Mathias Hildebrandt· Manfred Brocker Hartmut Behr (Hrsg.) Sakularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften Mathias Hildebrandt· Manfred Brocker Hartmut Behr (Hrsg.) Sakularisierung und Resakralisierung in westlichen GeseIIschaften I deengeschichtliche und theoretische Perspektiven Westdeutscher Verlag Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fur diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhaltlich. Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fur Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. 1. Auflage Mai 2001 Aile Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden 2001 Der Westdeutsche Verlag ist ein Untemehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Ver wertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim mung des Verlags unzulassig und strafbar. 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Er enthalt die iiberarbeiteten Vortrlige, die auf der Griindungsta gung der Gruppe zum Thema "Slikularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften: ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven" gehalten worden sind, erglinzt urn Beitrlige von Armin Adam und Matthias Riedl, die zuslitzliche Per spektiven auf den behandelten Gegenstandsbereich werfen und den vorliegenden Band thematisch abrunden. Die neu gegriindete Ad-Hoc-Gruppe versteht sich als politikwissenschaftliches, aber auch interdisziplinlires Dialogforum, das die Frage nach dem Verhliltnis von Politik und Religion einer grundslitzlichen Bestimmung zufUhren und diese Thema tik in der politikwissenschaftlichen Forschung damit stlirker etablieren will. Entspre chend wurde als Einstieg in die gemeinsame Arbeit ein ideen-und begriffsgeschicht licher Ansatz gewlihlt, urn iiber eine Diskussion des ambivalenten Prozesses der Sli kularisierung und der gegenlliufigen Tendenzen der Resakralisierung das Verhliltnis von Politik und Religion in modern en westlichen Gesellschaften nliher in den Blick zu nehmen. Der vorliegende Band versammelt die Resultate dieser ersten Annlihe rung an die genannte Thematik. Grundslitzlich zeigt sich diesen Ergebnissen zufolge, dass die Geschichte der westlichen Moderne nicht als ein einfacher, linear-fort schreitender Prozess der Slikularisierung beschrieben werden kann, sondern vielf<i1ti ge, teilweise auch widerspriichliche Tendenzen der Slikularisierung und Resakrali sierung aufweist. Die Griindungstagung der Ad-Hoc-Gruppe "Politik und Religion" fand im Juni 2000 am Institut fUr Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universitlit Erlangen-Niirnberg statt. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz, den Referentinnen und Referenten und den Autorinnen und Autoren dieses Bandes danken wir herzlich fUr ihre Mitwirkung. Zudem machten wir der Deutschen Ver einigung fUr Politische Wissenschaft unseren Dank fUr die Bereitstellung des institu tionellen Rahmens fUr die Arbeit der Gruppe aussprechen. Ferner danken wir dem Institut fUr Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universitlit Erlangen Niirnberg, das die Rliumlichkeiten und seine Infrastruktur zur DurchfUhrung der Griindungstagung bereitstellte, sowie der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Kaln, die die Tagung finanziell fOrderte und damit eine wesentliche Voraussetzung fUr ihre DurchfUhrung schuf. Unser Dank gilt weiterhin den Hilfskrliften an den Instituten fUr Politikwissenschaft in Erlangen und Kaln, die die Organisation der Tagung und die Erstellung des vorliegenden Bandes tatkrliftig unterstiitzten. Frau Dr. Ingeborg Strohmeier hat bei der Uberarbeitung des Druckmanuskriptes wertvolle Hilfe geleis tet, Herr Frank Schindler yom Westdeutschen Verlag hat die VerOffentlichung des Bandes durch persanliches Engagement tatkrliftig unterstiitzt. Beiden danken wir sehr. Die Herausgeber, im April 2001 Inhaltsverzeichnis Mathias Hildebrandt / Manfred Brocker / Hartmut Behr Einleitung: Sakularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven ........................................................ 9 Heiner Bielefeldt Sakularisierung - ein schwieriger Begriff Versuch einer praktischen Orientierung ....................................................................... 29 Daniel Bogner Sakularisierung als Programmierungswechsel: Der friihneuzeitliche Rollentausch von Religion und Politik. .................................... .43 Peter Berghoff Sakularisierung und Resakralisierung politischer Kollektivitat... ............................... 57 Reinhard W. Sonnenschmidt Zum Phanomen der Sakularisierung in der philosophischen Anthropologie des 19. und 20. Jahrhunderts ....................................................................................... 71 Barbara Zehnpfennig Der ,Neue Mensch' - von der religiosen zur sakularen V erheiBung .......................... 81 Bernhard Pie Sakularismus als Religion? Dogmatik und Wissenschaftsglaube der ,Secular Societies' und Auswirkungen ihrer Praxis von 1852 bis 1940 ...................................................... 97 Manfred Walther Friedrich Gogartens Theologie der Sakularisierung oder Die Entlastung der Politik von Absolutheitsanspriichen ............................................ 117 Armin Adam Sakularisierung? Anmerkungen zu einer deutschen Debatte ................................................................. 139 Martin Blobel Zur ,Theologisierung politischer Begriffe' in Agypten und Israel: Jan Assmanns religionspolitologischer Ansatz im Kontext der Sakularisierungsdebatte .............................................................................................. 151 8 Inhaltsverzeichnis Matthias Riedl Sakularisierung als Heilsgeschehen: Gianni Vattimos postmoderne Eschatologie ............................................................... 171 Tine Stein ,,1m Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott...": Christliches Menschenbild und demokratischer V erfassungsstaat. .................... :. ..... 185 Marion G. Maller Eid und Ehre: Politische Eidesleistungen zwischen christlicher Tradition und zivilreligiosem Bekenntnis ................................................................................. 203 Ulrich Willems Slikularisierung des Politischen oder politikwissenschaftlicher Slikularismus? Anmerkungen zum disziplinaren Perzeptionsmuster des Verhaltnisses von Religion und Politik in gegenwlirtigen Gesellschaften ....................................... 215 Herausgeber, Autorinnen und Autoren ....................................................................... 241 Einleitung: Sakularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven. Mathias Hildebrandt / Manfred Brocker / Hartmut Behr 1. Das Siikularisierungsparadigma und seine Probleme Die Beschaftigung mit dem Thema Politik und Religion erfordert eine Auseinanderset zung mit der Sakularisierungsthese, urn die politikwissenschaftliche Relevanz des Gegenstandes auch fUr modeme westliche Gesellschaften zu etablieren. In einer sich weitgehend als aufgeklart und sakular verstehenden Zivilgesellschaft ist die politikwis senschaftliche Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld Politik und Religion nicht unbedingt selbstverstandlich. Das sakulare Selbstverstandnis der Burger spiegelt sich im sozialwissenschaftlichen Diskurs wider. Nach der vielfach paradigmatisch ver standen en Sakularisierungsthese der modemen Sozialwissenschaften ist das Verhaltnis von Politik und Religion in der Gegenwart das Resultat eines durch Reformation, Aufklarung und den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt initiierten Sakulari sierungsprozesses, in dessen Verlauf die durch sacerdotium und imperium, spiritualia und temporalia, Kaiser und Papst gekennzeichnete bipolare Struktur der mittelalterli chen res publica Christiana aufgelost und deren Elemente voneinander getrennt wurden. Durch die damit einhergehenden und nachfolgenden sozialen Ausdifferenzie rungsprozesse erscheinen Politik und Religion als strikt getrennte und selbstandige Lebensbereiche. 1m Verlauf dieses Ausdifferenzierungsprozesses habe -so die Sakula risierungsthese we iter -die Religion einen Funktionsverlust und eine Funktionsver schiebung erlitten, wodurch sie ihrer der Politik ubergeordneten Stellung als ordnungs politisch konstitutives und die Gesellschaft integrierendes Moment beraubt, auf den Status eines der Politik untergeordneten Subsystems reduziert und auf die Funktion der individuellen und personlichen Bewaltigung des verbleibenden Restes an Kontin genz begrenzt wurde. Dartiber hinaus erwartet die Sakularisierungsthese, dass der verbleibende Rest an individueller, religioser Kontingenzbewaltigung zunehmenden und irreversiblen Erosionserscheinungen unterliegt und durch innerweltliche Sinn-, Ordnungs-und Motivationsgehalte individuellen Handelns ersetzt wird. 1m Anschluss an diese These kann dann von den "restlos sakularisierten Legitimationsgrundlagen" politischer Herrschaft gesprochen und das politische Handeln einer aus der selbstver schuldeten Unmundigkeit herausgetretenen autonomen Burgerschaft uberantwortet werden (Rodel et. al. 1990: 20). Nun ware es unsinnig, die Sakularisierungsthese pauschal zu leugnen. Die christli che Religion hat einen Funktionsverlust und eine Funktionsverschiebung erfahren. Daran kann gar kein Zweifel bestehen. Aber die Sakularisierungsthese s1613t an ihre 10 Mathias Hildebrandt / Manfred Brocker / Hartmut Behr Grenzen. Zunachst ist sie nur schwer oder iiberhaupt nicht aufnichtwestliche Zivilisa tionen iibertragbar, weil die begrifflichen Differenzierungen zwischen Religion und Politik entweder gar nicht vorliegen oder aus dem Westen importierte Neologismen darstellen und die beide Spharen integrierenden Traditionen trotz wirtschaftlicher Modemisierung weiterhin lebendig bleiben. In dieser Hinsicht scheint nicht die Sakularisierung die Regel, sondem der Westen die Ausnahme von der globalen Regel zu sein. Zum zweiten wird u. a. von kirchlicher Seite darauf aufmerksam gemacht, dass trotz der Abnahme der Bindungen der Bevolkerung an kirchliche Praktiken und Normen sich in der Bevolkerung (bspw. der Bundesrepublik Deutschland) eine breite Skala von Teilidentifizierungen mit der Kirchefindet und sich der Fortbestand des Christentums, besonders der Volksfrommigkeit, nunmehr in institutionell weniger gebundenen Formen manifestiert (Tadt 1987: 3044). Dariiber hinaus ist zum dritten seit den sechziger lahren ein Wiedererstarken religioser Stromungen in westlichen Gesellschaften zu diagnostizieren. Diese empirischen Befunde relativieren zumindest denjenigen Aspekt der Sakularisierungsthese, der behauptet, dass die individuelle religiose Kontingenzbewaltigung Erosionserscheinungen unterliege. Vor all em auf die US-amerikanische Gesellschaft ist diese These kaum anwendbar, da dort die individu ellen religiosen Orientierungen im Vergleich mit Europa eine ungewohnliche Per sistenz aufweisen. In dieser Hinsicht sind allerdings die USA die Ausnahme von der westlichen Regel. Gegen den anderen Aspekt der Sakularisierungsthese, die Religion habe in der Modeme einen politischen Funktionsverlust erlitten, sprechen all jene Phanomene der Modeme, die mit den Begriffen "Politische Theologie", "Politische Religion", "Zivilreligion" oder "Ziviltheologie" erfasst werden. Aile diese gegenteiligen empirischen Befunde lassen die These, die Sakularisie rung sei ein linearer, irreversibler und universeller Prozess aller Gesellschaften auf dem Weg in die Modeme als problematisch erscheinen und legen die Vermutung nahe, dass der Sakularisierungsprozess in Europa, weniger in den USA, in erster Linie aus einem Dechristianisierungsprozess besteht, der von gegenlaufigen Resakralisierungs tendenzen konterkariert wird, die die unterschiedlichsten polischen Symbole, wie Staat, Nation, Rasse, Klasse oder auch die demokratische Verfassung und die Men schenrechte zu politischen Leitbegriffen und -prinzipien divinisieren. Urn diesen empirischen Phanomenen gerecht zu werden, bietet sich zum einen die Moglichkeit an, die lineare Sakularisierungsthese durch eine "zyklische Theorie der Sakularisierung" zu ersetzen und davon auszugehen, dass "der Prozess, in dem die Gesellschaft sich dem Sinn flir das Sakrale entfremdet, (oo.) bereits den Keirn einer Revitalisierung und Emeuerung der Religion" beinhaltet (Hadden 1986: xv). Zum anderen kann man aber auch die implizite Annahme der Sakularisierungsthese, dass der Mensch letztlich eine a-religiose Existenz flihren konne, in Frage stell en und im Gegenteil davon ausgehen, dass der menschliche Selbstverstandigungsprozess immer auf der Suche nach einer religiosen Fundierung seiner Existenz ist, die sich nicht nur in individueller Kontingenzbewaltigung, sondem auch in kollektiven politischen Ordnungskonzeptionen niederschlagt. In der Kombination beider Thesen waren dann Sakularisierungs-und gegenlaufige Resakralisierungsprozesse als "heilige Entheili gung des Heiligen" zu verstehen (Biezais, H. 1989: 163). Diese theoretische Formulie rung des Problems setzt narurlich einen wei ten Begriff der Religion voraus, der sich Siikularisierung und Resakralisierung 11 nicht nur auf das Transzendenzverstandnis der abrahamitischen Religionen begrenzt, sondem, unter Riickgriff auf den antiken religio-Begriff, die Riickbindung der Men schen an die fur die jewei1ige politische Ordnung konstitutiven Gotter und Leit prinzipien umfasst (vgl. Hildebrandt 2001). In diesem Sinne waren die "principes generateurs de 1a societe" (Lefort 1986: 256) die religiose Dimension der jeweiligen politischen Ku1tur und des jeweiligen politischen Ordnungs-und Selbstverstandnisses. Unter diesen theoretischen Annahmen erweist sich das Thema dieses Bandes Siikulari sierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften: ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven als besonders geeignet, das Prob1emfeld Politik und Religi on in einer sich selbst als sakular verstehenden Welt anzugehen. Denn in ideenhistorischer Perspektive lassen sich einerseits die gleichzeitigen, aber gegenlaufigen Sakularisierungs-und Resakralisierungsprozesse in der Geschichte der modem en politischen Ideen im allgemeinen und auch anhand der Geschichte des Begriffs der Sakularisierung im besonderen nachweisen (vgl. dazu Zabel/Conze/Stratz 1984 und Marramao 1992). In diesem Sinn lieJ3e sich die Sakralisierung von Wirklich keitsaspekten des Saeculums in der neuzeitlichen europaischen Geschichte als Sakula rismus deuten, der eine Entheiligung des Christentums, der Kirchen und letztendlich Gottes betreibt, aber zugleich als eine sakulare, weltliche Religion auftritt. Andererseits provoziert aus theoretischer Perspektive die Behauptung einer mehr oder weniger durchgehenden Persistenz der politico-religiosen Dimension mensch licher Existenz den Verweis auf die Sakularitat des modemen Rechtsstaates, der sich im Gewand des modemen Liberalismus gerade als gegeniiber den verschiedenen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen neutrale politische Ordnung versteht und deshalb jede religiose Fundierung seiner Ordnungsprinzipien weit von sich weisen muss. ledoch wird die Moglichkeit der Ein16sung dieses Neutralitats anspruchs von kommunitaristischer Seite bestritten. ,,[T]he liberal state [ ... ] embraces a view of the human good that favors certain ways of life and tilts against others" (Galston 1991: 3). Deshalb konne der liberale Rechtsstaat sich nur relativ neutral gegeniiber solchen Lebensformen verhalten, die sich prinzipiell im Rahmen des durch das Prinzip der Menschenwiirde konstituierten Liberalismus bewegen. Mit dem Verweis auf das sakralisierte Leitprinzip der menschlichen Wiirde stell en sich zwei weitere theoretische Fragen. 1st es zum ersten aus moralphilosophischen Erwagungen heraus notwendig und aus politischen Uberlegungen heraus opportun, das Prinzip der menschlichen Wiirde und der Menschenrechte, abgesehen von seinen christlichen Urspriingen, an einen wie auch immer gedachten transzendenten Gott zu binden, urn die so genannten ,vorpolitischen' Voraussetzungen, die der sakulare Rechtsstaat selbst nicht garantieren kann (Bockenf6rde 1981: 87f.), zu gewahrleisten? Oder reicht vielmehr eine sich selbst als sakular verstehende metaphysische Begriin dungsvariante der Menschenrechte aus, gleichgiiltig ob sie als kantianisch inspirierte Transzendentalphilosophie oder als hegelianisch inspirierte wechselseitige Anerken nung der Gesellschaftsmitglieder oder als eine Mischform aus beiden (so z. B. HOffe 1992: 188-211) formuliert wird? Zum zweiten stellt sich die Frage, ob diese metaphysischen Begriindungsversuche prinzipiell im Gegensatz zu religiosen Begriindungen stehen oder ob nicht Metaphysik und Religion verschiedene Formen der Suche nachjenem transzendenten und "verbor- 12 Mathias Hildebrandt / Manfred Brocker / Hartmut Behr genen MaB der Erkenntnis" teilen (Solon 1954: D.16), die die politische Ordnung und das menschliche Handeln jenseits der politischen Alltagpraktiken leiten sollen und damit die Rede von der Persistenz des politico-religiosen Komplexes rechtfertigt. Die Beantwortung dieser Fragen ist letztlich abhangig von dem verwendeten Begriff der Religion und wird von den Autoren dieses Bandes nicht einheitlich, sondem kontro vers beantwortet. Dieses weite, komplexe und spannungsreiche Feld modemer Ordnungskonzeptio nen zwischen Religion und Politik und zwischen Sakularisierung und Resakralisierung wird von Heiner Bielefeldt in seinem ErOffnungsbeitrag Siikularisierung -ein schwie riger BegrijJ: Versuch einer Orientierung in seinen Grundziigen erschlossen. Er macht darauf aufmerksam, dass der Begriff der Sakularisierung im 19. und 20. Jahrhundert ein umstrittener Begriffwar und ist, welcher der Markierung der politi scher Grenzen zwischen Fortschritt und Reaktion diente und an den sich sowohl utopische Zukunfts hoffnungen als auch konservative Verlustangste banden. Je nachdem mit welcher politischen Stromung man sich identifizierte bzw. identifiziert, kann der unleugbare Prozess der Sakularisierung aufverschiedene Voraussetzungen und Trager der Sakula risierung zuruckgefUhrt werden, ebenso wie die Wirkungen dieses Prozesses Anlass zu kontraren Bewertungen geben. Vor dem Hintergmnd dieser Kontroversen unter nimmt Bielefeldt ausgehend yom modemen Rechtsstaatsbegriff den Versuch einer normativen Orientierung mit der Absicht, den Begriff der Sakularitat als normativ politischen Leitbegriff der Modeme zu bewahren und ihn gleichzeitig aus weltan schaulichen und kulturalistischen Okkupationen zu lOsen. Zu diesem Zweck unter scheidet er drei Dimensionen des Verweltlichungsphanomens: die Sakularitat des modemen Rechtsstaates, den Sakularismus modemer umfassender Weltanschauungen und die Sakularisierung der modemen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur. Das Menschenrecht der Religionsfreiheit begriindet fUr ihn die weltanschauliche und religiose Neutralitat und Sakularitat des modemen Rechtsstaates, die jedoch nicht als Wertneutralitat missverstanden werden durfe, da diese auf dem rechtsethischen Prinzip der Wurde des Menschen beruhe. Diese Wertbindung des modemen Rechtsstaates konne durchaus als ein Bekenntnis formuliert werden, das aber nicht zu einer umfas senden religiosen oder weltanschaulichen Fundierung des Staates, weder in Form einer politischen Theologie, noch in Form einer umgreifenden Zivilreligion oder Welt anschauung ausgebaut werden durfe. Entsprechend vehement wendet sich Bielefeldt sowohl gegen die modemen Weltanschauungen des Sakularismus als auch gegen Theologien der Sakularitat und ihren Anspruch, jeweils exklusive Fundierungen des modemen Rechtsstaats bereit zu stellen. Ebenso bestreitet er die These, dass die Sakularisierung der Gesellschaft eine notwendige Voraussetzung der Herausbildung des sakularen Rechtsstaates sei. 1m Hinblick auf die USA, die im Gegensatz zu den europaischen Staaten ohne die Sakularisierung ihrer Gesellschaft und ihrer politischen Kultur einen sakularen Rechtsstaat hervorgebracht haben, sieht Bielefeldt vielHiltige Wege zum sakularen Rechtsstaat, die es auch nicht-westlichen Gemeinwesen erlauben sollten, einen modemen sakularen Rechtsstaat zu errichten. Er schlussfo1gert daher, dass der hohe und zugleich hochgradig geHihrdete ethisch-politische Anspruch des sakularen Rechtsstaats weder durch "pauschale Krisen- und Verfallstheorien der