NR. 291 27.02.2015 russland- analysen http://www.laender-analysen.de/russland/ Russland und die KRim ■■AnAlyse Geschichtspolitik statt Völkerrecht Anmerkungen zur historischen Legitimation der Krim-Annexion in Russland 2 Wilfried Jilge, Wien ■■AnAlyse Die symbolische Bedeutung der Halbinsel Krim für Russland 6 Kerstin S. Jobst, Wien ■■UmfrAge Äußere Bedrohung und Einstellung zum Wehrdienst 9 ■■AUs rUssischen Blogs Einen frohen Tag des Vaterlandsverteidigers! 12 ■■notizen AUs moskAU Wer plant was wann? 14 Jens Siegert, Moskau ■■chronik 12. – 26. Februar 2015 17 ■■lesehinweis Abstracts von Artikeln aus Osteuropa 9–10/2014 »Gefährliche Unschärfe. Russland, die Ukraine und der Krieg im Donbass« 20 Abstracts von Artikeln aus Osteuropa 11–12/2014 »Sehenden Auges. Europäische Gewaltgeschichten.« mit Russlandbezug 22 Freie Universität Berlin ► Deutsche Gesellschaft Forschungsstelle Osteuropa Osteuropa-Institut für Osteuropakunde e.V. an der Universität Bremen Die Russland-Analysen werden unterstützt von RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 2 ANALYSE geschichtspolitik statt Völkerrecht Anmerkungen zur historischen legitimation der krim-Annexion in russland Wilfried Jilge, Wien zusammenfassung Die Unabhängigkeitserklärung der »Autonomen Republik der Krim und der Stadt Sewastopol« sowie das vom 16. März 2014 stellten bereits eine Verletzung des ukrainischen Verfassungs- und Staatsrechts dar. Russland legitimiert die Annexion der Krim aber seinerseits über den Hinweis auf das problematische Re- ferendum vom 16. März 2014. Die russische Führung geht allerdings noch weiter: In Schulbüchern und geschichtspolitischen Darstellungen sucht sie die Ukraine als Staat zu delegitimieren und ihr insbesonde- re den Anspruch auf die Krim abzusprechen. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich aber sowohl die russi- schen Geschichtsdarstellungen wie die Argumente, mit denen Russland das militärische Eingreifen auf der Krim rechtfertigt, als wenig haltbar. einleitung nach eigenen Angaben bis März 2013 Reservist des Die Russische Föderation rechtfertigt die Annexion der russischen Geheimdienstes FSB (laut anderen Quellen Krim unter anderem mit dem Hinweis auf das von den Mitglied des Nachrichtendienstes GRU der russischen prorussischen Machthabern am 16. März 2014 durch- Streitkräfte) freimütig die nähren Umstände der Sit- geführte Referendum, in dem über 96 % der Wähle- zung vom 27. Januar: »Die Landwehrkämpfer holten die rinnen und Wähler für eine Angliederung der Krim an Abgeordneten zusammen, um sie in den Saal zu treiben, Russland gestimmt haben sollen. Doch tatsächlich war damit sie abstimmen. Ich war einer der Kommandeure das Referendum schon deswegen illegal, weil die rus- dieser Landwehr.« Präsident Putin selbst gestand am 16. sische Führung das in der UN-Charta verbriefte all- April im Rahmen einer Fernsehfragestunde, dass rus- gemeine Gewaltverbot verletzte, das Referendum und sische Einheiten die Kräfte der Selbstverteidigung auf die ihm vorausgehende Machtübernahme der prorussi- der Krim unterstützt hätten, um die Durchführung des schen Separatisten unter der einschüchternden Präsenz Referendums zu sichern. Die russischen Protagonisten nach außen nicht gekennzeichneter russischer Soldaten der Krimkampagne geben sich kaum noch Mühe, die- durchgeführt wurde und von einer freien Willensäuße- jenigen Umstände zu kaschieren, die die Völkerrechts- rung daher nicht gesprochen werden kann. Spätestens widrigkeit der Krim-Annexion belegen. Offensichtlich seit dem 22. Februar – also noch während des sich in ist sich der Kreml seiner schwachen völkerrechtlichen Kiew vollziehenden Machtwechsels – verlegte Russland Position bewusst. Schon deswegen rückten seit April Truppen auf die Krim, die mit Unterstützung von Solda- zunehmend geschichtspolitische Argumente in den Vor- ten der Schwarzmeerflotte in Sewastopol die Halbinsel dergrund, um seine Position zu stärken und nicht zuletzt unter Kontrolle bringen sollten. Wenig später riegelten im Rahmen des Schulgeschichtsunterrichts die Einver- russische Einheiten in den frühen Morgenstunden das leibung der Krim wenigstens vor der eigenen Bevölke- Parlament der Autonomen Republik der Krim (ARK) rung zu legitimieren. Dabei wird in diesem Beitrag als ab, um – abgeschirmt von Protesten und unter Aus- ein Aspekt vor allem der Umgang mit der Geschichte schluss der Öffentlichkeit – die Durchführung einer für der Krim in der Sowjetzeit behandelt. die weitere mit Russland eng koordinierte Krimkampa- gne und die putschartige Machtübernahme der prorus- De-legitimierung der territorialen integrität sischen Kräfte wichtigen außerordentlichen Sitzung des der Ukraine Krimparlaments zu sichern. Auf der Sitzung wurde dann Die Annexion der Krim war nicht nur Selbstzweck, die Durchführung eines Referendums über den Status sondern diente auch als Hebel, den politischen Ein- der Krim, die Absetzung des amtierenden Ministerpräsi- fluss Russlands in der gesamten Ukraine zu sichern. denten Anatolij Mohiljow (»Partei der Regionen«, PdR) Am Vorabend der in Vilnius geplanten Unterzeichnung und die Wahl des moskauhörigen Sergej Aksjonow von des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine der auf der Krim bis dahin politisch kaum bedeuten- und der EU und des von Russland aufgrund des drohen- den prorussischen Partei »Russkoje Jedinstwo« (»Rus- den endgültigen Hinwendung der Ukraine zur Europäi- sische Einheit«) beschlossen. Ende Januar dieses Jahres schen Union entfesselten Handelskrieges stellte der rus- verriet der ehemalige selbsternannte »Verteidigungsmi- sische Präsident Putin die Existenz einer ukrainischen nister« der nicht anerkannten Donezker Volksrepublik, Nation in Frage um Zweifel an der Existenz eines sou- RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 3 veränen Nationalstaats der Ukraine zu nähren und die des russischen Parlaments im Jahre 1992 – die Übergabe Ukraine als Kernelement der Einflusszone der von ihm der Krim an die Ukraine aus dem Jahre 1954 als unge- und kremlnahen Ideologen propagierten »Russischen setzlich anerkennen soll, um so laut der Vorsitzenden Welt« historisch zu rechtfertigen. Auf dem abschlie- des Föderationsrates Valentina Matwijenko die »histo- ßenden Plenartreffen des Internationalen Diskussions- rische und juristische Gerechtigkeit« wiederherzustellen. klubs »Waldaj« am 19. September 2013 bekannte sich In den Schulbüchern zur Geschichte der Krim und heu- Putin zwar zunächst halbherzig zur Unabhängigkeit tigen populärwissenschaftlichen Monographien wird des Nachbarlandes, gab aber kurz darauf zu bedenken, die Übergabe als illegaler und voluntaristischer Akt oder dass die Wurzeln der Staatlichkeit Russlands jedoch am »zarisches Geschenk« des damaligen sowjetischen Par- Dnepr lägen und die mittelalterliche Kiewer Rus den teichefs Nikita Chruschtschow gebrandmarkt. In dem Ausgangspunkt »für die gewaltige Zukunft des russi- Schulbuch von W. Schestjakow bildet das Ereignis von schen Staates« gebildet habe: »Wir haben gemeinsame 1954 im Kapitel »Die Angliederung der Krim an Russ- Traditionen, eine gemeinsame Mentalität, eine gemein- land« den Ausgangspunkt des Narrativs: Chruschtschow same Geschichte und Kultur […] In dieser Hinsicht, habe aus »konjunkturellen Erwägungen« die Krim aus das möchte ich noch einmal wiederholen, sind wir ein dem Bestand der RSFSR in die URSR übergeben, wobei Volk.« In diesem Sinne stellte er in seiner Krim-Rede man »sich nicht für die Meinung der Bewohner der Krim am 18. März 2014 die Angliederung der Krim in einen interessiert und eine Reihe sowjetischer Gesetze gebro- direkten Zusammenhang mit der Situation des »Süd- chen« habe. In anderen Schulbüchern wird darauf hin- ostens« der Ukraine, wo nach Auffassung Moskaus die gewiesen, dass – im Unterschied zu 2014 – kein Refe- »Landsleute« der Russischen Föderation, also russisch- rendum auf der Krim durchgeführt wurde und somit sprachige oder russische Einwohner die Mehrheit bil- gegen die sowjetische Verfassung verstoßen worden sei. deten und nach dem Machtwechsel in Kiew in ihren Die genauen Gründe der Übergabe der Krim an die politischen und sprachkulturellen Rechten bedroht sein. Ukraine im Jahre 1954 sind umstritten, und die in der In diesem Sinne zog Putin die Rechtmäßigkeit der Ein- Forschung ernsthaft diskutierten Motive der sowjeti- beziehung »bedeutender Teile des historischen Südens schen Führung können hier nicht vollständig dargestellt Russlands in den Bestand der ukrainischen Sowjetrepu- werden. Tatsächlich hat die internationale Forschung blik« durch die Bolschewiki nach 1917 in Zweifel, nach- nach 1991 aber nachweisen können, dass die Übergabe dem er schon wenige Tage zuvor kundgetan hatte, dass kaum als ein einsamer Willkürakt Chruschtschows die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine aus dem angesehen werden kann und bei der Entscheidung zur Jahre 1991 nicht ganz den sowjetischen Normen ent- Herstellung einer direkten Landverbindung zum ukrai- sprochen habe. Am 7. April stellte er dann klar, dass es nischen Hinterland sehr wahrscheinlich ökonomische sich bei diesen Gebieten eigentlich nicht um Teile der und infrastrukturelle Faktoren den Ausschlag gaben. Ukraine, sondern »Neurusslands« handle und rechtfer- Es gibt zweifelsohne gute Gründe anzunehmen, dass tigte damit implizit die Ziele der prorussischen Separa- Chruschtschow »die Ukrainer als Juniorpartner für die tisten, die Pseudo-Republiken im Donbass zu einem Leitung des ›Unternehmens Sowjetunion‹ zu gewinnen Staat »Neurussland« zusammenzuschließen. suchte« (Andreas Kappeler). Die Übergabe der Krim war sicherlich keine einsame Entscheidung Chruschtschows: Die krim in der Udssr Zwischen 1953 und 1956 war dieser noch nicht der Die umfassende Revision der sowjetischen Nationali- unangefochtene alleinige Führer des sowjetischen Staa- tätenpolitik dient letztlich der De-Legitimierung der tes. Eine solche Entscheidung musste daher kollegial ukrainischen Grenzen und staatlichen Unabhängig- getroffen werden. Dass nach der Meinung der Bevölke- keit, die auf Basis der Souveränisierung der Grenzen rung nicht gefragt wurde, gehört zum Wesen eines totali- der Sowjetrepubliken vollzogen wurde. Da dies auch tären Staates. Die Schaffung von Unionsrepubliken und auf die Russische Föderation und die anderen post- die Festsetzung ihrer Grenzen waren stets das Ergebnis sowjetischen Staaten zutrifft, ist diese Argumentation der Nationalitätenpolitik der Führung der Bolschewiki. mit einer erheblichen sicherheitspolitischen Sprengkraft Die Meinung der betroffenen Bevölkerung spielte dabei verbunden. Das Schlüsselereignis in dieser geschichts- keine Rolle, Referenden oder Umfragen wurden nicht politischen Strategie bildet der Wechsel der Krim aus durchgeführt. Das gilt beispielsweise auch für den Aus- dem Bestand der Russischen Föderativen Sozialistischen tausch von Gebieten zwischen den noch jungen Sowjet- Sowjetrepublik (RSFSR) in die Ukrainische Sozialisti- republiken RSFSR und URSR in den 1920er Jahren im sche Sowjetrepublik (ukr.: URSR) im Jahre 1954. Im Osten und Nordosten der Ukraine, von denen sowohl russischen Föderationsrat wird bereits ein Gesetz vor- kompakt siedelnde Russen als auch Ukrainer betroffen bereitet, das – in Anlehnung an eine ähnliche Initiative waren. Insgesamt erfüllt die breite geschichtspolitische RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 4 Debatte der »zarischen Schenkung« vor allem die Ver- RSFSR durch die Bolschewiki und die dort vollzogene schleierungsfunktion von Geschichtspolitik: Sie soll von Förderung der krimtatarischen Kultur im Rahmen der der Tatsache ablenken, dass die Russische Föderation relativ liberalen sowjetischen Nationalitätenpolitik der nach 1991 die Grenzen der Ukraine samt der Halbin- 1920er Jahre sei die Krim durch die Grenze zur URSR sel Krim als Teil der Ukraine in mehreren völkerrecht- von Neurussland getrennt worden, deren historischer lich verbindlichen Verträgen vom russisch-ukrainischen Bestandteil sie gewesen sei. Die Menschen in Neuruss- »großen Freundschaftsvertrag« im Jahre 1997 bis zu land, die sich mit russischer Sprache und Kultur iden- den – erst 2010 erneuerten – Abkommen über die Sta- tifizierten, seien ohne Rücksicht auf ihre Meinung einer tionierung der russischen Schwarzmeerflotte anerkannt mächtigen Welle der Ukrainisierung ausgesetzt worden. und im Budapester Memorandum 1994 garantiert hat. Auf der Basis dieser Argumente wird die Annexion der Krim in jüngst erschienenen Dokumentationen und »krimfrühling« 2014: russische humanitäre Sammelbänden zum »Russischen Frühling« als Auf- intervention zum schutz der »landsleute« takt zur Wiedergeburt »Neurusslands« zelebriert und Unmittelbar nach der Einverleibung der Krim gaben das bekannte russische Generäle wie Alexander Suworow russische Bildungsministerium, staatsnahe Bildungsver- (1730–1800), die maßgeblichen Anteil an der Erobe- lage und regierungsnahe historische Gesellschaften sowie rung der Krim hatten, werden als Vorfahren promi- kremlnahe nationalistisch-antidemokratische Ideenzen- nenter Separatisten aus dem Donbass in Szene gesetzt. tralen (wie der 2012 gegründete und publizistisch im kremlnahen patriotischen Spektrum vorzüglich vernetzte ewiges streben nach wiedervereinigung? »Isborskij Klub«) um die Geschichte des »Krimfrühling« kollektive identitäten der krimbevölkerung ergänzte Schulbücher, Broschüren und Monographien Was für viele Menschen in Russland die Krim ist, ist zur Geschichte der Krim heraus. Sie sollen die Argumente sicher auch Russland für viele Krimrussen bzw. die rus- bezüglich einer völkerrechtswidrigen Annexion der Krim sischsprachigen Krimbewohner. Laut der ukrainischen zurückweisen und die Angliederung der Krim als »Wie- Volkszählung von 2001 lebten damals auf der Krim etwa derherstellung der historischen Gerechtigkeit« legitimie- 2,4 Millionen Menschen, wovon etwa 60 % Russen, ca. ren. Die »Krimrede« von Präsident Putin diente dabei als 24 % Ukrainer und über 10 % Krimtataren waren, neben Richtschnur sowohl bei der Darstellung und Deutung einigen weiteren zahlenmäßig kleinen ethnischen Grup- der Ereignisse vom Beginn der Proteste auf dem Kiewer pen. Eine deutliche Bevölkerungsmehrheit war russisch- Unabhängigkeitsplatz (»Maidan«) bis zum Vollzug der sprachig (über 78 %), auf Träger der ukrainischen und Annexion der Krim am 18. März 2014 als auch bei der krimtatarischen Sprache entfielen jeweils etwa 10 %. Ein völkerrechtlichen Begründung des »Anschlusses« und Großteil der ethnischen Russen und auch ein Teil der der Bedeutung der Krim als russischem Erinnerungsort. russischsprachigen Ukrainer auf der Krim bringt Russ- Im Mai 2014 hatte das das russische Bildungsminis- land sehr große bis große Sympathien entgegen und terium eine Anweisung veröffentlicht, wonach in Schu- fühlt sich der »Russischen Welt« zugehörig. len bei der Behandlung des im Lehrplan vorgeschrie- Ziel der Geschichtspolitik Russlands und der seit benen Themas »Krim und Sewastopol: ihre historische Februar/März herrschenden neuen Machthaber auf Rolle für Russland« die Sichtweise der Regierung gelehrt der Krim ist es, die Russen in der Russischen Födera- werden muss. Laut Lehrplan hatte die Annexion »frie- tion und die russischsprachige Mehrheit der Krim als denssichernden und humanitären« Charakter und diente eine integrale Erinnerungsgemeinschaft und soziokul- dem Ziel, die Krimbevölkerung zu schützen. Der von turelle Einheit zu imaginieren, um die Annexion der Nikita Chruschtschow 1954 vollzogene Transfer der Krim gleichsam als das selbstverständliche Ergebnis Krim von der RSFSR zur URSR sei illegal gewesen. Kri- des angeblich seit 1991 beobachtbaren Bestrebens der tische Stimmen aus der russischen Lehrerschaft kritisier- Bevölkerungsmehrheit der Krim nach einem Anschluss ten die Anweisung als Indoktrination und Verpflichtung an das Mutterland erscheinen zu lassen. Die geschichts- der Schulen zur Propaganda, da sie unter Schülern eine politisch als »natürlich« verbrämte »Wiedervereinigung« offene Diskussion der Ereignisse behindere. der Krim mit Russland ist historisch jedoch keineswegs In manchen Materialien orientiert sich der Aufbau selbstverständlich: Die Geschichte der Krim, die erst der Erzählung unmittelbar an ausführlich zitierten zen- 1783 von Katharina der Großen annektiert worden ist, tralen Passagen der Rede Putins. Entlang dieser Linie ist multinational und vom Wechsel unterschiedlicher argumentiert auch das Lehrbuch des Verlages »Russ- Herrschaften geprägt. Die von Stalin 1944 deportier- koje Slowo« mit dem Titel »Die Krim in der Geschichte ten und während der Perestrojka in großer Zahl wieder Russlands«: Durch die Gründung einer »Autonomen zurückgekehrten Krimtataren, die im 15. Jahrhundert Sozialistischen Sowjetrepublik Krim« im Bestand der ein politisch differenziertes und kulturell entwickeltes RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 5 multiethnisches Reich begründet haben (das Krimkha- chen Fernsehkanal der Krim als Ausdruck von Faschis- nat), betrachten die Halbinsel als ihre historische Hei- mus bzw. eines radikalen ukrainischen Nationalismus mat und sehen mehrheitlich ihre autonomen Rechte am dargestellt werden, um den radikalen außenpolitischen besten innerhalb des ukrainischen Staates gewährleistet. Kurswechsel weg von der Europäischen Union bzw. die In Regionen außerhalb Sewastopols hat sich in den letz- Anlehnung an Russland zu rechtfertigen. ten Jahren bereits ein pragmatisches, regionales Krim- Das Ergebnis des Referendums vom 16. März selbst Bewusstsein herausgebildet, das sich mit der Zugehö- hat kaum Aussagekraft, da die Art seiner Durchfüh- rigkeit zur Ukraine durchaus versöhnt hat. rung und die einschüchternde Präsenz russischen Mili- Russische Bevölkerungsmehrheit und Dominanz tärs nicht einmal ansatzweise die Bedingungen einer der russischen Sprache sagen aber noch wenig darüber freien Willensäußerung erfüllten. In einer vom »Kiewer aus, in welchem Staat die Mehrheit der Krimbewohner Internationalen Institut für Soziologie« (KMIS) und der leben will. In den letzten Jahren sah eine Mehrheit der Kiewer Stiftung »Demokratische Initiativen« durchge- Krimbevölkerung in der Ukraine ihr »Vaterland«, wobei führten Umfrage von Mitte Februar 2014 sprachen sich das Ausmaß dieser Zustimmung erheblichen Schwan- 41 % (Ende 2013: ca. 36 %), also deutlich weniger als kungen unterworfen war und in engem Zusammen- die Hälfte der Krimbewohner für eine Vereinigung der hang mit der allgemeinen innen- und machtpolitischen Ukraine mit Russland aus. In einer Stichprobenumfrage Situation des Landes stand. Laut einer Umfrage des Kie- des Rasumkow-Zentrums vom Dezember 2013 sprechen wer Rasumkow-Zentrums stieg diese Zustimmung von sich nur 29 % der auf der Krim Befragten für eine Los- 40,1 % im Jahre 2008 auf 71,3 % im Jahre 2011 (2006: lösung der Halbinsel von der Ukraine aus. Ein wich- 74 %). Der Anteil derjenigen, die eine Angliederung der tiges Indiz für die Realitätsnähe dieser Zahlen bildet Krim an Russland befürworteten, war dabei unter Pen- eine am 21. April 2014 veröffentlichte Nachbefragung sionären besonders hoch. So ist es nicht verwunderlich, von Experten und Bürgern auf der Krim, die nach dem dass die prorussischen Machthaber auf der Krim gerade Referendum vom »Rat zur Entwicklung der Bürgerge- diese noch von der Sowjetzeit geprägte Bevölkerungs- sellschaft und der Menschenrechte beim Präsidenten der gruppe besonders gut mobilisieren konnten. Die auf die Russischen Föderation« durchgeführt wurde. Demnach Beschwörung der vom Maidan ausgehenden faschisti- habe eine erdrückende Mehrheit der Bewohner Sewas- schen Gefahr (»Russland oder Faschismus«) und die mit topols bei einer Wahlbeteiligung von 50–80 % für den der Angliederung einhergehenden sozialen Wohltaten Anschluss an Russland gestimmt, wovon sich die Zah- (Anpassung der Renten an das russische Niveau bzw. len für die Autonome Republik Krim jedoch deutlich ihre spürbare Erhöhung) erzielte im Lichte des durch unterschieden: hier hätten 50–60 % bei einer Wahlbe- den Sturz Janukowytschs ausgelösten politischen Vaku- teiligung von nur 30–50 % für den Anschluss gestimmt. ums und der damit verbundenen politischen Orientie- Dabei gab auf der Krim weniger die russische Identität rungslosigkeit unter der Krimbevölkerung eine beson- oder die Angst vor sprachkultureller Unterdrückung, dere Wirkung, die durch die bis zum 5. März auf der sondern die ausufernde Korruption der die Krim beherr- Krim vollzogene Abschaltung unabhängiger Fernsehme- schenden Donezker Clans aus Reihen der PdR den Aus- dien und ukrainischer Fernsehkanäle und damit durch schlag, die bis Anfang 2014 die Politik auf der Halbinsel die Ausschaltung alternativer Sichtweisen noch gestei- kontrolliert hat. Die Untersuchung des russischen Men- gert wurde. Dabei darf nicht vergessen werden, dass schenrechtsrates demonstriert, dass bezüglich der poli- die »Partei der Regionen« (PdR) die Stimmungsmache tischen Loyalitäten und des kollektiven Bewusstseins gegen den faschistischen Maidan bereits seit Ende 2013 der Bewohner Sewastopols und des Gebiets der ARK in den ihr nahestehenden Medien anheizte: Laut Andrij differenziert werden muss: In der »Heldenstadt« Sewas- Klymenko, Chefredakteur der Internetplattform »Black- topol, dem Sitz der »ruhmreichen russischen Schwarz- seanews« und bis Anfang 2014 Mitglied im Experten- meerflotte« verbindet sich die russische Kulturidentität rat bei der Regierung der Autonomen Republik Krim mit sowjetischem und russisch-imperialem Stolz. Dage- (ARK), schlugen die Repräsentanten der PdR auf der gen hat sich in den Regionen außerhalb Sewastopols in Krim bereits unmittelbar nach Beginn der gewaltsa- den letzten Jahren bereits ein pragmatisches, regionales men Zerschlagung der Studentenproteste in Kiew Ende Krim-Bewusstsein herausgebildet, das sich in weiten Tei- November Empfehlungen von Experten aus, in einen len mit der Zugehörigkeit zur Ukraine allmählich ver- Dialog mit den Demonstranten zu treten und die für die söhnt hat. Zudem haben sich schon in der Sowjetzeit Gewalt Verantwortlichen zu bestrafen. Stattdessen soll- und vor allem nach 1991 zwischen der Krim und ihrem ten sämtliche Erscheinungen und führende Akteure des südukrainischen Hinterland enge kulturelle und wirt- Maidan in den regierungsnahen ukrainischen Medien schaftliche Verbindungen herausgebildet, die heute für und dem unter Kontrolle der PdR stehenden staatli- viele kleinere und mittlere Unternehmen wichtig sind. RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 6 fazit Autonomie in Verhandlungen durchaus ausbaubar gewe- Die Unabhängigkeitserklärung der »Autonomen Repu- sen wäre, ohne die staatliche Integrität zu gefährden. blik der Krim und der Stadt Sewastopol« sowie das Refe- Die politischen Voraussetzungen waren gegeben: Die rendum vom 16. März 2014 stellten bereits eine Verlet- ukrainische Führung war zu Verhandlungen über die zung des ukrainischen Verfassungs- und Staatsrechts dar. Stärkung der Autonomie bereit, während die russische Eine genaue Analyse der politischen Stimmung auf der Führung im Lichte der Krise des ukrainischen Staates Krim zeigt jedoch, dass im Falle eines unter freien und in einer starken Position war. Vieles deutet daher darauf demokratischen Bedingungen durchgeführten Refe- hin, dass es Putin und seiner Entourage im Frühjahr rendums ein Ergebnis zugunsten Russlands selbst in 2014 kaum um das Wohl der Krimbevölkerung ging; der Phase der extremen ukrainischen Staatskrise kei- vielmehr diente Putin die Annexion als Hebel, die wider- neswegs selbstverständlich zu erwarten gewesen wäre. spenstige Ukraine massiv zu destabilisieren, den Einfluss Darüber hinaus hätte Russland im Frühjahr 2014 weit- Russlands im Nachbarland zu sichern, den Russen »die aus kostengünstigere Möglichkeiten gehabt, die russi- Perle des Imperiums« zurückzugeben, um somit sein sche Minderheit effektiv zu unterstützen: Die damals Hauptziel zu erreichen: Legitimation und Sicherung gültige Verfassung der ARK garantiert der Halbinsel seiner autoritären Herrschaft. in engen Grenzen einige Hoheitsrechte, weswegen die Über den Autor Wilfried Jilge ist Osteuropahistoriker und Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig. Er lebt zur Zeit in Wien. ANALYSE Die symbolische Bedeutung der halbinsel krim für russland Kerstin S. Jobst, Wien zusammenfassung Die im 18. Jahrhundert vom Zarenreich aus machtpolitischen Überlegungen eroberte Halbinsel Krim ist in der Zeit danach für viele Russen ein besonderer Ort geworden, der nicht mehr als fremd, sondern als rus- sisch empfunden wird – und das bis heute, wie die gegenwärtige Zustimmung des überwiegenden Teils der russischen Bevölkerung zur Annexion der Halbinsel im März 2014 durch Moskau unterstreicht. Der Krim wird aufgrund der Tatsache, dass sie von zahllosen Literaten besungen wurde und als Ort der klassischen Tauris gilt, große kulturelle Bedeutung zugeschrieben. Sie ist zugleich ein militärischer Erinnerungsort und gilt als Ausgangspunkt der Christianisierung der Kiewer Rus. Der ehemaligen Titularnation der muslimi- schen Krimtataren wurde und wird hingegen mit Misstrauen begegnet. Die krim als besonderer ort meter großes Gebiet in Kauf, auf dem nur etwas über Nachdem sich die Russländische Föderation im März zwei Millionen Menschen leben? Das Erstaunen im 2014 die am nördlichen Schwarzmeerufer gelegene Westen war wohl nicht zuletzt auch deshalb so groß, Krim einverleibt hat – es war die zweite Annexion der als dass es sich bei der Krim um eine Weltgegend han- Halbinsel durch ein russisches Staatswesen nach 1783 –, delt, welche die meisten Europäer (und noch mehr US- wurde dieser Schritt von Völkerrechtlern und Osteu- Amerikaner) bis vor einem Jahr kaum auf der Land- ropaexperten zwar nicht einhellig, aber doch überwie- karte gefunden hätten und über dessen Bewohner und gend als unrechtmäßig eingeschätzt und verurteilt. Viele Kultur selbst Geschichtsinteressierte bislang nur wenig Politiker, Medien und die Öffentlichkeit im Westen zu sagen wissen. waren jedenfalls sehr über diesen Schritt Moskaus ver- Das russische Vorgehen allein mit Machtpolitik wundert: Warum, so wurde gefragt, nimmt die Russi- erklären zu wollen, die letztlich darauf abzielt, die nach sche Föderation eine Ächtung durch die internationale dem Zerbrechen der Sowjetunion verlorenen Gebiete in Gemeinschaft für ein nur knapp 27.000 Quadratkilo- der einen oder anderen Form wieder unter den Einfluss RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 7 Moskaus zu bringen, greift insbesondere im Fall der hörige der Oberschicht verbrachten dort ihre Sommer- Krim zu kurz, denn sie ist keinesfalls »irgendein« Ter- frische; seit den 1920er Jahren schickte die Sowjetunion ritorium aus der Erbmasse der UdSSR. Der Halbinsel ihre mit besonderen Ehren ausgezeichneten Pioniere in kommt vielmehr aus einer ganzen Reihe von Gründen das bis heute existierende Jugendlager »Artek«; und seit im kollektiven Bewusstsein der russischen Bevölkerung den frühen sechziger Jahren verbrachten Millionen rege- (und auch anderer ehemaliger Sowjetbürger und -bür- nerationsbedürftiger »Werktätiger« ihren Urlaub auf der gerinnen) eine enorme Bedeutung zu, ist die Krim doch schönen Halbinsel. Die Krim wurde zum beliebtesten für sie ein besonderer Ort, der außerordentlich hohes sym- Urlaubsziel in der Sowjetunion – auch deshalb haben bolisches Kapital birgt. Das soll im Folgenden vor dem viele Russen heute noch eine so enge Bindung an die- Hintergrund der historischen Genese der russischen sen Ort. Herrschaft über die Halbinsel dargelegt werden. Ein- Schon im 19. Jahrhundert suchten zivilisationsmüde, führend sei festgehalten, dass die Eroberung der Krim politisch missliebige oder kranke mehr oder weniger ursprünglich tatsächlich aus machtpolitischen Überle- berühmte Russen Erholung auf der Krim. Einer der gungen erfolgt war, die Halbinsel aber alsbald als ein bekanntesten war wohl Anton Tschechow, der in sei- Ort wahrgenommen wurde, der nicht nur als historisch nem oberhalb von Jalta gelegenen Anwesen vergeblich und kulturell auf das Engste mit dem russischen Kern- Heilung von seiner Tuberkulose suchte, dabei aber dem gebiet verbunden, sondern geradezu als elementar rus- Touristenzentrum an der Südküste mit seiner Novelle sisch empfunden wurde. Dass dies nur mit Hilfe einiger »Die Dame mit dem Hündchen« ein literarisches Denk- eklatanter Umdeutungen historischer Fakten gelingen mal setzte. Noch präsenter dürfte nicht nur russischen konnte, sei schon hier bemerkt. Bildungsbürgern Alexander Puschkins Poem »Der Trä- nenbrunnen« sein. Der unbestrittene russische National- Die Annexion von 1783 dichter, der in den 1820er Jahren während seiner Verban- Die 1783 erfolgte Annexion der Krim durch das Zaren- nung nur wenige Wochen auf der Krim weilte, ist wie reich beendete das knapp ein Jahrzehnt dauerndes Expe- viele weitere, hier ungenannte Schriftsteller und Maler riment Katharinas II., über das muslimische Krim- dafür verantwortlich, dass die Krim im russischen kol- Chanat eine indirekte Herrschaft auszuüben. Das seit lektiven Bewusstsein als ein integraler Ort russischer dem 15. Jahrhundert unter osmanischer Oberhoheit Kultur gilt. Zugleich wurde bereits im 18. Jahrhundert stehende Gebiet hatte über mehrere Jahrhunderte die stolz auf die antike Vergangenheit der Krim hingewie- offene russische Südgrenze durch seine Reiterhorden sen, immerhin gilt die Halbinsel ja als der Ort der klas- und Sklavenzüge bedroht, war aber seit dem ausgehen- sischen Tauris, welche unter anderem durch die Oper den 17. Jahrhundert technologisch gegenüber dem sich Glucks oder Goethes »Iphigenie auf Tauris« den gebil- modernisierenden Russland ins Hintertreffen geraten. deten europäischen Oberschichten ein Begriff war. Die Annexion war ein kolonialer Akt, der im Kontext mit sehr viel weitreichenderen, letztlich aber unverwirk- russen und krimtataren lichten Plänen – nämlich dem Traum von einer Erobe- In dem in vielen Varianten existierenden Narrativ von rung Istanbuls/Konstantinopels durch das Zarenreich – der russischen Krim wurden und werden nichtrussische zu sehen ist. Ein besonderer Ort aus russischer Sicht war bzw. nichtslawische Bevölkerungselemente, welche die die Krim zum Zeitpunkt der Einverleibung definitiv Halbinsel seit Jahrtausenden prägten, ignoriert bzw. in noch nicht; vielmehr wurde von Zeitgenossen ihre geo- eine mentale Distanz gerückt. Das bedeutet unter ande- politische Bedeutung betont. rem, dass insbesondere die Krimtataren, die bis in das 19. Dies änderte sich allerdings schnell, erkannte doch Jahrhundert die Mehrheit der Krimbewohner ausmach- schon Fürst Grigorij Potjomkin, der die Angliederung ten, entweder nicht thematisiert oder aber als gefährliche militärisch leitete, alsbald die landschaftliche Schön- und illoyale Untertanen angesehen wurden und werden. heit der mediterranen Südküste und träumte von einem Im Krimkrieg 1853–56 und auch im Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich lohnenden Erwerb für die Krone, wo der wurden die Krimtataren von vielen Russen als eine Art Weinanbau florieren und Seidenraupenplantagen den Fünfte Kolonne des militärischen Gegners angesehen – Wohlstand Russlands mehren sollte. Auch wenn sich mit weitreichenden Konsequenzen: Während nach dem diese hohen ökonomischen Erwartungen, vor allem auf für das Zarenreich so unrühmlich ausgehenden Krim- dem Gebiet des Weinbaus, nur eingeschränkt erfüllen krieg die Massenauswanderung der Tataren aus Russ- sollten, so verbreitete sich die Kunde von der schönen land in das Osmanische Reich zwar durch die Admi- und klimatisch so bevorzugten Halbinsel recht schnell nistration gefördert, nicht aber gewaltsam durchgesetzt in ganz Europa. Die Krim wurde ein vielbereister Ort: wurde, kam es 1944 nach der Rückeroberung der Halb- Die russischen Zaren und bald auch viele andere Ange- insel durch die Rote Armee zu umfangreichen ethni- RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 8 schen Säuberungen. Bis heute belasten diese für Krim- Putin die Annexion der Krim im März des gleichen Jah- tataren traumatischen Deportationen nach Zentralasien res an und rechtfertigte sie mit einem Argument, das das krimtatarisch-russische Verhältnis. Ein schon seit bereits nach der ersten Annexion von 1783 häufig zur dem 18. Jahrhundert wiederholt, etwa von Fürst Potjom- Legitimierung russischer Ansprüche auf die Krim ange- kin geäußerter »Traum«, nämlich eine von seinem mus- führt worden war, nämlich mit ihrer religiösen Bedeu- limischen Bevölkerungselement »befreite« und damit tung für Russland. Konkret sagte Putin, dass die sakrale wahrhaftig russische Halbinsel, ging somit für einige und zivilisatorische Bedeutung der Halbinsel für Russ- Jahrzehnte in Erfüllung. Nach dem Zerfall der Sow- land mit der des Tempelberges für Juden und Mus- jetunion konnten dann aber viele Krimtataren wieder lime vergleichbar sei. »In Chersones«, so Putin, »fand leichter in die alte Heimat zurückkehren, so dass ihr die Taufe des Großfürsten Wladimir statt, welche die Bevölkerungsanteil wieder auf rund 13 Prozent anstieg. Grundlage für die Christianisierung der Kiewer Rus war.« Er bezog sich damit auf ein in der berühmten »Nes- heldenstadt und ort der christianisierung? tor-Chronik« erwähntes Ereignis, demzufolge eben die- Das problematische russisch-krimtatarische Verhältnis ser Wladimir im Jahr 988 unweit des heutigen Sewas- basiert nicht allein auf der religiösen Differenz, sondern topol das Christentum angenommen haben soll. Auch vor allen Dingen auf der nicht mit historischen Fak- wenn die Anwesenheit des Großfürsten auf der Halbin- ten untermauerten Vorstellung, die Krimtataren hät- sel im Rahmen eines Feldzugs im genannten Zeitraum ten im Krimkrieg wie auch im Zweiten Weltkrieg mit wohl unstrittig ist, so bleiben hinsichtlich der Frage, ob den Osmanen bzw. mit der Deutschen Wehrmacht kol- seine Taufe wirklich auf der Krim stattgefunden hat, laboriert. Zwar kam es, wie in Kriegen allgemein üblich, geschichtswissenschaftlich viele Fragen offen. Dies gilt partiell zur Unterstützung der Kriegsgegner durch Tata- auch für die in russischen Erzählungen über die Krim ren, von einer massenhaften Kollaboration kann aber gern kolportierte Geschichte, auch habe der Apostel nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Im Zweiten Welt- Andreas auf einer Wanderung vom Heiligen Land in krieg zeichneten sich Soldaten krimtatarischer Her- das Gebiet des heutigen Russland auf der Krim geweilt! kunft in der Roten Armee vielfach durch besondere Insgesamt wird die Krim von der überwältigenden Tapferkeit aus. Der Krimkrieg und der Zweite Welt- Mehrheit der Bevölkerung Russlands also als ein russi- krieg sind zugleich der Grund dafür, dass die Halbinsel sches Gebiet wahrgenommen, das mit den zentralrus- in der militärischen Erinnerungskultur Russlands eine sischen Gebieten unter anderem durch Kultur (siehe so große Rolle spielt: Besonders die Stadt Sewastopol Puschkin) und russisches Heldentum (siehe Sewasto- als Heimat der verehrten, tatsächlich aber militärisch pol) unauflöslich verbunden ist. Ihre Zugehörigkeit zu immer nur mäßig erfolgreichen Schwarzmeerflotte, ist der seit 1991 unabhängigen Ukraine wurde deshalb nie- für Russen eine hochemotional besetzte »Heldenstadt«, mals akzeptiert, und der noch Anfang 2014 bei vielen die 1854/55 den Belagerern 349 und 1941/42 immerhin Russen wegen seiner autoritären Innenpolitik so unbe- über zweihundert Tage standgehalten hat. Mehrere tau- liebte Wladimir Putin weiß seine Bürgerinnen und Bür- send Denkmäler und Tafeln – so will es zumindest die ger zumindest in diesem Punkt hinter sich. Dass Russ- Legende – erinnern in der Stadt an diese heldenhaften land sich mit der Annexion der Krim im März 2014 Verteidigungen, die zahlreichen Artefakte dürfte kaum völkerrechtlich ins Unrecht gesetzt hat, bleibt gleich- jemand nachgezählt haben. wohl eine Tatsache. In seiner Anfang Dezember 2014 gehaltenen Anspra- che vor der Föderalen Versammlung sprach Präsident Über die Autorin Kerstin S. Jobst ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Lesetipps • Jobst, Kerstin S.: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich, Konstanz, 2007. • Kozelsky, Mara: Christianizing Crimea. Shaping Sacred Space in the Russian Empire and Beyond. DeKalb (Ill.), 2010. RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 9 UmFRAGE Äußere Bedrohung und einstellung zum wehrdienst grafik 1: Besteht heute eine militärische Bedrohung durch andere staaten? 2015 68% 10% 22% 2013 51% 11% 38% 2011 53% 10% 37% 2009 50% 9% 41% 2007 49% 8% 43% 2005 44% 11% 44% 2003 55% 8% 37% 2000 48% 8% 45% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Auf jeden Fall, eher ja Keine Antwort Auf keinen Fall, eher nein Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 23.–26. Januar 2015, N = 1600. Veröffentlicht am 22. Februar 2015 unter: <http:// www.levada.ru/print/21-02-2015/sluzhba-v-armii-i-voennye-ugrozy> grafik 2: ist unsere Armee in der lage, russland im falle einer realen militärischen Bedro- hung durch andere staaten zu verteidigen? 2015 82% 9% 9% 2013 57% 15% 28% 2011 59% 14% 28% 2009 73% 11% 17% 2007 65% 9% 27% 2005 52% 10% 38% 2003 55% 8% 37% 2000 61% 8% 31% 0% 20% 40% 60% 80% 100% Auf jeden Fall, eher ja Keine Antwort Auf keinen Fall, eher nein Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 23.–26. Januar 2015, N = 1600. Veröffentlicht am 22. Februar 2015 unter: <http:// www.levada.ru/print/21-02-2015/sluzhba-v-armii-i-voennye-ugrozy> RUSSLAND-ANALYSEN NR. 291, 27.02.2015 10 grafik 3: sollte die allgemeine wehrpflicht erhalten bleiben oder sollte es eine Berufsarmee geben? 2015 50% 13% 37% 2012 43% 6% 51% 2011 47% 7% 47% 2009 47% 9% 43% 2007 41% 5% 54% 2005 31% 7% 62% 2003 23% 6% 71% 2000 34% 8% 58% 1998 35% 12% 53% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Die allgemeine Wehrpflicht und der Pflichtdienst in der Armee sollen beibehalten werden Keine Antwort Eine Berufsarmee sollte eingerichtet werden mit jenen, die für ein Gehalt in der Armee dienen Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 23.–26. Januar 2015, N = 1600. Veröffentlicht am 22. Februar 2015 unter: <http:// www.levada.ru/print/21-02-2015/sluzhba-v-armii-i-voennye-ugrozy> grafik 4: wird russland heute durch andere staaten militärisch bedroht? 2015 24% 44% 4% 20% 8% 2014 16% 36% 6% 35% 7% 2010 13% 36% 11% 32% 8% 2009 9% 28% 11% 40% 12% 2002 13% 30% 13% 37% 7% 2000 16% 33% 7% 35% 9% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Auf jeden Fall Eher ja Keine Antwort Eher nein Auf keinen Fall Quelle: Umfragen des WZIOM vom 14.–15. Februar 2015, N = 1600. Veröffentlicht am 20. Februar 2015 unter: <http://wciom.ru/ index.php?id=459&uid=115157>
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