Sagen, wasdieZeit ist ENNO RUDOLPH/ HEINZ WISMANN (HRSG.) Sagen, was die Zeit ist .Analysen zur Zeitlichkeit der Sprache J. B.METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART DieDeutscheBibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Sagen,wasdieZeit ist:Analysenzur Zeitlichkeitder Sprache IEnnoRudolph;Heinz Wismann (Hrsg.),- Stuttgart: Metzler,1992 NE:Rudolph, Enno[Hrsg.] ISBN978-3-476-00773-5 ISBN978-3-476-03371-0(eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03371-0 DiesesWerkeinschlielilichallerseiner Teileisturheberrechtlichgeschiitzt.Jede VerwertungauBerhalb der engen GrenzendesUrheberrechtsgesetzesistohne ZustimmungdesVerlagesunzulassigund strafbar.Das gilt insbesonderefiir VervieWiltigungen,Obersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung inelektronischenSystemen. © 1992Springer-Verlag GmbHDeutschland UrsprunglicherschienenbeiJ.B.MetzlerscheVerlagsbuchhandlung undCarlErnstPoeschelVerlagGmbHinStuttgart1992 lnhalt Vorwort Seite 1 HEINZ WISMANN Zur Sprache selbst ErinnerungandieplatonischeAporiedes Benennens Seite5 ANDRELAKS Zeitgewinn BemerkungenzumUnterscbiedzwischenMetapherundVergleichin.Aristoteles' »Rhetorie« Seite11 FRANCO VOLPI MyEtv, cX1tO<pCdVE0'3cu alsepJlEVEDEtv Die OntologisierungderSprache (Myoc,) beimfriihen HeideggerimRiickgriff auf.Aristoteles Seite21 GUNTER FIGAL Die Intuition einer radikal historischen Philosophie SpracheundZeit inderPhilosophie MartinHeideggers Seite43 ULRICH POTHAST Sagen, wieviel Uhr esist WittgensteiniiberdasSchatzenderTageszeit Seite63 INHALT ENNO RUDOLPH Sprache zwischen Mythos und Erkenntnis Zu CassirersDiagnosederTragik spracblicben Fortscbritts Seite79 HORST TURK »Aber die Zeit verliert uns« ZurStrukturderbistoriscbenZeit am BeispielvonBkcbners»Danton« Seite93 ROLAND REUSS Das Gedicht und seine Zeit Zu PaulCelans ))SCHWIMMHA u TE zwischendenWorten,« Seite 113 HELMUT SCHNELLE Der Ausdruck der Zeitlichkeit in den Sprachen Seite131 CARL FRIEDRICH VON WEIZSACKER Deskriptive zeitliche Logik Seite 155 Vorwort DaB Sprechen etwas mit Zeit zu tun hat, ist eine ebenso evidente wie triviale Feststellung. Gleichwohl haben Sprachphilosophen, Sprachtheore tiker,Logiker,LinguistenundPoetologenvonPlatonbisheutesichdiesem Zusammenhang zumeist nur beiHiufig gewidmet. Sprache hat grammati sche Strukturund sie steht gerade auch dort, wo siesich- wie oftmals in derPoesie- der VerpflichtungaufGrammatikverweigert,inAbhangigkeit von einer Grammatik des Verstehens. Zudem ist Sprache nicht rnoglich ohne die Konstruktion eines semantisch organisierten Zusammenhanges von Begriffen.Begriffeaberbildenwirdurch Abstraktion, genauer: in der Regel durch»negativeAbstraktion«,wie ErnstCassireresnennt, urndamit zugleich deren Fragwiirdigkeit zu markieren. Unter »negativer Abstrak tion« verstehtCassirerdie vertrautelogische Methode, durch das Absehen vonindividualisierendenPradikatenzu Universalienzu gelangen,ohnedie die Wissenschaft nicht arbeiten kann, die aber auch die Alltagssprache regieren. Cassirerkritisiert, dafdies Verfahrenschliefllich zur Vernichtung jeder Bestimmtheit fiihren mufl, sodaf unserem Denken der »Riickweg« vom »Iogischen Nichts« des Begriffs zu den konkreten Sonderfallen ver sperrtist, DerRiickwegscheinturnso mehrverschlossen,wennmanbedenkt,daB die Abstraktion von der zeitlichen Verfafstheit sowohl des Sprechens als auch der Gegenstande, von denen die Rede ist, unmittelbar mit der Ver nachlassigung aller individuellen Besonderung einhergeht. Von der Zeit lichkeit der Gegenstande der Sprache, des Sprechaktes und der jeweiligen Situationdes Sprechers- den Autor geschriebenerSpracheeingeschlossen - abzusehen, heifst,unwahr zu reden, iiber die Welt und iiber sich selbst. Cassirer - zweifellos einer der maBgeblichen Sprachphilosophen unseres Jahrhunderts- hat daraus die Konsequenz gezogen, der Spracheim alIge meinen und der Wissenschaftssprache im besonderen die Kompetenz zu bestreiten,derzeitlichenVeranderlichkeitihrerjeweiligenGegenstandswelt gerecht werden zu konnen, Universalien verfehlen die Individualitat der Phanorneneebenso wie ihre Zeitlichkeit. Auf ED.E. Schleiermacher geht die fiir seine und die nachfolgende Hermeneutik grundlegende Einsicht zuriick, daf mit jeder Verbindung VORWORT von Subjekt und Pradikat etwas sprachlich Neues, und damit moglicher neuer Sinn entsteht. Dies gilt selbst fiir Wiederholungen von Aussagen, genauer also dafiir, etwas »aufs neue« zu sagen. Diese These formuliert nicht nur die fiir Schleiermachers Lehre von der »Kunst des Verstehens« leitende Voraussetzung,·dali Sprache bedingt durch die unvermittelbare Individualitat der Menschen einem Veranderungsprozefs unterworfen ist, der sich vollstandiger Kontrolle entzieht. Dies bedeutet auch, daB der Interpret, ja jeder Horer bzw. Leser von gesprochenem oder geschriebe nem Wort dem Sinn des Geauflertenstets nachlauft,Einuniiberwindlicher Rest an Fremdheit und Unverstehbarkeit bleibt, der wesentlich schon da durch bedingt ist, daf Sprecher und Sprachgegenstand niemals auBerhalb der Zeit stehen. So gesehen, kommen Interpret und Zuhorer immer zu spat. Ernst Kapp hat darauf verwiesen, daf die Entstehung der Logik als philosophischer Disziplin in der griechischen Antike aus der Not heraus geschah, sicheres Wissen iiber veranderliche Phanornene, und das heilit iiber die ganze Welt, nicht erlangen zu konnen. Diese Not gebar die Tu gend logischen Redens, die Tugend des Sprachspiels als Modell fiir das Streirgesprach,dasder Spielregelunterliegt,hypothetischvonder Zeitlich keit und damit von der Naturder Phanomenezu abstrahieren.Jedes logi sche SchluBverfahrenfunktioniert nach dieser Pramisseund nurnach ihr. Aber nicht nur mit der Kulturdes logischen Sprechens habendie Grie chen der Universalitat der Zeitlichkeit- lange vor Heidegger- Rechnung getragen. So kulminiert die Zeitauffassung des Aristoteles, von der nach Heidegger die gesamte abendlandische Tradition der Zeitphilosophie ab hangt, in der Einsicht, daBdie Zeit »Ursache des Untergangs« aller Dinge sei. Die Diskrepanz zwischen der Moglichkeit, die Dauer zeitlicher Pro zesse zu messen einerseits und der Unfahigkeit unserer Begriffe, der Zeit lichkeit von Prozessen gerecht zu werden andererseits, stellt das Aus gangsproblem der aristotelischen Zeittheorie dar. Nach Aristoteles behel fen wir uns kiinstlich, indem wir aufProzessedeutend, »[etzt«sagen, wohl wissend, daB »jetzt« nicht zeitlich, sondern imaginierter Zeitstillstand ist, Zeitstillstand aber kommt nach Auffassung der Griechen in der Welt nir gends vor. Erst Physik und Philosophie der Neuzeit haben Zeit und Be griffderartformalisiert- sosagt Kantetwa: »DieZeitsteht,und siebewegt sichnicht«-, daf von dort aus jener vonCassirer angemahnte»Riickweg« zum konkretenzeitlichen Phanomennichtmehrmoglichist.Durch»jetzt« Sagen die Zeit zum Stillstandzu bringen, bedeutetdie blofieFiktiviratvon Sprache zuzugeben,urnsiegleichwohlzum hermeneutischenRegulatorder Welt zu machen: indem wir sprechen, betriigen wir uns und die Welt urn die Zeitlichkeitder Phanornene. 2 VORWORT Kann Sprache diesem Dilemma auch anders als in der Form eines Sprachspiels begegnen, das nur funktioniert unter der zuvor getroffenen UbereinkunfteinesVerzichts aufdasbessere Wissen von der Zeitlichkeitall dessen, wovonwir sagen, dafes»ist«?DieserFragehabensichdieAutoren des vorliegendenBandes von volligverschiedenen Standpunktenund Dis ziplinenaus gestellt. 1mVerlaufezweierTagungenzum Themades Buches wurden philosophische, philologische, poetologische, linguistische und wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte zusammengetragen - bisweilen auch kontrovers ausgetragen -, von denen aus das genannte Dilemma entwedernoch praziserbeschriebenwordenistoderaber auch Angebotezu seiner Uberwindung unterbreitet wurden. Dreider bedeutendsten Sprach philosophenunseres Jahrhunderts- LudwigWittgenstein,MartinHeideg gerund ErnstCassirer - stehendabei aufder Seitederer, die das Scheitern der Spracheander Zeitentwedermit konstruktiverSprachkritikauswerten (Wittgenstein) oder - auf jeweils hochst unterschiedliche Weise - neue Auswegevorschlagen:der eine iiberden WegeinerNeubesinnungaufden Sinn von >Zeit<(Heidegger),der andereiiberden WegeinerNeubesinnung aufdieLeistungsfahigkeitvon Sprach- und Begriffsformen (Cassirer). Zwei poetologischeBeirrage, von denender eineder Interpretationeines DramasvonGeorg Biichner, der andereder Interpretationeines Gedichtes vonPaul Celangewidmetist, versuchendie poetischeSprache daraufhinzu befragen, wie Zeit in ihr thernatisch wird und wie sie zugleich selbst die Zeitlichkeit von Sprachgestalt und Sprachgehalt zum Ausdruck bringt. Erganzt werden diese Uberlegungen von einer ebenso philologisch wie hermeneutisch orientierten Untersuchung zur Metaphorologie des Aristo teles: die Metapher als diejenige ausgezeichnete Form sprachlichen Aus drucks, die im Gegensatz zu allen anderen Arten des Vergleichs durch »Zeitgewinn«, jadurch Zeitiiberlistung charakterisiert ist. Und ein streng auf die Aktualitat der gegenwartigen Linguistik bezogener Beitrag ver sucht sodann die Rede vom Singular der Sprache zu relativieren und das Verhaltnis von Modalitat und Zeitmodus als strukturierendes Moment in den Sprachennachzuweisen. DerBand wird eroffnetmit einerInterpretationdes Textes,der die erste uns bekannte Sprachtheorie innerhalb der abendlandischen Philosophie enthalt: Platons Kratylos. Die Leitfrage dieses Textes ist derjenigen des vorliegendenBuches unmittelbaranalog: 1stSprache lediglich Konvention, erwachsenaus der Einsichtin die Unzulanglichkeit der Worte und Benen nungen fur die Sachverhalte, oder erfaBt, ja faBtSprache die Realitat der Dinge, wie sind? DenAbschlufsder DiskussionschliefllichbildetCarlFriedrichvon Weiz sackers Versuch, zur KonstruktioneinerLogikzu gelangen, die die Struk- 3 VORWORT turzeitlicherAussagenentwirft.Eine »deskriptivezeitliche Logik« istnach v.Weizsiickernotwendig, will die Physikangesichts des quantenphysikali schen Problems, iiber irreversible Prozesse nur Wahrscheinlichkeitsaussa gen (und das heifstZukunftsaussagen) machen zu konnen, nicht Theorie verzichtleisten. Die in diesem Buch dokumentierten Diskussionen verstehen sich in besonderem Sinne als interdisziplinar, da es den Teilnehmern darum geht, Sprache nicht allein als das hermeneutische Reservat der Geisteswissen schaften zu betrachten. Die Diskussionen fanden in der Forschungssratte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg statt. Sie sind Teil eineriiber viele Jahre veranstalteten Tagungsreihe, die unter jeweilsande ren Aspekten iiber das Spannungsverhaltnis zwischen Zeit und Logik in Wissenschaft und Philosophie handelte. Dieser Band schliefst an friihere Publikationen an, die aus diesem Diskussionszusammenhang entstanden sind,wie z.B.Zeit,Betuegang, Hand/ung,StudienzurZeitabhand/ungdesAristo teles(1988); ZeitundLogikbeiLeibniz.Studienzu ProblemenderNaturpbiloso pbie,Mathematik,LogikundMetaphysik (1989). D.H. 4