. In diesem Kapitel wird zunächst erläutert, wie sich im 18. Jahrhundert die Dichotomie der sogenannten „hohen“ Literatur und der Trivialliteratur manifestiert und wie es zu einem Umbruch in der Bewertung der beiden in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kommt. Dass Trivialliteratur nach anderen Kriterien funktioniert als die „hohe“ Literatur liegt in ihrer konstanten Struktur begründet, die durch strenge Konventionen geformt wird. Diese Konventionen weisen große Ähnlichkeiten mit den Regeln eines Spiels auf, so dass sich ein spezifischer Spielcharakter in der gesamten Trivialliteratur, vor allem jedoch in der Kriminalliteratur demonstrieren lässt. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem das Prinzip der Variation als Spielform der Kunst im Allgemeinen und der Kriminalliteratur im Besonderen. Abschließend wird eine Methode aufgezeigt, mit der der Variationsgrad von Kriminalliteratur adäquat ermittelt werden kann. 1.1 Kritik an den bisherigen Forschungsansätzen zur Detektivliteratur 1.1.1 Zur Unterscheidung und Wertung von „hoher“ Literatur und Trivialliteratur Die Ausschweifung in der Schriftstellerei wird die Pest für die Menschen. Johann Gottfried Hoche, 1794. Was ist Literatur? Diese Frage bewegt seit langer Zeit die Gemüter der Kritiker, und eine befriedigende Antwort ist bis zum heutigen Tag nicht gefunden worden. Was ist gute, was ist schlechte Literatur? Schnell wird Literatur, die sich nicht mit traditionellen Analysemethoden untersuchen lässt, als „Trivialliteratur“ bezeichnet. Dieser Begriff entstammt dem lateinischen Wort „trivium”, welches „Kreuzung dreier Wege“ bedeutet. Im mittelalterlichen Universitätsleben stand das Wort Trivium für die Gesamtheit der drei unteren Fächer der „Septem Artes Liberales“, nämlich Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Im Gegensatz dazu 4 sah man die vier oberen Fächer des Quadrivium - Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik - als bedeutender an. Schlägt man die Bedeutung des Wortes im Duden nach, erhält man den Hinweis, dass das Wort „trivial“ synonym zu den Begriffen „jedermann zugänglich“, „allgemein bekannt“, „durchschnittlich“, „platt“, „künstlerisch recht unbedeutend“ steht. Der Begriff „Trivialliteratur“ steht somit für eine einfache, unkomplizierte und - abwertend - auch für eine unbedeutende Form von Literatur. Er entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als man sich auf dem Literaturmarkt einer plötzlich aufkommenden, immer stärker werdenden Flut von Abenteuer-, Liebes-, Schauer- und schließlich auch Kriminalromanen gegenüber sah. Diese ließen sich mit den Werken der sogenannten „hohen“ Literatur nicht vergleichen; es bestanden ganz offensichtlich große Unterschiede zwischen den beiden Literaturformen. Man war sich bewusst, dass diese Art von Literatur nicht den Ansprüchen an die „hohe“ Literatur genügte, und in der Folge wurde sie von Seiten der Literaturwissenschaft als minderwertig angesehen. 1.1.1.1 Zur Geschichte der Kritik an der Trivialliteratur Die Nichtbeachtung der Trivialliteratur in Deutschland bis in die sechziger Jahre hinein hängt vor allem mit einem elitären Kunstverständnis zusammen, das sich aus der idealistischen Ästhetik von Schiller und Kant entwickelt hatte. Trivialliteratur wurde lange ausschließlich als „Schund“ oder Perversion von Kunst angesehen, anstatt als Kunstform mit eigenen Ausrichtungen und eigener Berechtigung. Allgemein wird die Entstehung der Trivialliteratur im 18. Jahrhundert lokalisiert3. Ab dieser Zeit erhielt nach und nach die gesamte Bevölkerung die Möglichkeit zur Bildung: das Erlernen von Lesen und Schreiben wurde im Namen der Aufklärung jedem Individuum angetragen. Wissen war somit nicht mehr - wie zuvor - nur den oberen Schichten vorbehalten. In dieser Zeit kam es zu einer Flut von Veröffentlichungen, da das Bedürfnis nach Literatur zunahm. Gleichzeitig mit ihrer Entstehung begann auch die Kritik an der Trivialliteratur, deren Bedeutung gleichgesetzt wurde mit einer „Vermassung“4 von Literatur; oftmals wurde der Arbeiterklasse die Schuld an diesem Zustand zugeschrieben, da sie als größte Zielgruppe für die neuen Romane und Groschenhefte angesehen wurde. Entgegen dieser Annahme 3 Vgl. Bausinger, Hermann: „Wege zur Erforschung der trivialen Literatur“. In: Burger, Heinz Otto (Hg.): Studien zur Trivialliteratur. (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd.1). Frankfurt a. M. 1968, S. 1-34. Hier: S. 17. 5 bestand das Lesepublikum der Trivialliteratur aber nicht aus den unteren Schichten der Bevölkerung, sondern de facto vor allem aus dem Bürgertum.5 Die Trivialliteratur galt vor allem deshalb als minderwertig, weil sie nicht die Ansprüche der klassischen Ästhetik erfüllte. Sie bildete somit einen Gegenbereich zu dem, was nach der Ansicht von Kant, Moritz6, Schiller und anderen als Kunstwerk galt; die Trivialliteratur passte nicht in das Muster, das nach der ästhetischen Kunsttheorie ein Kunstwerk ausmacht. Das wahre Kunstwerk fordert nach dieser Theorie vom Rezipienten Anstrengung, Distanz und Überlegung, während der Trivialliteratur eine rein affektive und keinerlei intellektuelle Ausrichtung zugesprochen wurde. Karl Philipp Moritz, der als Mitbegründer der klassischen Ästhetik gilt7, unterschied zwischen dem „reinen und wahren Genuss“ des Kunstwerks und dem „unreinen und falschen“ des trivialen Erfragens: Als wahrer Genuss wurde von ihm die Erfahrung angesehen, die zu einer makrokosmischen Betrachtung der Welt und der Kunst führt, die als universell und allgemein gültig gilt. Davon zu unterscheiden ist der triviale Genuss, der nur zur Selbstunterhaltung beiträgt und deshalb eigennützig ist.8 Dabei verliert nach Moritz der Mensch den Bezug zur wirklichen Welt und beschäftigt sich lediglich mit seiner eigenen Sentimentalität. Das wahre Kunstwerk fordert nach seiner Auffassung jedoch, dass das Selbst bei der Erfahrung des Schönen in den Hintergrund tritt. Wegen der Nichterfüllung dieser Prämissen wurde die Trivialliteratur als Antisystem zur ‘wahren’ Kunst betrachtet. Schiller erweitert im Sinne von Kants klassischer Ästhetik diese Theorie. Anders als Moritz sieht er keinen Gegensatz zwischen dem Schönen und dem (Eigen-)Nützlichen, sondern zwischen dem Schönen und dem Angenehmen.9 Schiller geht von einem Antagonismus zwischen einer intellektuellen (hohe Literatur) und einer affektiven Erfahrung (Trivialliteratur) aus und schafft somit einen ethischen Dualismus von Geist und Sinnlichkeit. Er spricht sich in seiner Theorie allgemein gegen alles aus, was den Menschen rührt, und sieht seine Aufgabe darin, den Intellekt des Rezipienten zu fordern, während die von ihm als „Schundskribenten“ bezeichneten Verfasser trivialer Literatur nur auf eine Reizung des Gefühls und der Sinnlichkeit abzielten. „Sie bewirken bloß Ausleerungen des Thränensacks 4 Vgl. Schulze-Sasse, Jochen: Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs. (Diss.), München 1971, S. 48. 5 Vgl. hierzu Bausinger, „Wege“, S. 20. 6 Karl Philipp Moritz, 1756-1793. 7 Vgl. hierzu Moritz’ Werk „Über die bildende Nachahmung des Schönen“, 1788, das aus Unterhaltungen mit Goethe über die Autonomie der Kunst erwuchs. 8 Schulte-Sasse, Kritik, S. 63-64. 9 Ibid., S. 74.

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2.3.2 Untersuchungen zur Struktur der Sherlock-Holmes-Stories. 41. 2.3.2.1 .. Er fühlt sich aufgefordert, die Spuren, die im Text gelegt .. Poe liebte es, Rätsel zu lösen, und war allgemein an Spielen interessiert, was sich.
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