NR. 281 18.07.2014 russland- analysen http://www.laender-analysen.de/russland/ DER ZUSTAND DES SYSTEMS PUTIN 3.0 ■■VON DER REDAKTION На дачу – in die Sommerpause 2 ■■ANALYSE Konservative Gegenrevolution: Beleg für Russlands Stärke oder Schwäche? 2 Jadwiga Rogoża, Warschau ■■ANALYSE »Volk« und »Macht« Die schwache Verankerung des Systems Putin in der Gesellschaft 6 Hans-Henning Schroeder, Bremen ■■TABELLEN UND GRAFIKEN ZUM TEXT Zu welchem Politiker haben Sie Vertrauen? 10 Ergebnisse der Dumawahlen 1993–2011 10 ■■UMFRAGE Die innenpolitische Entwicklung in Umfragen 11 ■■RATING Die wichtigsten 50 russischen Politiker 15 ■■AUS RUSSISCHEN BLOGS Phantom des Imperiums 17 ■■NOTIZEN AUS MOSKAU Was hat der Kreml weiter mit der Ostukraine vor? 20 Jens Siegert, Moskau ■■UMFRAGE Die Entwicklung in der Ukraine in russischen Umfragen 22 Einstellungen zu anderen Ländern 23 Russland und die Länder der Welt 24 ■■CHRONIK 3. – 17. Juli 2014 27 Freie Universität Berlin ► Deutsche Gesellschaft Forschungsstelle Osteuropa Osteuropa-Institut für Osteuropakunde e.V. an der Universität Bremen Die Russland-Analysen werden unterstützt von RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 2 VON DER REDAKTION На дачу – in die Sommerpause Die Russland-Analysen machen im Juli und im August wie üblich Sommerpause. Die nächste Nummer – Russland- Analysen 282 – erscheint voraussichtlich am 25. September 2014. Geplant sind u. a. Ausgaben zu den Regionalwah- len am 18. September, zur Entwicklung der Zivilgesellschaft, zur russischen Wirtschaft sowie zu Medienfragen. Vorerst wünschen wir unseren Lesern aber erholsame Ferien. Die Russlandanalysen-Redaktion Christoph Laug, Sergey Medwedew, Matthias Neumann, Hartmut Schröder und Henning Schröder ANALYSE Konservative Gegenrevolution: Beleg für Russlands Stärke oder Schwäche? Jadwiga Rogoża, Warschau Zusammenfassung Nach der Annexion der Krim erscheint die Regierung Russlands stärker denn je. Die Unterstützung in der Be- völkerung für Putin ist drastisch in die Höhe geschossen, seine Opponenten sind auseinandergestoben oder zum Schweigen gebracht worden; seine Politik der harten Hand trifft kaum auf Widerstand. Dieser Beitrag untersucht die Kosten, die Russland für die politische »Stabilität« und die geopolitischen Erfolge des Kreml zu tragen hat. Autoritärer Wendepunkt Der Rest ist Geschichte, könnte man sagen: Mit der Mit der Annexion der Krim und dem weiteren Vorge- Entscheidung wurden die Maßnahmen zur Machterhal- hen in der Ukraine hat Russland ein neues Kapitel aufge- tung bestimmt. Der Kreml definierte die Ziele neu und schlagen, nicht nur in seiner Außenpolitik, sondern noch machte sich an deren Umsetzung. Vordringlichstes Ziel grundlegender in seiner innenpolitischen Entwicklung. war es, der Gefahr von Unruhe entgegenzuwirken, die Dennoch markierte das Jahr 2011 den Wendepunkt, der bei den aktiven, städtischen Bevölkerungsgruppen und die aktuelle Entwicklung bestimmte. Eine kleine Gruppe einigen der Eliten (bei einem Teil der staatlichen Büro- von Entscheidungsträgern hatte da eine strategische Wahl kratie und bestimmten Unternehmerkreisen) zu Tage zur Natur der Führung Russlands getroffen. Durch den getreten war. Für diese war Putins Rückkehr ein Sym- Verzicht auf eine Wiederwahl Medwedews verwarfen bol für wirtschaftliche Stagnation, politische Restriktion, die Machthaber ein »evolutionäres« Szenario, das viele einen wachsenden Einfluss der Sicherheitsbehörden und Merkmale des Putinschen Modells bewahrt, aber auch eine Unsicherheit bei der Garantie von Eigentumsrech- die Möglichkeit für eine kontrollierte und schrittweise ten, was sie dem Staat gegenüber weiterhin verwundbar Dezentralisierung der Macht zugunsten unterschiedli- machte. Putin begegnete den Anzeichen, dass man sei- cher Gruppen innerhalb der Elite geboten hätte. Stattdes- ner Herrschaft müde war und Unzufriedenheit äußerte, sen entschied man sich für das »konservative« Szenario mit einer Reihe von harschen politischen Maßnahmen in Gestalt von Putins Rückkehr auf den Präsidentenses- sowie politischen und sozialen Restriktionen (die sich sel. Diese Entscheidung hat dazu geführt, dass ein ein- bis in den Bereich des Privatlebens und der Moralnor- ziges Entscheidungszentrum formal wiederhergestellt men erstrecken), mit einem antiwestlichen und konser- wurde, eine Rezentralisierung der Macht auf föderaler vativen Aufwall, und mit aggressiver Expansion bei der wie auch regionaler Ebene erfolgte und eine Welle von Verteidigung dessen, was Russland als seine Zone pri- Maßnahmen getroffen wurde, die Reformen zuwiderlau- vilegierter Interessen definiert. fen. Putins Rückkehr war mehr als nur ein Stühlerücken, bei dem die offensichtliche und unbestrittene Führungsfi- Putin 3.0 – besondere Merkmale gur den angestammten Posten wieder übernimmt. Es war Putins gegenwärtiges Modell der Regierungsführung ist eine strategische Entscheidung der herrschenden Gruppe nicht gänzlich neu, und es ist weitgehend eine Fortset- über die zukünftige Entwicklung Russlands. zung des Systems, das er in den 2000er Jahren entwickelt RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 3 hatte. Vor dem sich wandelnden politischen und sozia- rigen Geschäftspartner, von denen die meisten einen len Hintergrund sind einige neue Elemente entstanden. KGB haben. Zu den einflussreichsten Genossen gehören Die wichtigsten sind eine zunehmende Personalisierung die Spitzenvertreter der Präsidialadministration Sergej der Kreml-Politik, eine Zuspitzung und Ausweitung der Iwanow, Wjatscheslaw Wolodin und Jewgenij Schkolow, repressiven Maßnahmen und der Staat eines konserva- der stellvertretende Ministerpräsident Dmitrij Rogo- tiven Ideologie-Projekts, das mit den moralischen Res- sin, Rosneft-Chef Igor Setschin, der Vorsitzende des triktionen und der vehementen antiwestlichen Ausrich- Strafverfolgungskomitees Alexander Bastrykin sowie tung korrespondiert. die Chefs von Staatskorporationen bzw. –unterneh- Putins Regierungsmodell hat stets eine Personali- men Wladimir Jakunin (Russische Eisenbahnen) und sierung der Macht bevorzugt auf Kosten eines Aufbaus Sergej Tschemesow (Rostech). Zu nennen sind auch dauerhafter Institutionen. Der Grad der Personalisie- Jurij Kowaltschuk, Gennadij Timtschenko und Arka- rung nimmt allerdings sichtlich zu. Was einst ein kollek- dij Rotenberg, Privatunternehmer, die mit Putins Unter- tiver Lenkungsstil a la »Putin und sein Politbüro« gewe- stützung ein Vermögen gemacht haben. Wenn auch sen war, wird zunehmend zu einem »Putin gegen den einige dieser Personen kein staatliches Amt bekleiden, Rest der Welt«. Putins Kreml tritt nun einem Teil der sind ihre Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungen eigenen Unterstützerbasis entgegen, insbesondere jenen, des Staates enorm. Ein Beispiel ist Schkolow, ein wenig die eine liberaler ausgerichtete Politik erwartet, und bekannter Funktionär, dem die delikate Mission anver- damit Putin in dessen Augen »verraten« hatten. Anstelle traut wurde, das Vermögen und die Deals der Elite zu eines »erkauften Loyalität« wie in den 2000er Jahren überwachen. Die »Tauben«, die einst Schlüsselfiguren ging Putin zu einer »erzwungenen Loyalität«. Er änderte in Putins Mannschaft waren, sind in die Defensive: Pro- die Mechanismen zur Lenkung der Eliten von Anreizen minente wie Ministerpräsident Dmitrij Medwedew, der (Verteilung von Vermögen und Posten, Gewährung von ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin und der stell- Immunität) zu negativen Sanktionen (Machtdemonstra- vertretende Ministerpräsident Dmitrij Kosak, der Chef tion und selektive Strafen zur Verbesserung von Kon- der Sberbank German Gref und andere Unternehmer, trolle und Disziplin). Er hat eine Politik begonnen, die Diplomaten und bestimmte Kabinettsmitglieder. mit »Nationalisierung der Eliten« betitelt wurde und zu einer strengeren Kontrolle von Vermögen im Ausland, Konservative Stützen des politischen das von Amtsträgern besessen wird sowie von deren Modells Tätigkeit dort; das sollte deren Abhängigkeit vom Kreml Eine weitere Neuerung während Putins dritter Amtszeit erhöhen. Zu dieser Kampagne gehörten auch gegen ein- ist der Aufschwung konservativer Ideen in der Rhetorik flussreiche Mitglieder der Staatsverwaltung gerichtete Moskaus, die sowohl ins Inland wie auch ins Ausland Korruptionsskandale sowie die Schaffung einer Daten- gerichtet sind. Die Rhetorik ist nun reich an Referen- bank von »kompromat« (kompromittierenden Materia- zen an russische nationale Traditionen, den orthodoxen lien), die von Beratern des Präsidenten angelegt wurde Glauben und eine moralische Bestimmung der »Russi- und Auflistungen über den Besitz, den die Betroffenen schen Welt« die den westlichen Gesellschaften gegen- in Russland und im Ausland haben. Putin betont auch über, denen wegen ihres »moralischen Verfalls« ein Nie- gern seinen Status als wichtigster Entscheider, der will- dergang attestiert wird, überlegen sei. Der Westen wird kürlich und oft unberechenbar handelt. Zu den jüngs- als Aggressor gesehen, der in Russlands Interessensphäre ten Beispielen willkürlicher Entscheidung gehören die vordringt, und als Quelle alternativer politischer und gegen die Eliten gerichteten Regelungen, einige außen- bürgerlicher Werte. Wenn auch moralische Begrifflich- politische Entscheidungen, die eine Überraschung für keiten in dieser Rhetorik überwiegen, besteht das Rück- das Außenministerium bedeuteten, und die plötzliche grat in Wirklichkeit in einer Opposition zum westlichen Freilassung von Michail Chodorkowskij. Regierungsmodell und den Beziehungen zwischen Staat Wegen des zunehmenden Misstrauens gegenüber und Gesellschaft dort. seiner politischen Basis hat Putin Veränderung in sei- Während in der Mentalität der herrschenden Gruppe ner engsten Umgebung vorgenommen, wobei er Leute in Russland (die noch aus deren KGB-Vergangenheit mit KGB-Hintergrund und willfährige Erfüllungsge- herrührt) antiwestliche Ansichten tief verwurzelt sind, hilfen für seine repressive Politik förderte. Solche Men- sollten die konservativen Werte, die sie vertreten, nicht schen hatten stets zu seiner Mannschaft gehört, aber als Abbild ihrer echten Ansichten oder Grundideolo- auch einem Gegengewicht durch andere Gruppen mit gie behandelt werden. Vielmehr ist der Konservatismus liberaleren Haltungen gegenübergestanden. Derweil zu einem politischen Projekt geworden, das aktuellen umfasst Putins engster und vertrautester Kreis über- Zielen dienen soll, also einer ideologischen Unterfüt- wiegend »falkenartige« Funktionäre und seine langjäh- terung für Putins Herrschaftssystem. Es ist also mit RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 4 anderen Worten das Ziel, ein (post)sowjetisches Herr- Moldaus und Georgiens vorgegangen, Assoziierungsab- schaftsmodell zu bewahren (»konservieren«), eines, das kommen mit der EU zu unterzeichnen. Überaus wert- von oben nach unten ausgerichtet ist, mit einer klaren volle Unterstützung bei der externen Propagierung Grenze zwischen Herrschenden und Beherrschten und von Putins konservativem Projekt leisteten das Fernse- mit einer zentralisierten und personalisierten Macht, die hen von Russia Today und Soft Power-Organisationen der Gesellschaft gegenüber nicht verantwortlich ist. Die (»Russkij Mir«, »Rossotrudnitschestwo« und verschie- von Putin propagierte Vision ist weniger als »konserva- dene orthodoxe Organisationen, etwa die St. Andreas- tiv« zu bezeichnen, sondern eher »reaktionär« und »rück- Stiftung). Putin präsentierte Russland (und sich selbst) wärtsgewandt«. Die Maßnahmen, die unter dem Banner als einzige Verteidiger »heiliger, konservativer« Werte, des Konservatismus laufen im Kern auf eine Beschnei- die durch den moralischen Verfall und die doppelten dung der bürgerlichen Freiheiten hinaus. Die Gesetze, Standards des Westen gefährdet seien. Putins Rhetorik die das Parlament nach Absegnung durch den Kreml rief überraschenderweise in rechten Kreisen des Westens, verabschiedet hat, stellen verschieden Formen politi- darunter bei Pat Buchanan, der Anführerin der fran- scher und sozialer Aktivität unter Strafe, schnüren den zösischen Rechtsextremen, Marine LePen, der rechtsex- Griff des Staates um das Internet und die Meinungs- tremen NPD in Deutschland und sogar bei polnischen freiheit enger, verstärken die Kontrolle über Bürgerini- »Radikalliberalen« wie Janusz Korwin-Mikke Begeis- tiativen (NGOs) und stellen »unmoralische Handlun- terung hervor. gen« und eine »Verletzung der Gefühle von Gläubigen« unter Strafe. Die Krise als Verstärker: Der Fall der Krim Der Einsatz von Ideologie zu politischen Zwecken Die strategische Entscheidung, das System »einzufrie- ist in Russland nichts Neues; der Begriff der »souverä- ren« erhöhte die Gefahr einer Stagnation, da die Wirt- nen Demokratie«, der von Wladislaw Surkow Mitte schaft politisiert und ineffizient bleibt, und die aktivsten der 2000er ersonnen wurde, ist ein markantes Beispiel und innovativsten Bevölkerungsgruppen mit zehllo- für solche Taktiken aus der Vergangenheit. Diesmal ist sen Restriktionen überzieht. Obwohl Putin selbst ein- der antiwestliche Ton von wiederholten Referenzen an geräumt hat, dass das rohstofforientierte Wirtschafts- konservative Werte durchzogen. Die begannen unge- modell Russlands sich erschöpft hat, bot seine Politik fähr seit 2011 in Putins Reden aufzutauchen, vor sei- keinerlei Alternative an. Durch das Verwerfen eines ner Rückkehr als Präsident und als Reaktion auf die »Entwicklungs-Szenarios« musste der Kreml zu »Not- sozialen Veränderungen, die Russland erschütterten. In Szenarien« Zuflucht nehmen, um die Nation zu mobili- dieser Zeit begannen Angehörige der urbanen Mittel- sieren und sie um den Herrscher herum zu konsolidieren. schicht (auch einige Angestellte der staatlichen Verwal- Für Putin war das nicht die schlechteste Lösung. Über tung), das bestehende autoritäre Staatsmodell in Frage seine gesamte Regentschaft hinweg waren es »Notfälle« zu stellen. Die Unzufriedenheit erreichte während der unterschiedlicher Art, die seine Popularität am stärksten massenhaften Straßenproteste um den Jahreswechsel hochschnellen ließen. Er hatte 1999, nach den Bomben- 2011/2012 ihren Höhepunkt. Ein zentrales Element anschlägen auf Wohngebäude in Moskau und Wolgo- der repressiven Politik, die als Antwort verfolgt wurde, donsk und dem Militäreinsatz in Tschetschenien einen war konservative und antiwestliche Rhetorik mit dem schnellen politischen Aufstieg erlebt. Seine Umfrage- Zweck, Andersdenkende zu stigmatisieren. In seinen werte erreichten 2008 während des Krieges mit Georgien öffentlichen Reden brandmarkt Putin seine Gegner als mit 88 % einen Höhepunkt, der 2014 nach der Anne- »fünfte Kolonne« des Westerns, »Nationalverräter« und xion der Krim mit 86 % (Umfragen des Lewada-Zen- »ausländische Agenten«, alles vor dem Hintergrund der trums) fast wieder erreicht wurde. »verfallenden Moral« des Westens. Putin trennte somit Die Annexion der Krim im März 2014 wurde zu symbolhaft die »gesunde und konservative« Mehrheit einer der »meistgefeierten Erfolgsgeschichten« Russlands der russischen Gesellschaft von einer entfremdeten »kos- unter Putin. Die Annexion, die so plötzlich und uner- mopolitischen« Minderheit, die angeblich im Interesse wartet erfolgte, passte perfekt auf die neue Bühne der des Westens handelt. russischen Staatswerdung und der aggressiven Gewähr- Was 2011/2012 als defensives, gegen den »liberalen leistung der Kontrolle über Russlands »privilegierte Inte- Aufruhr« gerichtetes Projekt begann, entwickelte sich ressenssphären«. Auf kurze Sicht bedeutete die Annexion bis 2013/2014 zu einer offensives Unternehmen. Kon- der Krim einen mächtigen Schwung: Sie hat nicht nur servative Rhetorik wurde zum Instrument bei Moskaus Putins Umfragewerte befördert, sondern versorgte ihn diplomatischer Offensive, die das Vorgehen des Wes- mit einem Blankoscheck für einen weiteren autoritären tens in Syrien und im postsowjetischen Raum zum Ziel Staatsaufbau. Diese Unterstützung durch eine »überwäl- hatte; insbesondere wurde gegen die Pläne der Ukraine, tigende« Mehrheit wird als ausreichende Begründung RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 5 behandelt, die Schrauben fester anzuziehen. Oppositi- langsam gegen Putin, von dem gesagt wird er habe die onsaktivisten sehen sich zusätzlichen Verfolgungen aus- Menschen dort alleingelassen und verraten. In Dnepro- gesetzt (insbesondere Alexej Nawalnyj und seine Verbün- petrowsk und Odessa, Städten, die sich nie einer star- deten), es werden eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, ken ukrainischen Identität rühmten, hat die militärische die sich gegen Blogger und globale Internetunternehmen Aggression einen Aufschwung von proukrainischem richten, bei mehrfacher Staatsbürgerschaft und Zahlung Patriotismus und antirussischen Haltungen stimuliert. per Internet wird die Kontrolle verschärft, und Gesetze Die weitere Entwicklung in der Ukraine könnte sehr zu Extremismus und Gotteslästerung werden mit Blick wohl für Russland Herausforderungen mit sich bringen, auf politische Opponenten entworfen. Diese konzen- die dessen Krim-Sieg wettmachen würden. trierte Unterdrückung hat Putins liberale Opponenten in Verwirrung gestürzt, sie wurden versprengt und zum Entwicklung oder Stabilität ? Schweigen gebracht; viele wurden ihres Einkommens Putins Herrschaftsmodell mag zwar der Entwicklung beraubt, da ihre Projekte und Medien geschlossen wur- des Landes nicht dienlich sein, aber es fördert die Dauer- den. Viele prominente Figuren haben Russland verlas- haftigkeit seines Regimes. Man könnte sogar sagen, dass sen, bekannte Journalisten, NGO-Ativisten, Geschäfts- die schnelle Wirtschaftsentwicklung Putin einen üblen leute und Experten. Diese Emigration ist als »Emigration Streich gespielt. Sie ließ soziale Gruppen aufsteigen, die der Desillusionierten« bezeichnet worden, von denen nach der Befriedigung ihrer grundlegenden ökonomi- die meisten in die Ukraine zogen und Kiew zur neuen schen Bedürfnisse höhere, nicht ökonomische Erwar- Hauptstadt der russischen Opposition gemacht haben. tungen entwickelten, die nicht zum Putinschen Staats- Die russische Hauptstadt Moskau blieb zurück, um modell passten. Diese Gruppen waren dann für den Zeuge von Putins scheinbarem Triumpf zu werden, den Kreml die eigentlichen Unruhestifter, nicht die äremere kaum jemand in Frage stellt. Mehrheit, die Schwierigkeiten gewöhnt ist und geduldig abwartet, bis die harten Zeiten vorbei sind. Trotz Erklä- Tönerne Füße? rungen, dass die Leute zu Protesten bereit sind, wenn Die Annexion der Krim und die Eindämmung der sich die Lage verschlechtert, hat es keine Massendemons- Unzufriedenheit haben die Unterstützung für die der- trationen gegeben, die durch wirtschaftliche Schwierig- zeitigen Machthaber steigen lassen und sie haben zu keiten getrieben waren, nicht einmal während der Krise einer Stabilisierung ihrer Herrschaft beigetragen. Diese von 2008/2009. Es scheint, als würden wirtschaftlich Maßnahmen werden aber die ungelösten und sich wei- harte Zeiten als destabilisierender Faktor oft überschätzt. terhin akkumulierenden systemimmanenten Probleme Proteste dieser Art könnten erfolgen, wenn der Ölpreis der Wirtschaft nur vorübergehend verdecken können. fällt, doch ist das seit Jahren nicht geschehen, trotz zahl- Fossile Rohstoffe machen einen zunehmenden Anteil reicher Vorhersagen, dass der Ölmarkt übersättigt sei. der Haushaltseinnahmen aus, ausländische Direktin- Politische und wirtschaftliche Stagnation stehen vestitionen sind auf 40 Prozent des Niveaus von 2013 auf Putins gegenwärtiger Agenda und werden als ein gefallen und die Kapitalflucht hat sich verdoppelt. Ein Weg betrachtet, auf dem die eigene Macht so lang wie drastischer, schwieriger abzuschätzender Verlust ist die möglich zu bewahren wäre. Wenn es auch rückwärts Emigration innovativster Personen, die treibende Kräfte gerichtet sein mag –das System hat auch seine Sicher- einer Modernisierung hätten sein können, falls ihnen heitsvorteile: gesellschaftliche Trägheit, versprengte ausreichend Freiheit gegeben ist. Opponenten und stabile Preise auf fossile Rohstoffe. Die außenpolitischen Erfolge Russlands sind mehr Das System ist offensichtlich anfällig für Probleme und als zweifelhaft. Die anfängliche Krim-Euphorie macht wird sich wohl vielen Herausforderungen gegenüber Befürchtungen und ersten Anzeichen von Unzufrie- sehen, doch seine zunehmende Verschlossenheit und denheit mit der neuen strengen Realität Platz. Viele Geheimhaltung sowie die Unberechenbarkeit machen Bewohner der Krim haben ihre Einkommensgrund- es schwierig, den entscheidenden Faktor zu diagnostizie- lage verloren, weil die Tourismusbranche mit den durch ren, der schließlich den Wandel bringt. Eines ist sicher: die Annexion verursachten Problemen zu kämpfen hat. Wenn ihre Macht bedroht wird, werden die Entschei- Darüber hinaus bewirken die russischen Gesetze, die dungsträger an der Spitze jedes Mittel einsetzen, diese nun auf der Halbinsel gelten, dass Gesellschaft und zu verteidigen. In ein paar Jahren könnte eine weitere Unternehmer sehr viel ungeschützter gegen staatlichen »Krim« vonnöten sein. Was wird das dann sein? Raub sind, als noch unter den ukrainischen Gesetzen. Übersetzung: Hartmut Schröder Hinzu kommt, dass Russland den Propagandakrieg in Informationen über die Autorin und Lesetipps finden Sie der Ostukraine allmählich zu verlieren scheint: Die auf der nächsten Seite. Stimmungen in Donetsk und Luhansk wenden sich so RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 6 Über die Autorin Jadwiga Rogoża ist Senior Fellow in der Russlandabteilung des Zentrums für Oststudien (OSW) in Warschau. Lesetipps • Greene, Samuel, Graeme B. Robertson: Identity, Nationalism, and the Limits of Liberalism in Russian Popular Politics [=PONARS Eurasia Policy Memo Nr. 323], Juni 2014 <http://www.ponarseurasia.org/sites/default/files/ policy-memos-pdf/Pepm323_GreeneRobertson_June2014.pdf> • Petrov, N., M. Lipman, H. E. Hale: Three dilemmas of hybrid regime governance: Russia from Putin to Putin, in: Post-Soviet Affairs, 30.2014, Nr. 1, S. 1–26. • Rogoża, Jadwiga: Federation without federalism. Relations between Moscow and the regions [=OSW Studies 49], April 2014; <http://www.osw.waw.pl/sites/default/files/ang_prace_49_federacja_bez_net.pdf> • Rogoża, Jadwiga: In Putin’s Shadow. Dmitry Medvedev’s presidency [=OSW Policy briefs 2011, No 25], 30.11.2011; <http://www.osw.waw.pl/sites/default/files/policybriefs26.pdf> • Rogoża, Jadwiga: ‘The Power Gained, We Will Never Surrender’. Russian ruling elite versus the succession and economic crisis [OSW Policy Briefs 19], Oktober 2009 <http://osw.waw.pl/files/PUNKTWIDZENIA19.pdf> • Shevtsova, Lilia: The Putin Doctrine: Myth, Provocation, Blackmail, or the Real Deal? When it comes to explaining Russia’s Ukrainian adventurism, the West has attempted to hide behind a wall of myths and hope its problems will just go away, in: The American Interest, 14. April 2014; <http://www.the-american-interest.com/articles/2014/04/14/ the-putin-doctrine-myth-provocation-blackmail-or-the-real-deal/> ANALYSE »Volk« und »Macht« Die schwache Verankerung des Systems Putin in der Gesellschaft Hans-Henning Schroeder, Bremen Zusammenfassung Das System Putin basiert auf Konsens. Die Führung setzt auf Akzeptanz durch die Bevölkerung und organi- siert sich durch Wahlen immer wieder Legitimität. Doch dieses politische Arrangement ist fragil. Dem Re- gime ist es nicht gelungen, die Bevölkerung über eine Massenpartei oder durch ein funktionierendes Mehr- parteiensystem in den politischen Prozess einzubinden. Immerhin wurde durch Aufbau einer Vertikale der Macht sichergestellt, dass die politische Kontrolle fest in den Händen der Eliten liegt. Die Akzeptanz des Regimes durch die Bevölkerung ist in der Vergangenheit vor allem über Personali- sierung erreicht worden: Präsident Putin fungierte über lange Jahre als Identifikationsfigur. Seit der Finanz- krise 2008 verliert die PR-Figur Putin aber an Strahlkraft. Die patriotische Welle nach der Eingliederung der Krim hat das Regime wieder stabilisiert. Doch dies beseitigt nicht die strukturellen Defizite des Systems Putin. Und wenn es nicht gelingt, die Akzeptanz durch die Bevölkerung zu erhalten, dann ist auch denk- bar, dass das Regime stärker zu repressiven Methoden greift. Ein Anschein von Demokratie Insofern kann man das politische System der Putin- Herrschaft basiert im heutigen Russland auf Konsens. und der Medwedew-Ära als eine Form elektoralen Auto- Gewiss werden von »der Macht« – der Obrigkeit, dem ritarismus bezeichnen – ein System, das die Herrschaft politischem Establishment – gegen Gegner und Konkur- der Führungsgruppe sichert, indem es ihr Legitimation renten mitunter auch repressive Mittel eingesetzt, doch durch Wahlen verschafft, die Wahlen aber so eingerich- beruht das System im Kern auf der Akzeptanz der Füh- tet werdem, dass der Ausgang zugunsten der »Macht« rungsgruppe durch die Mehrheit der Bevölkerung, einer gewährleistet ist. Wie es ein Politologe formuliert hat: Akzeptanz, die die Führung immer wieder neu erwer- »Elektoraler Autoritarismus ist ein System, in dem ben und in Wahlen bestätigen lassen muss. Oppositionsparteien Wahlen verlieren«. Zur Sicherung RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 7 des Wahlerfolgs steht den Eliten eine Vielzahl gesetz- ker und Finanzjongleur Boris Beresowskij im Septem- licher und ungesetzlicher Kunstgriffe zur Verfügung, ber 1999 gründete, um den neuernannten Ministerprä- mit denen sie politische Konkurrenz ausschalten kann. sidenten Wladimir Putin eine Basis in der Duma zu Allerdings geht die Führung damit stets ein gewisses verschaffen, hatte Erfolg und verzeichnete vier Monate Risiko ein. Greift sie zu stark in den Wahlprozess ein, nach ihrer Gründung immerhin einen Stimmenanteil macht sie das gesamte Verfahren unglaubwürdig und von 23,3 %. Doch erst die Zusammenlegung dieser Par- verliert die Legitimation, wie es bei der Dumawahl im tei mit der Gegengründung »Vaterland – Ganz Russland« Dezember 2011 der Fall war. Lässt sie der gesellschaft- zur Partei »Einiges Russland« schuf einen Mehrheits- lichen Willensbildung freie Hand, besteht die Gefahr, block, der die Regierung wirksam in der Duma unter- dass sich oppositionelle Kräfte durchsetzen, wie dies teil- stützen konnte. Die Reform der Parteiengesetzgebung weise bei den Regionalwahlen im Herbst 2013 geschah. 2004 und die Wahlreform 2005 führten dann zu einer Die »Lenkung« der Gesellschaft kann sich aber Konsolidierung des Regimes, da nur noch die System- nicht nur auf die Zeit der Wahlen beschränken. Die parteien – neben »Einiges Russland« die Kommunisten »Macht«– die »wlast« – muss kontinuierlich mit dem und die Liberaldemokraten Shirinowskijs) die Chance »Volk« (»narod«) kommunizieren, um gesellschaftliche hatten, sich bei Wahlen durchzusetzen. Stimmungen aufzunehmen, politische Probleme und Es war Wladislaw Surkow, der langjährige Stellver- soziale Spannungen rechtzeitig zu erkennen. Sie muss tretende Leiter der Präsidialadministration, der diese Führungspersonal rekrutieren, politische Strategien for- Konstruktion erdacht hatte und sie über lange Jahre mulieren, kurz, sie muss »Politik machen«, wenn sie Staat erfolgreich handhabte. Sein Versuch, neben der Partei und Bevölkerung sicher kontrollieren will. Die Stabi- rechts der Mitte (»Einiges Russland«) auch eine links lität des Systems hängt von der Fähigkeit der Führung der Mitte zu erschaffen, die Partei »Gerechtes Russland«, ab, die Bevölkerung einzubinden, die Gesellschaft und und so eine funktionierende Zwei-Parteien-Demokra- das politische System zu integrieren. tie zu simulieren, hatte allerdings keinen Erfolg, da die Wähler »Gerechtes Russland« nicht annahmen: Bei den Institutionen: Parteien und Volksfront ersten Wahlen, zu denen die Partei antrat, erreichte sie In parlamentarischen Demokratien westlichen Typs lediglich 7,8 %. sind es gewöhnlich Parteien und Verbände, die die Bis auf die Kommunistische Partei der Russischen Interessen gesellschaftlicher Gruppen aggregieren, for- Föderation (KPRF) waren alle diese Parteien Kopfge- mulieren und sie in der Parlaments- und Regierungs- burten. Sie entstanden nicht von unten, sondern wur- arbeit in Politik umsetzen. Auch Russland verfügt mit den am grünen Tisch erdacht. Viele Parteien hatten nur der Duma, dem Föderationsrat und der Gesellschafts- wenige Mitglieder und waren außerhalb der Hauptstadt kammer sowie mit den regionalen Parlamenten über nicht präsent. Erst das Parteiengesetz von 2004 zwang Gremien, die eigentlich dafür vorgesehen sind, eine die Parteien, eine bestimmte Mitgliederzahl (50.000) institutionelle Verbindung zwischen Gesellschaft und nachzuweisen und regionale Strukturen aufzubauen. In Politik herzustellen. Tatsächlich aber ist das Vertrauen diesem Kontext bezifferte »Einiges Russland« seine Mit- der Öffentlichkeit in Parlamente, Parteien oder Abge- gliedschaft auf 2 Mio. (1,4 % der Bevölkerung). Aller- ordnete gering. Die Parlamente spielen im politischen dings konnte die Organisation im Zentrum und in den Prozess eher eine untergeordnete Rolle. Und trotz meh- Regionen auf massive Unterstützung durch die Macht- rerer Anläufe ist es bisher nicht gelungen, ein Partei- haber rechnen. Die Mitgliederzahlen anderer Parteien ensystem zu etablieren, das in der Gesellschaft breit waren niedriger: »Gerechtes Russland« gab 414.000 Mit- verankert wäre. glieder an (0,3 % der Bevölkerung), die KPRF und Shi- Betrachtet man die Ergebnisse der Dumawahlen von rinowskijs Liberaldemokraten 150.000 bzw. 180.000. 1993 bis 2011 [vgl. Grafik 2 und Tabelle 1 auf S.10/11], Insgesamt waren etwa 2–3 % der russischen Bevölke- dann wird deutlich, dass sich über lange Jahre keine rung in einer der Parteien registriert. Partei oder Parteienkoalition durchsetzen konnte. Ver- Vergleicht man das mit der Sowjetzeit, dann wird schiedene Versuche, eine Regierungspartei zu etablie- deutlich, dass die Erfassung der Bevölkerung nicht hoch ren, scheiterten. Die Reformpartei »Russlands Wahl«, ist. Die KPdSU hatte in den 1980er Jahren in der RSFSR, an deren Spitze der Wirtschaftsreformer Gajdar stand, der russischen Sowjetrepublik, etwa 6 % der Bevölke- erhielt bei den ersten Wahlen, bei denen sie antrat, rung in ihren Reihen. Hinzu kam noch der kommunis- gerade einmal 15,5 %. Die Partei »Unser Haus Russ- tische Jugendverband Komsomol, der Ende der 1970er land«, der Ministerpräsident Tschernomyrdin vorstand, Jahre etwa 60 % der Jugendlichen erfasste. Im Vergleich erreichte nicht einmal diesen Wert und geriet rasch in mit KPdSU und Komsomol sind politische Strukturen Vergessenheit. Erst die Partei »Einheit«, die der Politi- im heutigen Russland schwach entwickelt. RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 8 Zudem misstraut die überwiegende Mehrheit der neure und der Vorsitzenden der regionalen Parlamente Bevölkerung den Parteien – wohl ein Erbe der Sowjet- aus dem Föderationsrat sowie durch die Angleichung zeit. Man erwartet nichts Gutes von Ihnen und bringt der regionalen Gesetzgebung an die föderalen Normen sie mit Korruption und Misswirtschaft in Verbindung. wurde die Rolle des Zentrums wesentlich gestärkt. Das trifft insbesondere »Einiges Russland«, die »Partei Der nächste wichtige Schritt erfolgte im September der Macht«. Als Alexej Nawalnyj sie 2011 als »Partei der 2004, nach der Geiselnahme in Beslan. Die Direktwahl Gauner und Diebe« bezeichnete, war diese Charakteri- der Gouverneure wurde abgeschafft, sie wurden nun auf sierung alsbald in aller Munde. Dieses verheerende Image Vorschlag des Präsidenten von den regionalen Parlamen- war auch verantwortlich für das schlechte Abschneiden ten bestimmt. Damit wurde die eigenständige Rolle der der Partei bei den Dumawahlen 2011, das dann durch Regionen weiter beschnitten. Die Gouverneure waren – massive Fälschungen kaschiert werden sollte. und sind – vom guten Willen des Präsidenten abhängig. Angesichts des schlechten Images der Regierungspar- Zugleich sind sie das Bindeglied zwischen Zentrum und tei machte die Putinsche Führung im Mai 2011 den Ver- regionalen Eliten, sie sind verantwortlich für die soziale such, eine überparteiliche Organisation zu schaffen, die und ökonomische Entwicklung der Region und dafür, »Allrussische Volksfront« (ONF). Sie sollte neben »Eini- dass der Präsident und die »Partei der Macht« Wahlen ges Russland« und den anderen Dumaparteien auch gewinnen. Von Gouverneuren wird also verlangt, dass Unternehmerverbände, Jugendorganisationen, Vetera- sie ihre Region wirtschaftlich voranbringen, soziale Pro- nenvereinigungen, Frauenvereine u.ä. zusammenfas- bleme lösen und Wahlen gewinnen. Wahlerfolge erzielen sen. Russische Beobachter interpretierten dieses Projekt die Regionen in der Regel durch Einsatz »administra- sofort im Kontext der Präsidentenwahlen im März 2012. tiver Ressourcen«. Die Verwaltungen haben viele Mög- Nach ihrer Einschätzung ging es allein darum, eine lichkeiten, die Opposition zu behindern. Indem man breite Basis für die Wahl des Nachfolgers von Medwe- Parteien und Kandidaten der Opposition die Regis- dew zu schaffen, und die Distanz des Kandidaten (Putin) trierung verweigert, ihre Wahlveranstaltungen unter- zur ungeliebten »Partei der Macht« deutlich zu machen. bindet, Unternehmer, die die Opposition unterstützen, Doch das Projekt hatte keinen Erfolg. Ähnlich wie durch Steuerbehörden und Feuerpolizei überprüfen lässt, die russischen Parteien hat die ONF in der breiten oder Druck auf Verwaltungsangestellte ausübt, um sie Bevölkerung nicht Fuß gefasst. Daher fehlt in Russ- zu »ermutigen«, für die »Partei der Macht« zu stimmen, land nach wie vor eine institutionelle Verbindung zwi- kann man regional Wahlsiege garantieren. Insofern sind schen »Macht« und »Volk«. Das Regime verfügt nicht die Gouverneure ein unverzichtbarer Teil des elektora- über das Instrument einer Massenpartei, wie es sie in len Autoritarismus. der UdSSR gegeben hatte, es gibt aber auch kein funk- Am 18. September 2014 finden in 30 Föderations- tionierendes Mehrparteiensystem, das der Gesellschaft subjekten Direktwahlen für den Gouverneursposten politische Partizipation erlaubt. Das Defizit an Insti- statt, in dreien werden Gouverneure vom Regionalpar- tutionen stellt eine strukturelle Schwäche des Putin- lament gewählt. 19 Gouverneure sind vorzeitig zurück- schen Systems dar. getreten, um in ihrer Region am einheitlichen Wahltag im September Wahlen zu ermöglichen. 13 davon stellen Regionale Strukturen: die Vertikale der sich wieder zur Wahl. Offensichtlich wollen diese Gou- Macht verneure den Moment nutzen, in dem die von Patrio- Dieses institutionelle Defizit kann jedoch wenigstens tismus getragene Zustimmung zur Führung hoch ist, teilweise – soweit es um Sicherung der Herrschafts und um die eigene Wiederwahl durchzusetzen. Das Zen- die Erzeugung von Wahlerfolgen geht – über die Inte- trum wiederum ist daran interessiert, in den nächsten gration der regionalen Eliten und der regionalen Ver- Jahren, in denen die wirtschaftlichen und sozialen Pro- waltungen in das System der »Macht« kompensiert wer- bleme möglicherweise zunehmen und die Stimmung der den. Über die »Vertikale der Macht«, die Schaffung von Bevölkerung sich gegen die Führung wenden könnte, Strukturen, die es der Führung in Moskau erlaubte, die mit einem stabilen Bestand an Kadern zu regieren, und Politik bis hinunter in die Regionen und Kommunen zu die Irritationen regionaler Wahlkämpfe zu vermeiden. kontrollieren. Diese Absicht war bereits bei der Regio- Die »Vertikale der Macht« scheint in der Tat eine nalreform in der ersten Amtszeit Putin deutlich gewor- ihrer Funktionen zu erfüllen – sie garantiert dem Zen- den, als die Beziehungen zwischen Zentrum und Regio- trum den Zugriff bis hinunter in die Regionen und nen neu geordnet wurden. Durch die Einrichtung von sichert die Loyalität der regionalen Eliten. Die massiven Föderalbezirken, an deren Spitze Bevollmächtigte des Probleme einiger Regionen kann aber offenbar auch die Präsidenten standen, die die Entwicklung in den Regio- Machtvertikale nicht lösen. Die Putin-Administration nen beaufsichtigten, durch die Entfernung der Gouver- reagiert dabei bürokratisch: Sie richtet regionale Minis- RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 9 terien ein. Neben dem seit den neunziger Jahren beste- institutionalisierten Konsens zu schaffen. Doch sind in henden Ministerium für Regionalentwicklung wurden der Vergangenheit alle Reformversuche gescheitert. Dies drei Ministerien für spezifische Regionen eingerichtet erscheint umso problematischer, weil die Anziehungs- (Fernost, Nordkaukasus, Krim). Diese agieren neben kraft des PR-Projekts Putin seit der Finanzkrise 2008 und mit den Präsidialbevollmächtigten und den Gou- zurückgeht. Es ist kein katastrophaler Absturz der Ver- verneuren. Die Verdoppelung und Verdreifachung von trauenswerte, eher eine fortgesetzte Erosion, die auch Apparaten als Reaktion auf soziale und ökonomische durch die massiven Kampagnen während der Duma- Schwierigkeiten wirkt nicht sehr überzeugend. Sie zeigt, und Präsidentenwahlen 2011/2012 nicht zum Stillstand dass die »Vertikale der Macht« zwar die Kontrolle von gebracht werden konnte. oben gewährleistet, dass sie aber keine Antworten auf Damit gerät aber das System Putin selbst in Gefahr. regionale Strukturprobleme hat. Wenn Putin nicht mehr als Integrationsfigur wirkt – und bei kontinuierlichem Sinken der Zustimmungswerte ist Die Inszenierung des Präsidenten der Zeitpunkt absehbar, an dem Personenvertrauen die Angesichts der institutionellen Schwäche des politischen institutionellen Defizite nicht mehr kompensiert –, dann Systems, das zwar eine Interaktion zwischen Elitengrup- droht dem Regime der Verlust der gesellschaftlichen pen ermöglicht, die Masse der Bevölkerung aber nicht Akzeptanz – im extremsten Fall ein russischer »Maidan«. erreicht, mobilisiert das Regime das personale Element Alarmiert durch die politische Krise des Winters und inszeniert den Präsidenten als positive Identifikati- 2011/2012 suchte die Putin-Administration daher nach onsfigur. Die Rolle des anständigen, gesunden, kompe- Möglichkeiten, die Bevölkerungsmehrheit positiv anzu- tenten, unbestechlichen, ums Volk besorgten Präsiden- sprechen. Die Sanktionen, die die USA im Zusammen- ten wurde 1999 für Putin kreiert, um ihn als Gegenbild hang mit der Magnizkij-Liste erließen, boten einen zu Jelzin aufzubauen. Das funktionierte überraschend Anlass, das Feindbild »Westen« herauszustellen, die gut. Die von Polittechnologen geschaffene Kunstfigur Aktion der Punkband »Pussy Riot« in der Moskauer Putin wurde 1999 angenommen und konnte die Sym- Erlöserkathedrale, die die Mehrheit der Russen als pathien und das Vertrauen der Bevölkerung über acht Angriff auf die eigene Identität empfand, zeigten, dass Jahre hinweg konservieren. Dies war zum einen der Tat- man mit antiwestlichen und slawophilen Parolen Kon- sache geschuldet, dass die Führung ein Monopol auf sens erzeugen konnte. Das innenpolitische Klima der die elektronischen Medien und die Möglichkeit hatte, Jahre 2012/2013 war daher von dem Versuch bestimmt, die Figur des Präsidenten im ganzen Lande positiv dar- durch eine »rechte« Politik Mehrheiten für das Regime zustellen. Zum anderen spielte der rasante Anstieg der zu erzeugen. Diese Anstrengungen waren aber zunächst Ölpreise eine Rolle, der Russland einen Wirtschaftsauf- nicht von Erfolg gekrönt [vgl. Grafik 1 auf S. 10]. Erst schwung bescherte, der auch den allgemeinen Lebens- die patriotische Mobilisierung im Rahmen der Ukraine- standard verbesserte. Bis zum Juli 2008 bewegte sich Krise und die Annexion der Krim machten Putin wie- das Vertrauensrating Putin auf hohem Niveau [vgl. Gra- der zu der nationalen Integrationsfigur, die die Akzep- fik 1 auf S. 10]. Das erfolgreiche PR-Projekt Putin kom- tanz des Regimes durch die Bevölkerung sicherte. Doch pensierte die strukturellen Schwächen des politischen Personalisierung kann auf die Dauer die institutionel- Systems. Das auf eine Person ausgerichtete plebiszitäre len Defizite nicht wettmachen – zumal dann, wenn die Element des Regimes garantierte lange Zeit Stabilität Wirtschaft auf der Stelle tritt und Verbesserungen des und Wahlerfolge. Lebensstandards ausbleiben. Wenn das Regime aber von Dabei war sich der Führungskreis der strukturellen der Bevölkerungsmehrheit nicht mehr akzeptiert wird, Defizite des Systems durchaus bewusst. Die wiederhol- dann bleibt der Führungsgruppe zum Machterhalt nur ten Versuche, das Parteiensystem umzugestalten, die noch das Instrument der Repression. Damit wäre sie Wahlrechtsreform, die Ansätze zum Aufbau einer natio- endgültig in der Sackgasse angekommen. nalen Massenorganisation – all das sind Versuche, einen Über den Autor Prof. Dr. Hans-Henning Schröder lehrte am Osteuropa-Institut der FU Berlin Regionale Politikanalyse mit Schwerpunkt Osteuropa. Er ist der Herausgeber der Russland-Analysen, die er 2003 gemeinsam mit Heiko Pleines gegründet hat. RUSSLAND-ANALYSEN NR. 281, 18.07.2014 10 TABELLEN UND GRAFIKEN ZUM TEXT Zu welchem Politiker haben Sie Vertrauen? Grafik 1: Zu welchem Politiker haben Sie Vertrauen? (Popularitätswerte März 2000–2014 in den Umfragen des Lewada-Zentrums) 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Putin Medwedjew Schojgu S. Iwanow Zu keinem Nach den Angaben auf der Homepage des WZIOM www.wciom.ru bzw. www.levada.ru Ergebnisse der Dumawahlen 1993–2011 Grafik 2: Ergebnisse der Dumawahlen 1993, 1995, 1999, 2003, 2007 und 2011 (Parteilisten) 100% 80% 60% 40% 20% 0% 1993 1995 1999 2003 2007 2011 Jabloko Rußlands Wahl/SPS Frauen Rußlands Agrarpartei KPRF Unser Haus Russland Vaterland-Ganz Russland "Heimat" Einheit ("Bär")/Einiges Russland Gerechtes Russland LDPR PRES Demokratische Partei Rußlands Andere Parteien Gegen alle Nach: Kommersant, 21.12.1999, S. 1; <http://www.fci.ru/gd99/vb99_int/default.htm> vom 23.12.1999; Bjulleten Zentralnoj isbira- telnoj komissii Rossijskoj Federazii, 1994, No. 1 (12), S. 34–80; <http://www.izbirkom.ru/izbirkom_protokols/sx/page/protokol2>, 9.12.2003; <http://www.vybory.izbirkom.ru/region/region/izbirkom?action=show&root=1&tvd=100100028713304&vrn=10010 0028713299®ion=0&global=1&sub_region=0&prver=0&pronetvd=null&vibid=100100028713304&type=233>, 5.12.2011.
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