Iris Kempe Rußland am Wendepunkt Iris Kempe Rußland am Wendepunkt Analyse der Sozialpolitik von 1991 bis 1996 Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Hannelore Horn Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsoufnohme Kempe Iris: Ruf'>lond om Wendepunkt : Anolyse der Soziolpolitik von 1991 bis 1996 / Iris Kempe. Mit einem Geleitw. von Honnelore Horn. IDUV : Soziolwissenschoh) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1997 ISBN 978-3-8244-4268-3 ISBN 978-3-663-08934-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-08934-6 Alle Rechte vorbeholten ©Springer Fachmedien Wiesbaden 1997 UrsprUnglich erschienen bei Deutscher Universitdts-Verlog GmbH, Wiesboden, 1997 Lektorol: Moniko Mulhousen Dos Werk einschlief'>lich aller seiner Teile isi urheberrechtlich geschutzt. jede Verwertung ouf'>erholb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes isi ohne Zustimmung des Verloges unzu l.assig und strofbor. Dos gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verorbeitung in elektronischen Systemen. http://www.duv.de Gedruckt aui sdurefreiem Popier ISBN 978-3-8244-4268-3 Für Johannes Kempe, der mich lehrte, die Welt mit lachenden Augen zu sehen. Geleitwort Bei der vorliegenden Dissertation handelt es sich um eine Pionierarbeit zur aktuellen russi schen Sozialpolitik, ein Spezialgebiet, welches die auf Rußland bezogene Transformations forschung bislang nur am Rande oder weitgehend fragmentarisch behandelte. Es liegt jedoch auf der Hand, daß die politisch-gesellschaftliche Befriedigung des Landes und damit Zukunft Rußlands fundamental mit einer als gerecht empfundenen Lösung der sozialen Probleme ver knüpft ist. Dem Thema kommt daher höchste aktuelle politische Bedeutung zu. In der wissen schaftlichen Literatur wurde die Sozialpolitik der UdSSR und Rußlands als selbständiges Thema nur wenig erforscht. Infolgedessen konnte sich die Autorin kaum auf Vorarbeiten an derer Forscher stützen. So hatte sie nicht nur erstmals ein Konzept zu entwickeln, sondern auch entsprechende Primärquellen zusammenzutragen. Die Untersuchung ist zudem durch ihren Charakter als eine die laufende Politik begleiten de Forschungsarbeit charakterisiert, die nicht auf Vorbilder zurückgreifen konnte. Ihr beson derer Vorzug besteht darin, daß sie sowohl die zentrale wie auch -exemplarisch -die regio nale Ebene des Landes erfaßt. Weitgehend eingebettet in die Bedingungen ihres historischen und sozial-ökonomischen Umfeldes erweisen sich die wissenschaftlichen Befunde zur Ge samtsituation jüngster russischer Sozialpolitik weitestgehend als innovativ. Neben einer bis lang nicht vorhandenen konkreten Darstellung der wichtigsten, gegenwärtig institutiona lisierten sozialpolitischen Einrichtungen, erfaßt die Untersuchung das Renten- und Gesund heitswesen, die Sicherung bei Arbeitslosigkeit sowie die Sozialfürsorge. Es handelt sich also um die Analyse eines Doppelproblems, einerseits um die Transformation bereits existenter Sozialpolitik aus der Sowjetzeit, andererseits um die Lösung voller neuer, aus der Sowjetzeit offiziell nicht bekannter sozialpolitischer Probleme, wie beispielsweise die Sicherung bei Arbeitslosigkeit und weitestgehend auch die der Sozialfürsorge. Mit einer Fülle ein drucksvoller Beispiele angereichert, zeichnet die Verfasserin ein prägnantes und umfassendes Bild dieser Gesamtentwicklung und Ausgestaltung sowie des aktuellen Zustandes dieser Sozialdienste einschließlich ihrer institutionellen Strukturen, ihrer Funktionsweise, ihren finanziellen Möglichkeiten, ihren faktischen und rechtlichen Aktivitätsgrenzen usw. Eine umfassende Aufarbeitung innerrussischer Diskussion um sozialpolitische Reformen, zu denen es ebenfalls keine vergleichbare Untersuchung gibt, begleitet diese Befunde. Da die als höchst unzulänglich erkannten Leistungen ständiger Kritik der relativ wenigen Sachkenner unterliegen, vermittelt dieser Untersuchungsteil einen Überblick über das Spektrum konzep tioneller Optionen über Konfliktlinien zwischen staatlichen oder privaten Lösungen bzw. Mischformen. Eine weitere zentrale Fragestellung ist dem Verhältnis zwischen russischem politischem Zentrum (Föderationsebene) und den Regionen auf dem Gebiet des Sozialwesens gewidmet. Am Beispiel von vier ausgewählten Regionen werden deren sozialpolitische Aktivitäten ein- VIII Geleitwort gehend vorgestellt sowie untereinander und mit denen der Zentrale verglichen. Diese Analyse beleuchtet nicht nur die fundamentale Bedeutung der Regionen als Triebkräfte für sozialpoli tische Aktivitäten, sondern sie markiert auch den Spielraum der Regionen selbständiger Ge staltung. Er erweist sich als so erstaunlich weitreichend, daß in diesem Bereich von einem konsolidierten, kaum mehr revidierbaren Föderalismus auszugehen ist. Die empirisch beleg ten Chancen und Mechanismen für Aktivitäten regionaler politischer Einheiten machen die Schwäche bzw. Inaktivitäten des politischen Zentrums sichtbar. Sie beleuchten gleichzeitig Faktoren autonomer Entwicklung "von unten" und damit die fundamentale Bedeutung, die der regionalen Komponente für die Herausbildung zukünftiger politischer Systemformierung in Rußland zukommt. Die Abkehr von einem ineffizienten Zentralstaat bei gleichzeitiger Kon solidierung eines echten Föderalismus mit seinen prinzipiellen Demokratisierungspotentialen für die Zukunft Rußlands steht damit zur Debatte. Die Verfasserin dieser Untersuchung verbindet ihre empirische Befunde mit einer theoreti schen Einbindung. Sie geht der Frage nach, inwieweit Fragestellungen insbesondere der Sys temtheorie oder modernisierungstheoretische Ansätze analytische Hilfestellung vor allem für die Transformationsforschung sowie für das Verständnis von Transformationsprozessen in Rußland zu vermitteln vermögen. Dabei stellt sie den Stand der Forschung vor wie auch seine erheblichen Mängel. Sie legt die Nützlichkeit und Grenzen ausgewählter theoretischer Gene ralisierungen für die Analyse und den Erkenntnisgewinn einer Gesellschaft im Umbruch of fen, warnt aber gleichzeitig implizit vor vorschnellen Verallgemeinerungen. Besondere Be achtung verdienen die Befunde zur Rolle von Einzelpersonen in solchen Umbruchphasen. Ih ren politischen Aktivitäten mit ihrem daraus resultierenden Einfluß fällt dann offenbar ein wesentlich höheres Gewicht zu als in normalen Zeiten, ein Resultat, welches den Fragekata log zur Analyse von Transformationsgesellschaften bereichert. Bestätigt wird zudem die Zählebigkeit struktureller und personeller Kontinuitäten ungeachtet aller politischer Verände rungen. Die Arbeit stellt keine trockene Abhandlung dar. Die Neuartigkeiten ihrer Materialien und Befunde verleihen ihr Dynamik und macht sie für den Leser nicht nur gewinnbringend, son dern auch spannend trotz eines bisweilen komplizierten Aufbaus. Die gute Kenntnis des Lan des durch die Autorin sowie ihre Forschungserfahrungen vor Ort tun hier ihre Wirkung. Ihr Blick auf die Dinge kommt nicht aus der Ferne. Schließlich besitzt diese Untersuchung kein Gegenstück in der heute vorhandenen russischen wissenschaftlichen Literatur. Denjenigen Lesern, die sich für Rußland und die gegenwärtige Situation in diesem Lande interessieren, ist sie sehr zu empfehlen. Prof Dr. Hannelore Horn Prof Dr. Michal Reiman Vorwort Die Entscheidung für die Durchführung der vorliegenden Untersuchung durchzuführen war mit zahlreichen Wagnissen verbunden: Weder war zu Beginn der Arbeit klar, wie die weitere Entwicklung Rußlands verlaufen würde, noch konnten sichere Prognosen über die Durch führbarkeit der Materialerhebungen getroffen werden. Kontakte zu Entscheidungsträgern, Wissenschaftlern sowie der gut informierten Öffentlichkeit mußten vor allem in den Födera tionssubjekten erst gänzlich neu geknüpft werden. Zwischen Berlin, Moskau, Niznij Novgo rod, Perm', Vladimir und Ul'janovsk galt es eine Vielzahl wissenschaftlicher, aber auch or ganisatorischer und finanzieller Probleme zu bewältigen. Gerade bei schwierigen Fragen erwies sich fachliche und persönliche Unterstützung als besonders wichtig. Für das dabei aufgebrachte Engagement möchte ich an dieser Stelle meinen innigen Dank aussprechen. Für die wissenschaftliche Betreuung an der Freien Universität Berlin möchte ich meinen akademischen Lehrern Frau Prof. Dr. Hannelore Horn und Herrn Prof. Dr. Michal Reiman danken. Von unschätzbaren Wert waren auch die Hinweise von Frau Dr. Beate Ihme-Tuchel und Herrn Dr. Hans-Henning Schröder. Eingebettet war die Arbeit in die Diskussionszusam menhänge des Graduiertenkolleges "Die Umgestaltungsprozesse der gesellschaftlichen Sys teme in Ost- und Südosteuropa seit den 80er Jahren und ihre historischen Grundlagen" am Osteuropainstitut der Freien Universität Berlin. Nicht nur die jahrelange finanzielle Unter stützung durch das Evangelische Studienwerk, sondern auch die inhaltliche Auseinander setzung mit Herrn Prof. Dr. Manfred Faßler waren wichtige Voraussetzungen zum Gelingen der Arbeit. Im weiteren wurden die Forschungsaufenthalte in Rußland vom Deutschen Akade mischen Austauschdienst sowie vom Moskauer Regionalbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung fi nanziell und organisatorisch unterstützt. Meinen Dank möchte ich den zahlreichen russischen Interviewpartnern aussprechen, die mir in oftmals unkonventioneller Art ihre Zeit und Infor mationen zur Verfügung stellten. Insbesondere danke ich Herrn Dr. Eduard Klopov, Herrn Dr. Jurij Borko, Frau Tat'jana Jarygina, Frau Galina GiJ'man und Herrn Sergej Negenaov für ihre fachliche Unterstützung sowie Ala Nikolaevna für ihre Geduld beim Korrigieren des Rus sischen. All meinen Freunden, die die Arbeit unterstützt haben sowie meiner Mutter gilt mein besonderer Dank. Danken möchte ich auch Ursula Koch-Laugwitz, die der Arbeit in beson ders schwierigen und besonders innovativen Phasen auf die Sprünge half. Iris Kempe Inhaltsverzeichnis Geleitwort ............................................................................................................................... VII Vorwort ................................................................................................................................... IX Tabellenverzeichnis ............................................................................................................. XIV A. Einleitung ............................................................................................................................. 1 I. Die soziale Frage Rußlands ............................................................................................... 1 II. Der Zusammenhang zwischen Systemwechsel und sozialer Frage .................................. 7 III. Gegenstand und Zielsetzung der Untersuchung ............................................................ 21 B. Rußland am Wendepunkt: Die soziale Frage ................................................................. 30 1. Soziale Sicherung als Resultat von Konflikten ............................................................... 30 1. Bedingungen zur Einführung sozialer Sicherung in Rußland ..................................... 30 2. Prägende Konflikte in der Rußländischen Föderation ................................................ 34 2.1 Die ungeklärte Horizontale .................................................................................. 34 2.1.1 Der Aufbau einer sozialstaatlichen Exekutive ............................................ 34 2.1.2. Institutionelle Doppelungen ...................................................................... 37 2.2 Der ungeklärte Föderalismus ............................................................................... 39 2.2.1 Regionale Differenzierungsprozesse .......................................................... 45 a) Das Niznij Novgoroder Verwaltungsgebiet.. ......................................... 46 b) Das Ul'janovsker Verwaltungsgebiet.. .................................................. 48 c) Das Permer Verwaltungsgebiet... ........................................................... 50 d) Das Vladimirer Verwaltungsgebiet ....................................................... 52 2.2.2 Fazit ............................................................................................................ 54 ll. Sozialpolitische Konzepte .............................................................................................. 56 1. Rahmenbedingungen ................................................................................................. 56 1.1 Die ordnungspolitische Ausgestaltung des Sozialstaates .................................... 56 1.2 Grundprinzipien sozialer Sicherung in der Sowjetunion ..................................... 57 2. Die ordnungspolitische Ausgestaltung sozialer Sicherung in der Rußländischen Föderation ........................................................................... 61 2.1 Sozialpolitische Grundlagen in der Verfassung .................................................. 61 2.21991: Die Entscheidung zur Schocktherapie ....................................................... 63 2.2.1 Föderale Programme der Systemreform .................................................... 63 2.2.2 Reformprogramme einzelner Föderationssubjekte .................................... 68 a) Das regionale Programm zu Überwindung der Krise Niznij Novgorods .................................................................................. 68 b) Die Propagierung von sozialer Gerechtigkeit und Stabilität in Ul'janovsk ......................................................................................... 70 XII Inhaltsverzeichnis c) Sozialpolitik in Perm' als Weg eines eigenen Kurses ........................... 71 d) Vladimir: Ein Gebiet ohne regionales Reformprogramm ..................... 72 e) Fazit ....................................................................................................... 73 2.3 1993: Die Propagierung einer sozial orientierten Marktwirtschaft ..................... 74 2.3.1 Die innenpolitische Destabilisierung Rußlands ......................................... 74 2.3.2 Sozialpolitik als neue Zielsetzung der russischen Regierung .................... 77 a) Das sozialpolitische Programm der Regierung ..................................... 78 b) Das Programm des sozialpolitischen Rates beim Präsidenten .............. 80 c) Sozialpolitik als Wahlkampft hema ........................................................ 83 d) Fazit ....................................................................................................... 85 III. Die Ausgestaltung der russischen Sozialpolitik ............................................................ 87 1. Rentenfragen ............................................................................................................. 87 1.1 Gesetzliche Bestimmungen der Rentenleistungen ............................................. 89 1.1.1 Die Rentenarten ........................................................................................ 89 1.1.2 Rentenanwartschaften ............................................................................... 90 1.1.3 Die Rentendynamisierung ........................................................................ 91 1.1.4 Die Finanzierung ...................................................................................... 92 1.1.5 Die unvollendete Rentenreform ................................................................ 93 1.2 Institutionen des Rentenwesens ......................................................................... 95 1.2.1 Die Rentenverwaltung .............................................................................. 96 a) Der Aufbau der Rentenverwaltung ...................................................... 96 b) Die Aufgaben der Rentenverwaltung .................................................. 97 1.2.2 Die Rentenfonds ..................................................................................... 100 a) Der Rentenfonds der Rußländischen Föderation ............................... 100 b) Die nicht-staatlichen Rentenfonds ..................................................... 102 1.3 Das Rentenwesen als Gegenstand von Konflikten .......................................... 104 1.3.1 Das Rentenwesen als Teil von Konflikten auf der staatlichen Horizontale ............................................................... 104 1.3.2 Das Rentenwesen im Konflikt zwischen Zentrum und Föderationssubjekten ....................................................................... 105 1.4 Die Folgen der Rentenreform .......................................................................... 107 1.4.1 Auswirkungen auf die soziale Situation von Rentnern .......................... 108 1.4.2 Die Fortführung der Rentenreformdiskussion ........................................ 110 2. Soziale Sicherung im Krankheitsfall ...................................................................... 114 2.1 Die gesetzliche Gestaltung des Gesundheitswesens ........................................ 116 2.2 Die Institutionen des russischen Gesundheitswesens ...................................... 118 2.2.1 Die Träger der Pflichtkrankenversicherung ............................................ 119 2.2.2 Die private Krankenversicherung ........................................................... 121 2.2.3 Die Sozialversicherungsfonds als Institutionen zur Gewährung von Krankengeld .......................................................... 122
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