SWP-Studie Michael Paul / Göran Swistek Russland in der Arktis Entwicklungspläne, Militärpotential und Konfliktprävention Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 19 Oktober 2021, Berlin Kurzfassung ∎ Russland will ein hohes Maß selbstbestimmter Stabilität in der Arktis erhalten. Das hält Moskau für nötig, um die vielen Probleme und Ent- wicklungshindernisse zu überwinden, die mit den eigenen ambitionier- ten Plänen, aber auch mit den Folgen des Klimawandels verbunden sind. ∎ Der Rückgang des Meereises hat einen subjektiv empfundenen Verlust an Sicherheit zur Folge, der die traditionelle Belagerungsmentalität verstärkt. Zudem ist die russische Außenpolitik auch in der Arktis von einem reflex- artigen Primat der Sicherheitspolitik gekennzeichnet. ∎ Moskau versucht, die nationale Sicherheit inklusive wirtschaftlicher Inter- essen mit einem breiten Spektrum rüstungs- und militärpolitischer Akti- vitäten zu gewährleisten, das neue nukleare Einsatzmittel einschließt. Dieses Bestreben werten die anderen Arktisanrainer und die Nato zuneh- mend als bedrohlich. Russland nimmt eine defensive Haltung in der Arktis ein, ist im Konfliktfall aber auf eine rasche Eskalation vorbereitet. ∎ Arktispolitik ist ein Mittel der russischen Strategie für Europa, um wirt- schaftlich und politisch Einfluss zu nehmen. Dabei wird das Zusammen- wirken von Nord- und Ostseeflotte immer wichtiger, wenn es darum geht, geostrategische Interessen zu wahren und das Hoheitsgebiet zu verteidigen. ∎ Die arktischen Staaten müssen eine schwierige Balance halten: Sie wollen die Seewege und Ressourcen sichern, zugleich aber eine Eskalations- spirale in der Region verhindern. Um die Folgen des Sicherheitsdilemmas zu begrenzen, sollte der Dialog über militärische Sicherheit reaktiviert werden. Zudem gibt es weiterhin Kooperationsmöglichkeiten. Beispiele sind Klima- und Umweltprojekte, nachhaltige und umweltverträgliche Energienutzung, Infrastruktur, maritime Sicherheit und Wissenschafts- zusammenarbeit. SWP-Studie Michael Paul / Göran Swistek Russland in der Arktis Entwicklungspläne, Militärpotential und Konfliktprävention Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 19 Oktober 2021, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Verfahren der Begut- achtung durch Fachkolle- ginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review), sie werden zudem einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https:// www.swp-berlin.org/ueber- uns/qualitaetssicherung/. SWP-Studien geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2021 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org [email protected] ISSN (Print) 1611-6372 ISSN (Online) 2747-5115 doi: 10.18449/2021S19v02 Die erste Version mit der doi 10.18449/2021S19 ist nicht mehr verfügbar. Am 7.1.2022 korrigierte Version. Inhalt 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen 7 Russland in der Arktis 9 Der geografische und operative Kontext von Arktis und Nordatlantik 15 Die funktionale Bedeutung der Arktis für Russland 17 Entwicklungspläne, fossile Ressourcen und Klimawandel 19 Vorrang für die Nutzung fossiler Energieträger 21 Klimawandel und Umweltschutz vs. Energiewirtschaft 22 Nördliche Seeroute und Eisbrecher 24 Die Arktis als Angriffsfront: Bedrohungsperzeptionen und Strategie 29 Priorität für die Nordflotte 31 Bastion, Militärbasen und maritime nukleare Abschreckung 33 Die Nato im Hohen Norden: Abschreckung, Verteidigung und Dialog 36 Das arktische Sicherheitsdilemma 36 Konfliktprävention durch Dialog und Kooperation 38 Ein Dialog über militärische Sicherheit in der Arktis 41 Bilanz und Perspektiven 43 Abkürzungsverzeichnis Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Fregattenkapitän Göran Swistek ist Gast- wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Problemstellung und Schlussfolgerungen Russland in der Arktis. Entwicklungspläne, Militärpotential und Konfliktprävention Das Verhältnis des Westens und der Nato zu Russland ist so schlecht wie lange nicht. Das ist besonders im Hohen Norden und in der Arktis spürbar – dort, wo der Nato-Staat Norwegen eine wenn auch kurze ge- meinsame Grenze mit Russland hat und wo sich die nicht zur Allianz gehörenden Staaten Finnland und Schweden überlegen, welchen Kurs sie gegenüber Mos- kau künftig steuern wollen. In Helsinki halten die Verantwortlichen sich die Nato-Mitgliedschaft offen, und in Stockholm hat das Parlament im Dezember 2020 mit großer Mehrheit für eine »Nato-Option« gestimmt. Seit der russischen Invasion Georgiens 2008, der die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 und der fortdauernde Krieg in der Ostukraine folgten, hat sich die Lage in der lange von friedlicher Kooperation geprägten Arktis grundlegend verändert. Exemplarisch konstatiert Schweden in seinem jüngsten Strategie- papier vom November 2020 eine neue militärische Dynamik in der Arktis. Dieser Lagebeurteilung liegt die Empfehlung eines überparteilichen Forums (Försvars- beredningen) zugrunde, in dem daran erinnert wurde, dass Schwedens sicherheitspolitisch relevante Nach- barschaft auch im Hohen Norden liege – nämlich Barentssee und Norwegische See. Eben dort häufen sich russische militärische Aktivitäten. Worin besteht diese militärische Betriebsamkeit in der Region, und inwiefern begründet sie eine neue militärische Dyna- mik im arktisch-nordatlantischen Raum? Schließlich ist dieser Raum auch für Deutschland von kritischer Bedeutung: Zum einen würde eine militärische Kon- frontation die Bundeswehr im Rahmen der Nato fordern. Zum anderen liegt Deutschland an den geo- ökonomisch und geostrategisch wichtigen Seeverbin- dungslinien in Nordeuropa. Jede mögliche Störung dieser Verbindungen hätte Konsequenzen für die Sicherheit und Stabilität der gesamten Region. Russlands militärische Aktivitäten stehen zuneh- mend in Gegensatz zum allgemeinen Bestreben der Anrainerstaaten des Nordpolarmeers, die Arktis in einem Zustand friedlicher Zusammenarbeit zu halten. Dabei müsste Moskau in besonderer Weise an Frieden und Stabilität interessiert sein, um ein möglichst attraktives Investitionsklima zur Entwicklung der SWP Berlin Russland in der Arktis Oktober 2021 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen nördlichen Regionen und zur Förderung arktischer renden Faktor in der internationalen Politik zu be- Rohstoffe zu bewahren. Die fossilen Energieträger Öl wahren, verliert unter Putin zusehends an Bedeutung und Gas liefern einen wichtigen Beitrag zum Staats- und existiert nur noch in vereinzelten außenpoliti- haushalt und zur sozioökonomischen Entwicklung schen Deklarationen. Drittens sind die russischen Ent- Russlands. Offenbar will Moskau eine möglichst große wicklungspläne einseitig sozioökonomisch ausgerich- selbstbestimmte Stabilität aufrechterhalten, um das tet, reduzieren die Nördliche Seeroute (NSR) praktisch notwendige Maß an Kooperation nach Belieben er- auf eine Transportroute für fossile Energieträger höhen oder verringern zu können. Je mehr sich näm- und erzeugen kostspielige militärische Verteidigungs- lich die politischen Beziehungen zwischen Russland maßnahmen gegen einen fiktiven Gegner. Insgesamt und China auf der einen, den USA sowie Nato-Staaten lassen fehlendes Kapital, selbstverschuldete Umwelt- auf der anderen Seite verschlechterten, desto stärker katastrophen und Verzögerungen bei der Anpassung hat sich die systemische und militärpolitische Rivali- an die Folgen des Klimawandels die russischen Ent- tät bis auf die Arktisregion ausgedehnt. Wachsende wicklungspläne nicht als realistische Strategie erschei- militärische Präsenz, mehr Manöver sowie unter- nen. Viertens hat der Rückgang des Meereises einen schwellige Konflikte um Ressourcen und Meeresräume subjektiv empfundenen Verlust an Sicherheit zur haben die Region in eine ungewollte Dynamik gera- Folge, der die traditionelle Belagerungsmentalität ver- ten und ein arktisches Sicherheitsdilemma entstehen stärkt. Fünftens haben die wachsenden militärischen lassen. Immer deutlicher tritt zutage, dass Russland, Aktivitäten der Russischen Föderation – und zum China, aber auch Alliierte ein zunehmendes Interesse gewissen Teil die Ambitionen Chinas – große Un- hegen, die Arktis unter Einschluss militärischer Fähig- sicherheit und damit ein Sicherheitsdilemma hervor- keiten zu nutzen. Das genannte Sicherheitsdilemma gerufen. Ein solches entsteht, wenn die Politik eines hat seinen Ursprung maßgeblich in der Entwicklung Staates, durch Steigerung der eigenen militärischen der russischen, stark militarisierten Arktispolitik, auf Macht mehr Sicherheit für sich selbst zu erlangen, die der Westen nun energischer reagiert. andere Staaten verunsichert. Daraus lassen sich ver- Die Arktisanrainer verfolgen aufmerksam jede schiedene Maßnahmen zur Konfliktprävention ablei- Entwicklung der jeweils anderen Seite. Nicht alle ten. Zuvorderst ist es geboten, den Dialog der Arktis- arktischen Akteure besitzen die Fähigkeiten und das staaten über militärische Sicherheit wiederzubeleben. Potential, militärisch allein in dieser Region zu Deutschland sollte angesichts dieser Entwicklun- agieren. Daher hat sich die Nato nachdrücklicher als gen zweigleisig vorgehen: Zum einen sollte es sicher- Gegenpol zu Russland, aber auch zu China positio- heits- und militärpolitische Fähigkeiten und ein niert. Neben ersten militärstrategischen Analysen entsprechendes Engagement im arktisch-nordatlanti- und politischen Bekundungen zur Bedeutung der schen Raum konzentrieren. Zum anderen sollte es Arktis für die Nato sind auch Übungs- und Manöver- offene Bereitschaft und Initiative zu Dialog und Ko- tätigkeiten der Allianz wie Russlands in der Arktis operation in weniger sensiblen, nicht sicherheits- und im subarktischen Raum zahlreicher geworden. bezogenen Bereichen signalisieren. Beispiele für eine Vor diesem Hintergrund werden fünf Themen- nicht sicherheitsbezogene Kooperation mit Russland komplexe analysiert: Erstens hat die Arktis mit den sind Klima- und Umweltprojekte, nachhaltige und angrenzenden maritimen Räumen des Nordatlantiks umweltverträgliche Energienutzung, Infrastruktur, und der Ostsee besondere geostrategische und opera- maritime Sicherheit und Wissenschaftszusammen- tive Bedeutung, nicht nur aus Sicht der Nato-Staaten, arbeit. Deutschlands sicherheitspolitischer Beitrag zur sondern auch aus russischer Perspektive. Zweitens Stabilisierung der Lage im arktisch-nordatlantischen dient die Arktis Russland dazu, eine Reihe wichtiger Raum bestände in einer Mischung von Maßnahmen: Ziele zu verfolgen: Geopolitisch fungiert sie als Hierzu gehört, alliierte Verbündete rückzuversichern, Grundlage, um die Rolle als Großmacht abzusichern. etwa durch Übungen, aber auch durch rüstungspoli- Ökonomisch basiert das russische Wirtschaftsmodell tische Kooperation, zum Beispiel mit Norwegen. Dazu überwiegend auf der Nutzung fossiler Ressourcen, zählt weiterhin, Russland von aggressiven Handlun- die in der Arktis reichlich vorhanden sind. Militärisch gen abzuschrecken, indem Deutschland entsprechen- bilden der arktische und der subarktische Raum eine de Fähigkeiten wie etwa Seefernaufklärer bereitstellt. strategische Bastion für Abschreckung und Verteidi- Dies verbessert auch die deutsche Mitwirkung im gung. Ein früheres weiteres Ziel, nämlich die Arktis Nato-Rahmen. als Ort der Zusammenarbeit und damit als stabilisie- SWP Berlin Russland in der Arktis Oktober 2021 6 Russland in der Arktis Russland in der Arktis Während Alaska für die USA eine weit entfernte Ex- russischen Präsidenten Putin verstärkt als Mittel zur klave ist, bilden Sibirien und die Arktis für Russland Legitimation seiner Herrschaft dient.4 Im russischen einen integralen, geostrategisch und wirtschaftlich Diskurs wird die Arktis also nach innen identitäts- wichtigen Bestandteil der Russischen Föderation, der stiftend und nach außen abgrenzend instrumentali- eine zentrale, oftmals mystisch überhöhte Bedeutung siert, während die im internationalen Kontext früher besitzt. Die Arktische Zone der Russischen Föderation üblichen Attribute als Zone des Friedens und der Ko- (AZRF) umfasst etwa 5 Millionen Quadratkilometer operation in den Hintergrund rücken. Die Arktis als und erstreckt sich entlang der Küstengebiete von Kulminationspunkt von Russlands Macht, Prestige Barentssee, Karasee, Laptewsee, Ostsibirischer See und und Identität hat die Entschlossenheit bestärkt, ihre Tschuktschensee bis zur Beringstraße. Die Küstenlinie Entwicklung voranzutreiben. Deshalb gilt die AZRF ist 24.140 Kilometer lang – über die Hälfte der gesam- in Moskau als strategische Priorität und Ressourcen- ten arktischen Küste und zwei Drittel der gesamten basis im 21. Jahrhundert. In dieser Zone konzentrie- russischen Küste von 37.653 Kilometern.1 ren sich laut Putin »praktisch alle Aspekte der natio- Mystisch überhöht sind die russische Arktis und nalen Sicherheit – militärische, politische, wirt- das Nordpolargebiet nicht nur aufgrund der menschen- schaftliche, technologische sowie jene, die Umwelt feindlichen Lebensbedingungen. Vertreter der natio- und Ressourcen betreffen«.5 Es ist kein Zufall, dass nalistischen Denkschule in Russland sehen sich als das sorgsam inszenierte Bild des Präsidenten, der sich Nachfahren der mythologischen Hyperboreer2 und mit unbekleidetem Oberkörper beim Fischen präsen- wollen sich von der individualistisch und materiali- tierte, in Sibirien6 aufgenommen wurde. Spätestens stisch geprägten Konsumkultur des Westens durch seit 2014 wurden »Traditionalismus, Nationalismus, hohe Moralstandards, Spiritualität und Patriotismus starke Führung und Großmacht-Konfrontation mit unterscheiden. In der Orientierung nach Norden dem Westen zum zentralen Legitimationsnarrativ des glauben sie dem alten Identitätsdilemma entfliehen russischen Staates«.7 zu können, dass Russland weder Teil des europäi- schen Westens noch des asiatischen Ostens sei.3 Als Wissenschaftler der staatlichen Lomonossow-Uni- versität in Moskau im Juni 2012 vorschlugen, das 4 Martin Breum, Cold Rush. The Astonishing True Story of Nordpolarmeer in Russischer Ozean umzubenennen, the New Quest for the Polar North, Montreal/Kingston: McGill- Queen’s University Press, 2018, S. 83; Katarzyna Zysk, folgten sie einem nationalen Pathos, das unter dem »Russia Turns North, Again: Interests, Policies and the Search for Coherence«, in: Leif Christian Jensen/Geir Hønneland 1 Russia. Facts and Figures, Washington, D.C.: The Arctic (Hg.), Handbook of the Politics of the Arctic, Cheltenham: Edward Institute, <http://www.thearcticinstitute.org/countries/ Elgar, 2015, S. 437–461 (437). russia/>. 5 President of Russia, »Meeting of the Security Council on 2 Das Land »jenseits des Nördlichen« – wofür das griechi- State Policy in the Arctic«, Moskau, 22.4.2014, <http://en. sche Wort Hyperboréa steht – galt in der antiken Mytho- kremlin.ru/events/president/news/20845>; Ekaterina Klimen- logie als ein paradiesischer Ort mit günstigem Klima und ko, Russia’s Evolving Arctic Strategy. Drivers, Challenges and New einer besonderen Nähe zu den Göttern. Hinter den schroffen Opportunities, Solna: Stockholm International Peace Research Eisbergen wurden warme Gefilde vermutet, und ihre Bewoh- Institute (SIPRI), September 2014 (Policy Paper Nr. 42). ner – die Hyperboreer – galten als unsterblich. 6 »Vladimir Putin Goes Fishing«, in: The Guardian, 14.8.2007. 3 Vgl. Alexander Sergunin/Valery Konyshev, Russia in the Vgl. Masha Gessen, Der Mann ohne Gesicht. Wladimir Putin. Eine Arctic. Hard or Soft Power?, Stuttgart: ibidem, 2016, S. 35; Enthüllung, München/Zürich: Piper, 2012, S. 331. Thomas Schaffner/Angelina Flood, »Poll: Majority of Young 7 Sabine Fischer, Russland vor der Wahl zur Staatsduma. Russians Distrust NATO, Don’t Consider Russia a European Repression und Autokratie, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Country«, in: Russia Matters, 5.5.2020. Politik, Juni 2021 (SWP-Aktuell 46/2021), S. 4. SWP Berlin Russland in der Arktis Oktober 2021 7 Russland in der Arktis Längst befindet sich die Arktis im und Ressourcen zur Stabilisierung des Staatshaus- Fokus globaler geopolitischer haltes und Entwicklung der eigenen Wirtschaftskapa- Rivalitäten zwischen den USA, zitäten zu nutzen. Andererseits sind die Arktis und Russland und China. die wahrgenommenen Verwundbarkeiten im Hohen Norden derart tief im nationalen Bewusstsein ver- Russland gilt als arktischer Hegemon,8 weil es in ankert, dass externer Einfluss und ausländische Prä- diesem Raum über den größten Anteil an Territo- senz nur unter eigenen Bedingungen und zum eige- rium, Ressourcen und Bevölkerung verfügt. Allein nen Vorteil akzeptiert werden. Vor diesem Hinter- diese herausragende Position unter den Arktisstaaten grund ist auch das sich ausweitende Zweckbündnis sichert aber noch keine Herrschaft. Aufgrund der mit China in der Arktis zu verstehen. Noch existieren Veränderungen durch den Klimawandel richtet sich dort gemeinsame oder sich überlagernde Interessen. Moskaus hohes Sicherheitsbedürfnis besonders Schon längst aber befindet sich die Arktis im Fokus auf diesen Raum, zumal Staat und Wirtschaft auf die globaler geopolitischer Rivalitäten, in denen nicht stetigen Einkünfte aus dem Geschäft mit fossilen nur die USA und Russland, sondern auch China teil- Energieträgern angewiesen sind. Fördersteuern und weise konfliktträchtige Ambitionen hegen. Moskau Exportzölle auf Öl und Gas machten seit Mitte der begrüßt chinesische Investitionen in den Ausbau der 2000er Jahre in Russland rund die Hälfte der föderalen arktischen Infrastruktur und zur Erschließung der und etwa ein Viertel der gesamten Steuereinnahmen NSR, solange dies russischen Interessen dient. Ferner aus.9 Die Aufmerksamkeit des Kreml für den arkti- soll ein Technologietransfer in beide Richtungen schen Raum hat klare Ursachen: Dort finden 90 Pro- stimuliert werden. Während Russland unter anderem zent der derzeitigen russischen Gasförderung und China mit Militärtechnologie und entsprechendem 60 Prozent der Ölförderung statt, außerdem befinden Know-how beliefern kann, verfügt China wiederum sich dort 60 Prozent der russischen Gas- und Öl- über Erfahrung und Technologien für den Ausbau reserven.10 Laut Alexei Fadejew, Mitglied der Experten- der maritimen Infrastruktur oder automatisierender gruppe »Geologie und Arktis« der Russischen Gas- Hightech. Aus chinesischer Sicht bildet die zukünf- gesellschaft, werden 2035 rund 60 Prozent der global tige polare Seidenstraße eine potentielle Verkürzung geförderten Kohlenwasserstoffe aus arktischen Roh- seiner Handelswege im Rahmen der Belt and Road stoffvorkommen stammen.11 Bei der Erschließung Initiative (BRI). Kürzer heißt dabei nicht nur schnel- und Nutzung der Arktis muss Russland einen Spagat ler, sondern auch billiger. Gleichzeitig wäre sie ein vollführen. Einerseits benötigt es ausländische Gegenpol zu den maritimen Engstellen Suezkanal Investitionen, um die dort vorhandenen Rohstoffe und Straße von Malakka, die im Falle einer Störung den Handel und die Rohstoffversorgung zum Erliegen bringen können. Ferner ist China daran interessiert, 8 James Kraska, »The New Arctic Geography and U.S. die fossilen Energieträger der Arktis zu nutzen, um Strategy«, in: ders. (Hg.), Arctic Security in an Age of Climate seine Wirtschaft damit am Laufen zu halten – inso- Change, Cambridge: Cambridge University Press, 2011, fern diese rentabel erschlossen und abgebaut werden S. 244–266 (247). können. Aus einer militärpolitischen und strategi- 9 Janis Kluge, Russlands Staatshaushalt unter Druck. Finanzielle schen Betrachtung ist die Arktis schon heute für China und politische Risiken der Stagnation, Berlin: Stiftung Wissen- wichtig, und künftig könnten Flottenverbände vom schaft und Politik, Juli 2018 (SWP-Studie 14/2018), S. 7. Pazifik in den Atlantik schneller verlegt oder Unter- 10 Gemäß der Russischen Akademie der Wissenschaften seeboote im Schutz der Arktis stationiert werden. befinden sich im arktischen Raum außerdem 40 Prozent der Hier bieten sich Gelegenheiten, Distanzen zu und Goldreserven, 47 Prozent der Platinmetalle, 90 Prozent der Diamanten-, Antimon- und Apatitvorkommen, 30 Prozent Reaktionszeiten gegenüber potentiellen Kontrahenten der Palladiumvorkommen, 90 Prozent der Vorkommen von in einem sino-amerikanischen Konflikt zu verkürzen. Nickel, Kobalt, Chrom und Mangan, 60 Prozent der Kupfer- Ein russisch-chinesisches Zweckbündnis in der Arktis vorkommen und 90 Prozent der Vorkommen von Metallen wird sich aber nur weiterentwickeln, wenn es den der Seltenen Erden. Vgl. Hans-Jürgen Wittmann, »Russland Interessen beider Seiten gleichermaßen dient. Keine will die Arktis wirtschaftlich erschließen«, Germany Trade & der beiden Seiten wird bereit sein, sich auf die Invest (GTAI), 2.9.2020, <http://www.gtai.de/gtai-de/trade/ Rolle eines Juniorpartners oder Steigbügelhalters zu branchen/branchenbericht/russland/russland-will-die-arktis- beschränken. wirtschaftlich-erschliessen-539456>. 11 Zitiert nach Wittmann, ebd. SWP Berlin Russland in der Arktis Oktober 2021 8