Konrad Heldmann Sallust über die römische Weltherrschaft Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 34 £ B. G. Teubn gart Sallust über die römische Weltherrschaft Ein Geschichtsmodell im Catilina und seine Tradition in der hellenistischen Historiographie Von Konrad Heldmann B. G. Teubner Stuttgart 1993 Gedruckt mit Unterstützung des Ministeriums fur Bildung, Wissenschaft, Kultur und Sport des Landes Schleswig-Holstein Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heldmann, Konrad: Sallust über die römische Weltherrschaft: ein Geschichtsmodell im Catilina und seine Tradition in der hellenistischen Historiographie / von Konrad Heldmann. — Stuttgart: Teubner, 1993 (Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 34) ISBN 3-519-07483-4 NE: GT Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts- gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B. G. Teubner Stuttgart 1993 Printed in Germany Druck und Bindung: Röck, Weinsberg VORWORT Die antike Geschichtsschreibung liegt im Schnittpunkt philologi- scher und historischer Forschungsinteressen. Die unterschiedlichen Prämissen, Fragestellungen und Methoden bringen es mit sich, daß gelegentlich in dem einen Forschungszweig als selbstverständlich gilt, was in dem anderen als durchaus zweifelhaft erscheint. Be- sonders davon betroffen ist die antike Geschichtsschreibung, insoweit sie sich mit dem Phänomen der römischen Weltherrschaft befaßt. Dabei geht es nicht so sehr um den Dialog, den seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. die römischen Sieger sowohl untereinander als auch mit den griechischen Besiegten über Ursachen, Folgen und Bewertung der Weltherrschaft geführt haben und der auch in der Literatur deutliche Spuren hinterlassen hat, sondern um den geistigen Standort der spätrepublikanischen Geschichtsreflexion in der literarischen Tradition und unter dem Einfluß der hellenistischen Historiographie. Daß die um die Mitte des 1. Jahrhunderts bereits kanonisch gewordenen Werke, vor al- lem das des Polybios, in Rom literarische Maßstäbe gesetzt und auch materiell eine große Wirkung ausgeübt haben, wird kaum be- zweifelt, obwohl uns das meiste davon nicht oder nur indirekt erhalten ist. Strittig ist jedoch, ob und in welcher Weise die römi- sche Reflexion und Darstellung der eigenen Geschichte und Ge- genwart in der ausgehenden Republik und insbesondere die Ge- schichtsschreibung Sallusts den hellenistischen Vorgängern auch ideell verpflichtet ist, indem sie sich deren Fragen, Erklärungsmu- ster und Bewertungen zu eigen macht. Zur Lösung dieses Pro- blems will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten. Das Thema geht auf Überlegungen zurück, die ich in den letzten Jahren in mehreren deutschen Universitäten vorgetragen habe. Den Kollegen, die mir die Gelegenheit dazu gegeben und mir durch ihre Diskussionsbeiträge bei der Klärung mancher Frage weiterge- holfen haben, sei auch an dieser Stelle gedankt. Den Herausgebern der Beiträge zur Altertumskunde, insbesondere Clemens Zintzen, danke ich für das freundliche Entgegenkommen, mit dem sie mir die Publikation in ihrer Reihe ermöglicht haben. Für das Register und die technische Vorbereitung der Druckvor- lage sorgten dankenswerterweise Sigrid Brummack und Frank Reitmaier. Kiel, im September 1992 Κ. H. INHALTSÜBERSICHT 1. Voraussetzungen 1 2. Sallust, Cat. 1,5-2,6: Imperium transfertur 15 3. Weltreichgründung und Weltreichbewahrung 27 a) Der Ruhm der Weltherrschaft 27 b) Die Sicherung der Weltherrschaft: das Kyros-Modell 54 4. Die römische Weltherrschaft als Modellfall der hellenistischen Historiographie 70 5. Die Idealisierung des Modellfalls Rom und ihr Gegenwartsbezug in Sallusts Catilina 93 Index locorum et nominum 118 Literaturverzeichnis 130 1. Voraussetzungen Sallust ist einer der wenigen herausragenden Autoren der römi- schen Literatur, die von der Antike bis zur Neuzeit ein im we- sentlichen konstantes Ansehen genossen haben. Ihren besonde- ren Aspekt gewinnt die Intensität und Extensität seiner Wir- kung jedoch erst dadurch, daß seine Schriften zu den schwie- rigsten Texten der römischen Prosaliteratur gehören. Gerade dies ist allerdings den Lesern Sallusts oft kaum bewußt geworden: teils, weil seine Sprache mit ihren kurzen und gele- gentlich sehr prägnanten Sätzen eher prätentiös als anspruchs- voll schien, teils aber auch aus inhaltlichen, aus 'weltanschauli- chen Gründen'. Dies vor allem deshalb, weil man seit der Zeit der Kirchenväter in Sallusts moralischen Anschauungen, in seinen kompromißlosen Analysen des 'Sittenverfalls' und in der Deutung dieses Phänomens als selbstverschuldete Bedrohung des römischen Staatswesens eigene Überzeugungen klassisch belegt und unwiderleglich bestätigt sehen konnte1. Etwas anderes kommt hinzu. Immer wieder finden sich bei Sal- lust, vor allem in den Proömien und Exkursen, einzelne Sätze, die dank ihrer ingeniösen Pointierung und spröden Eindring- lichkeit so sehr als eigenständige Sentenzen rezipiert werden können, daß ihre argumentative Funktion im jeweiligen Kon- text, die oft nur mühsam erkennbar ist, allzu leicht in den Hintergrund gedrängt wird. Das ist einer der Gründe dafür, daß in der Sallustforschung selbst unverfälschte Textzitate oft durchaus nicht die Intention des Autors, sondern die, meist zeitbedingte, Prädisposition des Interpreten belegen2. Aus all 1. Auch Reynolds sieht darin einen besonderen Grund für die exzeptionelle Wirkung Sallusts auf die Nachwelt: quod simplex ilia et tristis quam in scri- bendo adfectabat morum seueritas posteritati haud ingrata erat (in der Prae- fatio seiner Sallust-Ausgabe, Oxford 1991, p. V). 2. Die Beispiele für die (meist unbewußte) Vereinnahmung antiker Texte für eigene Wertvorstellungen sind in der Sallustforschung bis heute besonders zahlreich. Zwar lösen derartige Beiträge, sofern sie überhaupt wissenschaftlich ernst genommen werden müssen, in der Regel ein gewisses Unbehagen aus. 2 dem ergibt sich, daß wir in der langen und vielfältigen Wir- kungsgeschichte Sallusts mit vielfältigen (gewiß auch frucht- baren) Mißverständnissen rechnen müssen. Die an sich schon dornige Aufgabe, Sallusts Werke im einzelnen und insgesamt in dem vom Autor intendierten Sinne verstehen zu wollen3, wird dadurch zusätzlich erschwert. Die skizzierte Problematik ist von der Sallustforschung zumin- dest im Ansatz längst erkannt worden, und seit einigen Jahr- zehnten sind zahlreiche Versuche zu ihrer Lösung unternom- men worden. Äußeres Indiz dafür ist, daß neben einer unüber- sehbaren Zahl von Abhandlungen der verschiedensten Prove- nienz allein dem Catilina in den letzten Jahrzehnten drei aus- führliche Kommentare gewidmet worden sind, deren Umfang bis zum Zwanzigfachen des kommentierten Werks reicht, und die alle drei ein recht verschiedenes, wenn nicht gar in sich widersprüchliches Bild von Sallusts Gedankenwelt zeichnen4. Wer aus diesem Labyrinth herausfinden und zur Lösung wenig- stens einiger Fragen beitragen möchte, wird die für die Sallust- Erklärung charakteristischen Schwierigkeiten nicht nur prinzi- piell anerkennen, sondern vor allem deren Ursachen diagnosti- zieren müssen. Erst wenn die Problematik exakt umrissen ist, Aber ihre perspektivischen Verzerrungen scheinen doch oft erst nach einigen Jahrzehnten wirklich evident und im einzelnen verifizierbar zu werden. Beson- ders deutlich wird dies etwa an der durchaus verdienstvollen Arbeit über die Prologe Sallusts von Franz Egermann (s.u. Anm. 157). 3. Damit ist zwar nicht der naive Versuch gemeint, über eine "historische' Erschließung des Textsinnes die Differenz zwischen Leser und Autor aufzu- heben. Gleichwohl sei betont, daß sich in der Geschichtsschreibung das Pro- blem des historischen Verstehens ganz anders stellt als etwa im Epos oder einem Gedicht, wiewohl die römische Geschichtsschreibung alles andere als ein 'Sachbuch' im modernen Sinne sein will. Fernzuhalten ist hier jedenfalls der Begriff Oer implizite Leser', wie W. Iser ihn in seinem gleichnamigen Buch (zuerst München 1972) versteht (vgl. dort S. 10 zum expliziten Leser). 4. Vretska, McGushin und Ramsey; daneben zahlreiche kleinere und Schul- kommentare.