NR. 298 19.06.2015 russland- analysen http://www.laender-analysen.de/russland/ KONSERVATISMUS UND RECHTE IDEEN IN RUSSLAND ■■ANALYSE Potjomkinscher Konservatismus. Ein ideologisches Instrument des Kreml 2 Witold Rodkiewicz, Jadwiga Rogoża, Warschau ■■ANALYSE Russland und die europäische extreme Rechte – eine seltsame Verbindung? 5 Marlene Laruelle, Washington, D.C. ■■UMFRAGE Konservatismus und nationalistische Ideen in russischen Umfragen 9 ■■DOKUMENTATION BORN: Der russische NSU 16 Sergey Medvedev, Berlin ■■NOTIZEN AUS MOSKAU Liegt Russlands Glück nun in China? 18 Jens Siegert, Moskau ■■CHRONIK 4. – 18. Juni 2015 21 ► Deutsche Gesellschaft Forschungsstelle Osteuropa für Osteuropakunde e.V. an der Universität Bremen Die Russland-Analysen werden unterstützt von RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 2 ANALYSE Potjomkinscher Konservatismus. Ein ideologisches Instrument des Kreml Witold Rodkiewicz, Jadwiga Rogoża, Warschau Zusammenfassung Zu Beginn seiner dritten Amtszeit als Präsident hat Wladimir Putin offen erklärt, dass er sich künftig bei seiner Politik von »konservativen Werten« werde leiten lassen. Tatsächlich aber hat der Kreml seine kon- servative Ideologie rein instrumentell eingesetzt. Der Rückgriff auf den Konservatismus soll allein der Le- gitimierung des Regimes dienen, indem behauptet wird, er spiegle die russische Tradition wider. Während die eigentliche Intention des Kreml darin zu sehen ist, die starke, zentralisierte staatliche Autorität aufrecht zu erhalten, wird die konservative soziale und moralische Rhetorik in Wirklichkeit als eine weitere »Polit- technologie« eingesetzt, also als Instrument zur Manipulierung der öffentlichen Meinung, sowohl in Russ- land als auch jenseits seiner Grenzen. Eine Berufung auf diese Ideologie bedeutet weder, dass die derzeiti- gen Herrscher in Russland tatsächlich konservativen Werten anhängen, noch, dass sie über ein langfristiges Programm für deren Implementierung verfügen. Tatsächlich haben wir es mit einer neuen Art »Potjomkin- sches Dorf« zu tun, das dazu dienen soll, die Aufmerksamkeit von Russlands realen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen abzulenken und die Regierung mit Argumenten für eine repressive Innen- politik und eine antiwestliche Außenpolitik zu versorgen. Wurzeln und Entstehungsgeschichte des raum füllen und somit die Ausbreitung liberaler Ein- »konservativen Projekts« stellungen und Überzeugungen verhindern soll. Dieses Konservative Themen sind im ideologischen Arsenal des Angebot richtete sich vor allem an Putins traditionelle Kreml nichts völlig Neues. Sie tauchten dort erstmals soziale Basis, die einkommensschwächeren Bewohner mit Putins Machtantritt 2000 und erneut nach 2003 auf. in den Regionen, die im öffentlichen Bereich, in der Dabei haben sie die ideologische Botschaft des Kreml Industrie oder in der Landwirtschaft beschäftigt sind. nicht dominiert, sondern existierten parallel zu anderen ideologischen Strömungen. Erst während Putins letzten Merkmale des Kremlschen Präsidentschaftswahlkampfes 2011/12 wurden konser- »Konservatismus« vative Themen ins Zentrum seiner Rhetorik gerückt, Bei der Entscheidung für einen Einsatz des Konserva- um später das offizielle Narrativ zu dominieren und zur tismus zur Stützung des Regimes berief sich Putin auf wichtigsten ideologischen Basis des Regimes zu werden. dessen radikale Variante, die in früherer Zeit an den Der Rückgriff des Kreml auf konservative Ideologie Rändern des politischen und intellektuellen Lebens in war eine Reaktion auf das Entstehen einer städtischen Russland zu finden war. Sie war extrem antiwestlich und Mittelschicht, die Forderungen nach systematischen antiliberal ausgerichtet und trat für eine Wiederbele- Reformen des Regimes artikuliert hatte, nämlich nach bung des Reiches ein. Das Ergebnis war, dass der natio- wirtschaftlicher Liberalisierung, politischem Pluralis- nalkonservative Diskurs von der Peripherie ins Zentrum mus, Verringerung der staatlichen Einmischung in das der öffentlichen Debatte in Russland rückte. soziale Leben, und für mehr Spielraum für zivilgesell- Eines der charakteristischen Merkmale des Kreml- schaftliche Initiativen. Das Engagement dieser Bevöl- schen Konservatismus ist seine vorwiegend negative kerungsgruppe resultierte in einer Fülle von Graswur- Agenda. Es werden dort deutlich jene Phänomena und zelinitiativen, die Mechanismen schaffen wollten, durch Werte definiert, die es zu bekämpfen gilt, während sein die die Regierung gegenüber der Gesellschaft rechen- positives Programm vage und unfertig bleibt. Das hervor- schaftspflichtig wäre. Die Unzufriedenheit mit Putins stechendste Merkmal ist die Ablehnung der politischen, angekündigter Rückkehr in den Kreml mündete dann sozialen und kulturellen Modelle des modernen Wes- in die massenhaften Straßenproteste von 2011/2012. tens. Es wird gepredigt, dass Russland und der Westen Ein weiterer Grund, warum Putin die konservative fundamental unterschiedliche Zivilisationen darstellen. Flagge hisste, war sein Glaube, dass das ideologische Diese Unterschiede seien eine Folge davon, dass der Wes- Vakuum nach dem Zusammenbruch des Kommunis- ten die Werte der christlichen Zivilisation aufgegeben mus die Ursache für die Empfänglichkeit eines Teils habe, traditionelle Identitäten ablehne und moralischen der Bevölkerung für liberale Ideen ist. Daher hielt es die Relativismus zulasse. Eine solche Charakterisierung des Regierung für notwendig, der Gesellschaft eine attrak- Westens erlaubt es, Russland als Verteidiger und wich- tive ideologische Alternative anzubieten, die diesen Leer- tigste Stütze der europäischen Zivilisation hinzustellen. RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 3 Auf der positiven Seite tritt der Konservatismus des einer Ausbreitung nichttraditioneller Lebensweisen und Kreml für die Aufrechterhaltung politischer und sozia- moralischem Verfall führen. Eine der wirksamsten Tak- ler Stabilität ein, für die Wiederbelebung der natio- tiken der Regierung ist schließlich die Brandmarkung nalen Identität, die Pflege des Patriotismus, wie auch jeder Kritik an der Annexion der Krim als antirussisch für eine Rückkehr zum traditionellen Familienmodell, und unpatriotisch (Putin hatte Kritiker der Annexion zu staatlichem Paternalismus und sozialem Korpora- als »Nationalverräter« beschrieben), was jegliche pro- tismus. Insbesondere wird die Notwendigkeit betont, westliche Agenda ins Abseits, jenseits der engen Gren- einen starken, hierarchisch strukturierten und zen- zen des offiziellen politischen Wettbewerbs befördert. tralisierten Staat zu unterhalten, dessen Inbegriff ein Ein wichtiges Element des »konservativen Projekts« charismatischer Führer sein soll, dessen Autorität von ist die Einführung disziplinierender Maßnahmen gegen besonderer, gleichsam sakraler Art ist, ungeachtet der die Elite unter dem Motto »Nationalisierung der Eliten«. formalen Beibehaltung demokratischer (elektoraler) Der Kreml hat eine Reihe von Gesetzen auf den Weg Legitimierungsmechanismen. gebracht, durch die Vermögen und geschäftliche Tätig- Die Ideologie stellt die Gesellschaft als in der rus- keit russischer Amtsträger sowie Angestellter von Staats- sischen Tradition verwurzelt und auf natürliche Weise korporationen im Ausland strenger überwacht werden konservativen Werten verbunden dar. Sie fordert die können. Das hat die Abhängigkeit der Eliten vom Kreml Pflege des traditionellen Modells einer großen, kinder- weiter erhöht. Die offizielle Propaganda entwarf dabei reichen Familie, eine Wiedereinsetzung der Orthodoxen das Bild, dass Kontakte und Geschäftsbeziehungen der Kirche (wie auch anderer traditioneller Religionen) als Eliten zum Westen ein Instrument seien, diese auslän- Quelle moralischer Grundsätze. Der »Konservatismus« dischen politischen Zentren zu unterstellen. des Kreml stellt einen Gegensatz her zwischen gewöhnli- Eines der Ziele des neuen »Projekts« ist es zu demons- chen Russen und den Eliten. Der Kreml appelliert somit trieren, dass Putins Politik die Unterstützung der Mehrheit an reale soziale Stimmungen, die aus einer Mischung der allgemeinen Öffentlichkeit genießt, und dass die Men- von elitenfeindlichen, antiamerikanischen und frem- schen die Idee liberaler Reformen ablehnen. Zu diesem denfeindlichen Haltungen gespeist werden. Gleichzeitig Zweck werden die »korrupten« Eliten und die demorali- sieht Putins Vision des Staatsmodells vor, dass die Rolle sierte Mittelschicht dem einfachen Volk gegenübergestellt, der Gesellschaft sich auf passive Beteiligung an Prozes- wobei letzteres angeblich den traditionellen Werten treu sen beschränkt, die von der Regierung initiiert werden. und somit gegen putinfeindliche Losungen immun sei. Das »konservative Projekt« in der »Konservatismus« als Instrument der Innenpolitik Außenpolitik Die Reaktion des Kreml auf die politischen und sozialen Putins »Konservatismus« wird nicht nur vor dem russi- Herausforderungen beschränkt sich nicht auf den ideolo- schen Publikum eingesetzt, sondern auch als Instrument gischen Bereich, sondern umfasst auch eine Reihe legis- der Außenpolitik. Aus der Sicht des Kreml ist Ideologie lativer und administrativer Maßnahmen. Der Kreml hat zu einem wichtigen Element der internationalen Ausei- umfangreiche Gegenreformen unternommen, die zu nandersetzung geworden, die die Ebene der Zivilisationen einer weiteren Zentralisierung der Macht, zur Beschnei- erreicht hat und eine Wahl zwischen unterschiedlichen dung von politischer Aktivität und Bürgerrechten, einer sozialen und politischen Modellen beinhaltet. Der Kreml intensiveren Gängelung der Opposition und mehr Macht sieht also die Notwendigkeit, mit einer ideologischen For- für den Repressionsapparat geführt haben. Unter dem mel aufzuwarten, die Russlands Ansprüche auf eine Rolle Banner des »konservativen Projekts« wurden die Repres- als einflussreiche Großmacht legitimiert. Eine konserva- sionen über den politischen Bereich hinaus ausgedehnt tive Ideologie, attraktiv für jene politischen Kräfte, die den und auch gegen Personen eingesetzt, die keine unmit- westlichen postmodernen Liberalismus ablehnen und den telbaren Opponenten des Regimes sind. Es wurde nun Vereinigten Staaten und der Europäischen Union feind- Verhalten bestraft, das jenseits des traditionellen – vom lich gegenüberstehen, war somit eindeutig das Richtige. Kreml definierten – Kanons der Lebensweisen und Welt- Mit der Berufung auf diese Ideologie haben die russische sichten liegt. Die Opposition im weiteren Sinne ist auch Diplomatie und die russische Propaganda konsequent für Gegenstand einer Propaganda geworden, die Kritik an ein Narrativ geworben, in dem Russland als wichtigster der Regierung mit Opposition zu Russland als Ganzem Verfechter einer stabilen internationalen Ordnung, tra- gleichsetzt, oder gar mit Landesverrat. Der Kreml hat ditioneller staatlicher Souveränität sowie eines zivilisa- versucht die Opposition mit der Behauptung zu diskre- torischen und politischen Pluralismus dargestellt wird. ditieren, die von ihr vertretene liberale demokratische Ein weiterer Teil des »konservativen Projekts« des Ideologie würde naturgemäß und unausweichlich zu Kreml ist das Konzept der so genannten Russischen Welt RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 4 (»Russkij mir«). Dieses Konzept geht von der Existenz Andererseits hat das Aufsetzen einer konservativen einer separaten, multiethnischen und multireligiösen Maske durch den Kreml beim Mainstream der öffent- Zivilisation aus, die von einer Gemeinschaft von Men- lichen Meinung im Westen zu einem erheblichen Ver- schen getragen wird, die sich nicht nur mit der russi- lust an Sympathie für Russland und insbesondere des- schen Sprache und Kultur identifizieren, sondern auch sen gegenwärtige Regierung beigetragen. mit den Traditionen des Russischen Reiches und der Auf lange Sicht wird jedoch diese konservative Ideo- Sowjetunion. Das primäre Ziel der Kultivierung die- logie in den Augen jener Teile der russischen Elite, die ses Konzepts scheint darin zu liegen, die nationalen eine schrittweise Liberalisierung des Systems erwartet Identitäten der Bürger der postsowjetischen Staaten zu hatten, das Problem der fragilen Legitimität der Autori- schwächen und deren Bindungen und Loyalität zum tät des Kreml nicht lösen. Der scharfe antiwestliche Poli- russischen Staat zu fördern. Der Kreml hat sich auch in tikwechsel und die Annexion der Krim sind sicherlich seiner Propaganda zur Legitimierung der Krim-Anne- nicht in deren Interesse. Ihre Sorgen sind durch Versu- xion im März 2014 und des »hybriden Kriegs« gegen die che des Kreml, große Vermögen wieder neu zu verteilen, Ukraine auf diese Idee berufen, indem er auf die religiö- weiter erhöht worden. Somit birgt die Stärkung durch sen, historischen und ethnischen Verbindungen verwies, das »konservative Projekt« langfristig auch das Risiko die diese Gebiete mit Russland haben. einer Destabilisierung des Regimes in sich: Viele Grup- pen in der Elite und den reicheren Bevölkerungsschich- Das »konservative Projekt« – wirksames ten könnten verärgert werden, weil ihre wirtschaftliche Instrument oder Selbsttäuschung? Situation und ihr Sicherheitsgefühl untergraben werden. Der Einsatz der neuen »konservativen« Ideologie und die Darüber hinaus kann der Kreml wohl kaum mit Umsetzung des konservativen politischen Projektes scheint einer massenhaften Unterstützung für sein ideologi- für den Kreml kurzfristig die gewünschten Ergebnisse sches Projekt rechnen. Die tief verwurzelte Passivität erzielt zu haben. Demgegenüber könnten die langfristigen in der Gesellschaft Russlands bedeutet, dass selbst sol- Folgen allerdings ungünstig für die Regierung ausfallen. che Initiativen, die von der Gesellschaft unterstützt wer- Bislang hat die Umsetzung des »konservativen Pro- den, diese nur selten dazu motivieren, zivilgesellschaft- jekts« die Erosion der Legitimität des Regimes unter- lich im Einklang mit den Instruktionen des Kreml aktiv bunden. Es hat einen Großteil der Elite um Präsident zu werden. Viele der konservativen Forderungen, die Putin konsolidiert, indem die aufkeimende Unzufrie- vom Kreml vorgebracht werden, weichen von den tat- denheit über die Richtung, in der sich das Regime ent- sächlichen Bedürfnissen und Zielen größerer Bevölke- wickelt, unterdrückt wurde. Das Projekt hat die Mecha- rungsgruppen ab. nismen des Kreml zur Aufsicht über Eliten erweitert Der Effekt der konservativen Ideologie des Kreml und jede Aktion, die die Opposition gegen den Kreml könnte auch dadurch abgeschwächt werden, dass der unternimmt, delegitimiert. Es hat auch dabei gehol- herrschende Clan selbst diese Ideologie in rein instru- fen, in der Gesellschaft die Unterstützung für Putin zu mentellen Kategorien wahrnimmt. Viele der »konserva- steigern sowie die repressiven Maßnahmen gegen Mit- tiven« Erklärungen sind in Wirklichkeit zu Propagan- glieder der Elite und der Mittelschicht zu rechtfertigen. dazwecken geheuchelt; das Vorgehen des Kreml ändert Die aggressive antiwestliche Außenpolitik ist eben- nichts an der oligarchischen Natur von Putins System; falls ein effektives Mittel zur Mobilisierung von Unter- sie lässt sich auch nicht als wachsender Einfluss »des Vol- stützung in der Gesellschaft. Die Annexion der Krim kes« auf die Regierungsmechanismen des Staates deu- hat sich als besonders wirksam herausgestellt, indem ten. Der extreme Materialismus und die pompöse Kon- sie Präsident Putins Umfragewerte ansteigen ließ und sumneigung der herrschenden Eliten stehen in starkem sowohl die russische Öffentlichkeit, als auch die Eliten Kontrast zu den verkündeten Werten, was der öffentli- um den Kreml konsolidierte. chen Wahrnehmung nicht entgangen ist. Wegen ihrer Die Berufung auf eine konservative Ideologie hat instrumentellen Natur dürfte die Ideologie des Kreml zudem dafür gesorgt, dass die Unterstützung für Russ- nicht in der Lage sein, eine langfristige echte Bezie- land unter der radikalen, populistischen und euro- hung zwischen Staat und Gesellschaft entstehen las- skeptischen Rechten breiter wurde. Sie bekräftigte sen, die die Regierung vor einer wegen verschlechterter auch die Versuche des Kreml, mit konservativen Wirtschaftsbedingungen schwindenden Unterstützung christlichen Kreisen ein taktisches Bündnis einzuge- bewahren würde. hen. Der vom Kreml verkündete »Konservativismus« Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder erschien auch als ein wirksames Instrument gegen die Informationen über die Autoren und Lesetipps finden Sie »soft power« der Europäischen Union in postsowje- auf der nächsten Seite. tischen Staaten. RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 5 Eine ausführliche Fassung dieses Beitrags wurde im Februar 2015 veröffentlicht: Rodkiewicz, Witold, Jadwiga Rogoża: Potem- kin conservatism. An ideological tool of the Kremlin [= OSW Point of View, Nr. 48], Warschau, Februar 2015; <http:// www.osw.waw.pl/sites/default/files/pw_48_potemkin_conservatism_net.pdf> Über die Autoren Witold Rodkiewicz ist Senior Fellow am Zentrum für Oststudien (OSW) in Warschau und als Professor am Zentrum für Osteuropastudien an der Universität Warschau tätig. Seine Forschungsgebiete sind die Außenpolitik Russlands und politisches Denken in Russland. Jadwiga Rogoża ist leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Russland-Abteilung des Zentrums für Oststudien (OSW) in Warschau. Lesetipps • Menkiszak, Marek: The Putin Doctrine: Creating the conceptual foundations for Russian dominance in the post- Soviet area [= OSW Commentary, Nr. 131], Warschau, 28. März 2014; <http://www.osw.waw.pl/sites/default/files/ commentary_131.pdf> • Rogoża, Jadwiga: Adjustment in Putin’s state. Under the banner of conservatism [= OSW Analyses], War- schau, 18. Dezember 2013; <http://www.osw.waw.pl/en/publikacje/analyses/2013-12-18/adjustment-putins-state -under-banner-conservatism> ANALYSE Russland und die europäische extreme Rechte – eine seltsame Verbindung? Marlene Laruelle, Washington, D.C. Zusammenfassung Aus Anlass von Wladimir Putins Reise nach Budapest im Februar 2015 und seinem Besuch beim neuge- wählten griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras im April ist viel Tinte verbraucht und sind bei den europäischen Führungspersönlichkeiten und Institutionen einige Befürchtungen ausgelöst worden. Die- se Reisen sind nur die Spitze des Eisberges – von Russlands zunehmendem Einfluss in Europa und seiner Suche nach neuen Verbündeten innerhalb der EU. Im Gegensatz zur These vieler öffentlichkeitswirksamer Experten, dass Russland außerhalb Europas stehe, ist Russland über eine Vielzahl von Kanälen in Europa präsent. Einer dieser Kanäle besteht in – altem und neuem – Einfluss in bestimmten Ländern und Parteien. Russlands Interessen und Verbündete in scharfer Opposition zu Russland befinden, und mit den Europa Staaten des Baltikums verbunden ist, weist die Haltung Der Balkan ist seit dem 19. Jahrhundert ein russisches der anderen drei (Tschechische Republik, Slowakei und Interessengebiet. Russland hielt zunächst für die von Ungarn) mehr Nuancen auf. Die Pro-NATO-Haltung der orthodoxen Kirche geprägten Völker im Kampf der 1990er und 2000er Jahre hat in diesen Ländern um nationale Befreiung von der Herrschaft des Osma- deutlich abgenommen. Ihre wirtschaftlichen Verbin- nischen Reiches die Fahne hoch. In jüngerer Zeit hat dungen zu Russland bringen sie nun dazu, ihre Posi- Russlands Haltung zur Jugoslawien-Krise und seine tionen abzumildern. Ungarn ragt dabei mit einer ener- Unterstützung für Serbien slawophile und panortho- gischen prorussischen Politik heraus. Das ist atypisch doxe Sentiments in der Region angeregt. Heute kann für ein Land, in dem die Erinnerung an seine sozialis- Russland mit der Unterstützung von Serbien und Mon- tischen Jahrzehnte im Moskauer Bollwerk (vor allem tenegro, aber auch von Bulgarien, Griechenland und an die sowjetische Invasion von 1956) lebendig ist, und Zypern rechnen. In Mitteleuropa sind die Vysegrád- das sich lange als Teil des Westens betrachtet hat. Mit Staaten in ihrer Haltung gegenüber Russland geteilt. der globalen Finanzkrise 2008 änderte sich jedoch die Während Polen stolz im Lager jener steht, die sich in Atmosphäre. Russland profitiert in Ungarn von einer RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 6 doppelten Unterstützung: durch die rechtsextreme Job- es brauchte einige Zeit, sie wieder aufzubauen. Sie ent- bik-Partei und durch den Ministerpräsidenten Viktor stand erneut während Wladimir Putins zweiter Amtszeit Orbán und dessen Fidesz-Partei. als Präsident (2004–2008), als Russlands Strategie zum In Westeuropa sind Frankreich und Italien zwei Umgang mit der Globalisierung ihre Hochzeit hatte. der wichtigen Vorposten für den Einfluss Russlands, Die Wirtschaft des Landes florierte und die Regierung wohl aus einer Kombination von Gründen: Traditio- war überzeugt von ihrer wiedergewonnenen Macht und nelle Russophilie ist verbunden mit der dominanten ihren Versuchen, Russland in die globalen wirtschaftli- Rolle der Kommunisitischen Parteien im intellektuel- chen und politischen Prozesse einzubinden. Sie sah sich len Leben Frankreichs und Italiens sowie einem Feh- aber auch den Herausforderungen durch die farbigen len historischer Konflikte mit und direkter wirtschaft- Revolutionen und wachsende Kritik an den innenpoliti- licher Abhängigkeit von Russland. Die Situation der schen Entwicklungen des Landes gegenüber. Gerade in prorussischen Gruppierungen in den beiden Ländern dieser zweiten Amtszeit Putins haben sich neue Metho- unterscheidet sich jedoch beträchtlich. In Italien hat den öffentlicher Diplomatie herausgebildet. 2004 rief Wladimir Putin enge persönliche und familiäre Ver- Moskau den Waldaj-Klub ins Leben, eine Dialogplatt- bindungen zu Silvio Berlusconi und dessen Geschäfts- form internationaler Russlandexperten. 2007 wurde partnern aufgebaut. Die Lega Nord, die eine Agenda das »Institut für Demokratie und Zusammenarbeit« konservativer moralischer Werte vertritt, hat stets pro- gegründet, um die eigene Wahrnehmung der Werte von russische Positionen vertreten und provokant einen EU- Demokratie und Menschenrechten voranzutreiben, und Beitritt Russlands gefordert. In Frankreich verfügt Mos- zwar von Werten, die mit der von Wladislaw Surkow kau nicht über eine derartige Reihe von Verbündeten. geschmiedeten »souveränen Demokratie« vereinbar sind. Auch wenn einige Vertreter jener französischen Wirt- 2008 wurde die »Stiftung für öffentliche Diplomatie« ins schaftskreise, die Nicolas Sarkozys Republikanern (der Leben gerufen, und 2010 wurde der »Russische Rat für früheren UMP) nahestehen, wichtige Akteure auf dem Internationale Angelegenheiten« (russ. Abk.: »RSMD«) russischen Markt sind (Rüstngsunternehmen, Invest- eingerichtet, eine weitere Plattform für internationale mentfonds und Telekommunikation), steht Russland Politik. Gleichzeitig investierte Russland beträchtliche dort kein Äquivalent zu Berlusconi zur Verfolgung sei- Summen in den Mediensektor, indem es ein Reihe neuer ner Interessen zur Verfügung. Moskau hat allerdings Medienprojekte startete, sowohl für russischsprachiges seine Karte in Form einer Unterstützung für den »Front Publikum, als auch für die internationale Öffentlich- National« (FN) gespielt, der in den letzten Jahren an Pro- keit (»Russia Today«, »Russia beyond the Headlines«). fil gewonnen hat, sowie für einige andere Figuren der Diese-Politik der »Kameradschaft« wurde auf eine radikalen Rechten, wie etwa Philippe de Villiers. Fast ideologische Agenda gestützt, die sich erst allmählich überall im übrigen Europa sind – wenn auch in gerin- entwickelte und sich kurzgefasst wie folgt definieren gerem Maße – jetzt zunehmend prorussische Stimmen lässt: Russland prangert die Scheinheiligkeit und die zu vernehmen. doppelten Standards der westlichen Weltordnung an, Wie ist dieser neue Aspekt in den Beziehungen zwi- die so tue, als würden die Länder des Westens, vor schen Europa und Russland zu verstehen? Was sagt das allem die USA, eine idealistische Agenda von Demo- über die Veränderungen in der europäischen politischen kratieförderung, Menschenrechten und einem huma- Kultur und über Russlands soft power aus? Diese Fragen nitär begründeten Interventionsrecht verfolgen. Die werden in dem im Erscheinen begriffenen Sammelband Außenpolitik Washingtons werde aber, so die beharr- »Eurasianism and European Far Right: Reshaping the liche Behauptung Russlands, in Wirklichkeit von rein Europe-Russia Relationship« (s. Lesetipps) diskutiert. realistischen, strategischen Interessen bestimmt; sie sei darauf ausgerichtet, die Übermacht der militärischen Russlands Vision einer neuen Weltordnung finanziellen und industriellen Fähigkeiten der USA zu In der Vergangenheit hatte die Sowjetunion eine große bewahren, ihre Alliierten (Europa, Japan, Israel) in einer Gemeinde opportuner Verbündeter in aller Welt auf- Sicherheitsabhängigkeit zu halten und sicherzustellen, gebaut und sich auf ein wohlstrukturiertes Netzwerk das keine Konkurrenz in Gestalt von anderen Ländern aus Freundschaftsgesellschaften, Frontorganisationen, oder regionalen Blöcken entsteht. Städtepartnerschaften und Bewegungen mit offenkun- Russland behauptet, die Dominanz der USA sei für digen politischen Zielen (Frieden usw.) gestützt, deren die Weltordnung, so wie diese aufgebaut ist, strukturell: Verfolgung als Unterstützung der sowjetische Agenda- Die Gesetze seien zugunsten der zickzackartigen Inter- betrachtet wurden. Diese Form öffentlicher Diploma- pretationen der USA gestaltet worden; das Welthan- tie fiel jedoch nach Einsetzen der Perestroika und dem delssystem und das Anleihensystem der internationalen Zusammenbruch der UdSSR schnell auseinander, und Finanzinstitutionen zementierten die Finanzhegemonie RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 7 der USA; die Mediensphäre sowie das Internet stünden ändern sei: Europa sollte dazu gedrängt werden, sich unter der versteckten Kontrolle der USA, wie die geo- von den USA zu distanzieren und seine eigenen diplo- graphische Position der Server und Anbieter zeige, usw. matischen und Verteidigungsstrukturen zu errichten, Russland sucht seinerseits diese Form der Realpoli- und zwar solche, die weniger transatlantisch oder sogar tik anzuprangern und Alternativen zur globalen Domi- gegen die NATO ausgerichtet wären. Es sollte eine kon- nanz der USA zu etablieren. Diese Alternativen bestehen tinentale geopolitische Achse entwickelt werden, ver- aus verschiedenen Elementen: Respektierung staatli- körpert durch das Dreieck Paris-Berlin-Moskau, wäh- cher Souveränität im westfälischen Sinne (die Fälle rend gleichzeitig eine EU-Mitgliedschaft von Ländern Georgien und Ukraine betrachtet Russland als außer- der »gemeinsamen Nachbarschaft« zu verhindern wäre. halb der Norm liegend, da deren Souveränität falsch Moskaus Vision von Europa bedeutete auch eine Redu- sei, aus Gründen, die hier nicht weiter erörtert werden zierung der supranationalen und normativen Agenda der sollen); Herausstellung der Vollversammlung der Ver- europäischen Institutionen und gäbe einem »Europa der einten Nationen als einzigen echten Träger der Welt- Nationen« Vorrang, in dem die Vielfalt der Nationalstaa- meinung; Stärkung alternativer regionaler Plattformen ten erhalten bliebe, und in welchem Europa nicht ver- wie die der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, suchen würde, seine Werte und Normen in die übrige China und Südafrika) oder der Schanghai-Organisa- Welt zu exportieren. tion für Zusammenarbeit (SCO); Deligitimierung der In Europa gibt es zwei politische Richtungen mit NATO als Symbol einseitiger Einmischung; Weigerung einer ganz ähnlichen Agenda: die radikale Linke, ob ehe- jedwede US-Politik zum Sturz herrschender Regime mals kommunistisch oder nicht, und die extreme Rechte. im Namen demokratischer Forderungen zu unterstüt- Die Aussichten, dass die erstere in der Lage wäre, Einfluss zen (eine Lehre aus dem Arabischen Frühling und dem in ganz Europa geltend zu machen sind eher begrenzt, Umgang mit der Libyen-Krise, die in Russlands uner- selbst wenn in Südeuropa einige linksgerichtete Gruppen schütterlicher Unterstützung für Baschar Al-Assad in jüngst einen gewissen Einfluss gewonnen haben (Grie- Syrien einen Ausdruck findet); schrittweiser Aufbau chenland, Spanien, Italien). Gleichzeitig sind die Prog- einer alternativen Finanzordnung (die »Neue Entwick- nosen, dass Letztere in der Lage wären die europäische lungsbank« der BRICS, nicht US-Dollar-basierte gegen- Szenerie zu stören, sehr viel überzeugender und realisti- seitige Energiegeschäfte, Devisentausche und auslän- scher. Darüber hinaus reflektiert ein Teil der Agenda der dische Direktinvestitionen); eine Politik, mit der der radikalen Linken eine kritische Haltung gegenüber dem Vorherrschaft der USA im Informationsbereich und der Wesen des politischen Regimes in Russland und zeigt digitalen Welt begegnet werden soll. in Bezug auf Werte eine libertäre Sicht auf die Gesell- Russlands Forderung nach einer neuen Weltord- schaft (Anerkennung von Minderheiten aller, insbeson- nung dient offensichtlich eigenen strategischen Zielen: dere sexueller Art, Förderung des Rechts auf Anderssein, Es verlangsamt den Rückgang der internationalen Ein- partizipatorische Demokratie, Wachstumskritik usw.), flussmöglichkeiten Moskaus, konsolidiert seine Macht was alles andere als nach Moskaus Geschmack ist. Die in der Region sowie sein politisches Regime, und zögert europäische extreme Rechte hingegen vertritt ein kon- die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen hinaus. servatives Gesellschaftsmodell, unter anderem die Ach- In seiner Strategie betrachtet Russland China als sei- tung traditioneller sozialer und religiöser, und somit auch nen wichtigsten Verbündeten, da nur Chinas finanzielle politischer Hierarchien, Bewahrung eines konventionel- und wirtschaftliche Schlagkraft eine solche Alternative len Familienmodells, Stärkung der Rolle eines starken plausibel macht. Dieses Bündnis ist vor allem aus zwei Staates und der Figur des Staatsführers, was auch in Gründen ambivalent: Zum einen könnten Peking und Russland gegenwärtig als positiv betrachtet wird. Das Moskau ein gemeinsames Endziel haben, Pekings Mit- »Political Capital Institute«, ein ungarischer Thinktank, tel könnten aber andere sein, weniger unmittelbar und hat in einer Studie über russische Verbindungen nach weniger konfrontativ. Zum anderen entwickelt sich die Europa festgestellt, dass die einzigen rechtsextremen Par- Balance zwischen den beiden Ländern nicht zu Gunsten teien, die Moskau feindlich gegenüber stehen, in Län- Russlands. Tatsächlich lässt sich nur schwerlich absehen, dern aktiv sind, die an Russland grenzen und eine weit welchen Platz und welchen Status Russland in einer von zurückreichende historische Erinnerung an Konflikte China dominierten Welt einnehmen könnte. mit dem sehr viel größeren Nachbarn haben. Im Falle von Finnland, Lettland und Rumänien kann Nationa- Russlands neue Freunde in Europa lismus nur antirussisch sein (siehe »The Russian connec- Russland hat auch in Europa neue Verbündete entdeckt. tion…« in den Lesetipps, S. 7). Für alle anderen lässt Seine Agenda in Europa ist Teil einer breiteren Wahr- sich eine russophile Haltung ohne große Probleme in nehmung dessen, wie die internationale Ordnung zu die eigene Agende und das eigene Narrativ integrieren. RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 8 Die »Kameradschafts«-Strategie des Kreml mit der stellt. Allerdings hat der Kreml nicht allzu sehr ver- europäischen extremen Rechten korrespondiert stark sucht, in konservativen Kreisen, die eher dem Main- mit Europas gegenwärtiger Schwäche und seinen inter- stream zuzurechnen sind (etwa in der CDU/CSU in nen Widersprüchen. Das bringt jedoch auch zwei spe- Deutschland, bei den Republikanern in Frankreich zifische, nicht zu unterschätzende Nachteile mit sich: oder der Konservativen Partei im Vereinigten König- 1. Die alte russophile Tradition der europäischen Lin- reich), Unterstützung zu suchen. Eine Ausnahme ken entstammt ihren früheren Verbindungen zu den ist Ungarn und die Fidesz, doch wird hier eher an Kommunistischen Parteien, die mit der Sowjetunion den extremen Rändern der Rechten geworben. Der verbündet waren oder zumindest mit ihr sympathi- Kreml vertritt zwar eine Ideologie der Stabilität, sierten (selbst wenn einige europäische Linke auch arbeitet aber gleichwohl mit Parteien zusammen, die durch Antikommunismus geformt wurden, insbeson- zum Teil noch von Dämmerungs-Ideologien [twi- dere diejenigen, die vom Anarchismus und dann vom light ideologies] angetrieben werden. Der Kreml hat Trotzkismus und Maoismus geprägt waren). Die rus- es nicht vermocht, auch in den konservativen Kreisen sophile Tradition der europäischen äußersten Rechten Europas Verbündete zu finden und so blieb ihm nur ist sehr viel ambivalenter, jedoch keineswegs inexi- die Wahl, die Beziehungen zu den einzigen Grup- stent: Seit Beginn der 1920er Jahre schaute die soge- pen zu verstärken, die zur Bildung einer taktischen nannte deutsche »konservative Revolution«, die zu Allianz mit Moskau bereit waren, d. h. mit der extre- einem durch Mussolinis Italien inspirierten Faschis- men Rechten. Da sie auf hoher Ebene durch wich- mus aufrief, intensiv auch nach Osten. In einigen ita- tige politische Figuren Russlands formalisiert wur- lienischen und deutschen faschistischen Bewegungen den, sind diese gefährlichen Verbindungen zum Teil sorgte das Russland der Bolschewiki – bis zu Stalins »normalisiert« worden. Sie haben ihren subversiven »Großer Wende« von 1929 – durch die Fähigkeit, und revolutionären Charakter verloren und die Fas- revolutionäre Gewalt zu erzeugen und die notwen- sade einer Respektabilität erhalten. Die Bereitschaft dige tabula rasa herbeizuführen, für Bewunderung. der meisten, wenn auch nicht aller Bewegungen der Die rassistisch determinierte Politik der Nationalso- extremen Rechten – und es gibt da viele Untertei- zialisten, die die Slawen als minderwertige Rasse und lungen –, sich dem politisch korrekten Mainstream Todfeinde des Dritten Reiches betrachtete, bereitete anzuschließen (Marie LePens Front National ist hier dieser Tradition ein Ende. In den Nachkriegsjahren das deutlichste Beispiel) spielt den Bemühungen des gab es nur wenige marginale Gruppen der äußersten Kreml in die Hände, diese Verbindungen auf der Rechten, die so genannten Nationalbolschewisten, europäischen Bühne salonfähig zu machen. die Anhänger eines »Europa der Nationen von Dublin bis Waldiwostok« blieben. Hierzu gehörte Jean-Fran- Schlussfolgerungen çois Thiriart, der in den frühen 1980er Jahren meinte: Versiert in Realpolitik spielt Moskau das Spiel, das ihm »Wenn Moskau Europa europäisch machen will, pre- aus seiner Sicht der aktuellen Situation am angemes- dige ich totale Zusammenarbeit mit dem sowjeti- sensten erscheint. Es hat bestimmte Interessen eini- schen Projekt. Ich wäre dann der Erste, der sich einen ger EU-Mitgliedstaaten kultiviert, um die europäische roten Stern an die Mütze heftet. Ein sowjetisches Eur- Konstruktion zu schwächen. Moskau hofft Europas opa, ja, ohne Vorbehalte.« (Thiriart, Jean : L’Europe Attraktivität in den gemeinsamen Grenzregionen zu jusqu’à Vladivostok, in: Nationalisme et République, verringern. Es hat sich unter den fragilsten und am 1992, Nr. 9). Diese Minderheit hat die europäische stärksten verstimmten Ländern sowie bei gegen den äußerste Rechte erst jüngst in die Lage versetzt, eine Mainstream gerichteten Bewegungen neue Verbündete prorussische Berufung zu entdecken. geschaffen. Innerhalb nur weniger Jahre ist es Moskau 2. Noch wichtiger ist vielleicht, dass die Liaison zwi- gelungen, Russophilie und Euroskepsis zu zwei Seiten schen dem Putin-Regime und der europäischen einer Medaille zusammenzubringen und Russland als extremen Rechten in vielerlei Hinsicht eine Zweck- Gegenstück zu Brüssel zu positionieren. Das ist für euro- gemeinschaft ist. Auf der einen Seite haben diese päische Parteien attraktiv, die sich als Opfer der EU-»- beiden Lager tatsächlich die gleichen Feinde: EU- Technokratie« wahrnehmen und nach neuen Verbünde- Institutionen, Liberalismus im Bereich der mora- ten suchen, um gegen den gegenwärtigen »Mainstream« lischen Werte, individualistische Werte und der und die EU-Austeritätspolitik zu wettern und die »Rän- »lockere Konsens« der parlamentarischen Demokra- der« zum Widerstand gegen das »System« aufzurufen. tie. Andererseits ist der Kreml derzeit darum bemüht, Der Kreml vollführt damit einen schwierigen Balan- Russland mit einem Label zu versehen, das es als ceakt. Er verurteilt die Rolle, die der Ultra-Nationa- Fahnenträger des europäischen Konservatismus dar- lismus bei der Revolution des Euro-Maidan gespielt RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 9 hat, und den Einfluss neofaschistischer Gruppen in die Eliten in Brüssel lieber ruhiggestellt sehen wollen. der Ukraine, während gleichzeitig Parteien mit einer Wenn eine Schlussfolgerung aus diesem breiten Über- ähnlichen, allerdings prorussischen Ideologie als wahr- blick gezogen werden kann, dann die, dass Moskau hafte Repräsentanten europäischer konservativer Werte noch längst kein Epigone in Europa ist, sondern eher hochgehalten werden. Die Suche nach Verbündeten in ein zentraler Akteur. Seine Entwicklung spiegelt Euro- Europa – für ein Land wie Russland ein legitimes Vor- pas ideologisches Streben und politische Konstruktion, gehen – bedroht das europäische Projekt und bringt eine sowie dessen Erfolge und Misserfolge wider. Unzufriedenheit innerhalb des Kontinents ans Licht, die Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder Über den Autor Marlene Laruelle ist Direktorin des Zentralasien-Programms und Forschungsprofessorin für Internationale Ange- legenheiten am IERES, George Washington-Universität. Sie arbeitet zu Identität, Nationalismus und Ideologien in Russland und Zentralasien. Lesetipps • Laruelle, Marlene (Hrsg.): Eurasianism and European Far Right: Reshaping the Europe-Russia Relationship, Lex- ington: Lanham, MD 2015. • POLITICAL CAPITAL Policy Research and Consulting Institute: The Russian Connection. The Spread of Pro- Russian Policies on the European Far Right [=Political Capital Institute Papers], 14 März 2014; <http://www.ris kandforecast.com/useruploads/files/pc_flash_report_russian_connection.pdf> UMFRAGE Konservatismus und nationalistische Ideen in russischen Umfragen Grafik 1: Ist Russland heute Ihrer Meinung nach national geeint? 2014 44% 21% 35% 2012 23% 21% 56% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Eher ja Schwer zu beantworten Eher nein Quelle: Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom 25.–26. Oktober 2014, N = 1600 <http://wciom.ru/index.php?id=236& uid=115040>, veröffentlicht am 2. November 2014 RUSSLAND-ANALYSEN NR. 298, 19.06.2015 10 Grafik 2: Welche Unterschiede zwischen Personengruppen und Schichten halten Sie für wich- tig, welche nicht? 0% 20% 40% 60% 80% 100% 78% Einkommensunterschiede 59% (Arme, Reiche, Mittelklasse) 78% 57% Soziale Unterschiede und 47% Klassenunterschiede 60% 2009 52% Generationenunterschiede 50% 54% 2013 42% 2014 Ethnische Unterschiede 44% 46% 46% Religiös-konfessionelle 38% Unterschiede 46% 41% Unterschiede Wohnort (Stadt, 33% Dorf usw.) 44% Kulturelle Unterschiede 48% (Traditionelle, moderne Werte) 43% 31% Regionale Unterschiede 29% (Sibirien, Zentralrussland usw.) 37% 31% Ideologische und 29% Parteiunterschiede 35% Quelle: Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM vom 25.–26. Oktober 2014, N = 1600 <http://wciom.ru/index.php?id=236& uid=115040>, veröffentlicht am 2. November 2014
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