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Ring der dreißig Welten PDF

84 Pages·2016·0.53 MB·German
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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn Ring der dreißig Welten Band 6 der Reihe „Raumschiff der Kinder“ überarbeitete  Ausgabe aus dem Sammelband  „Weltraumvagabunden“ © Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1986. Sämtliche Rechte,   auch   die   der   Verfilmung,   des   Vortrags,   der   Rundfunk­   und Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany. ISBN 3­7709­0621­7 Ursprüngliche Einzelausgabe erschienen 1979, ISBN 3­7709­0437­0 Bevölkerungsexplosion Es war warm, und der laue Wind hatte fast überhaupt keine kühlende Wirkung. Harpo wischte sich seufzend die Schweißtropfen von der Stirn. Die Temperatur auf Deck 17 lag bei fünfunddreißig Grad Celsius – und das war mehr, als man bei einem anstrengenden Marsch als angenehm empfand. Aber Harpo und seine beiden Begleiter hatten keine Wahl. Sie waren nicht zum Vergnügen aus der Zentrale des riesigen Sternenschiffes mit dem selt­ samen Namen EUKALYPTUS heruntergekommen. Im Gegenteil. Der Anfüh­ rer der kleinen Expedition, die sich seit einer halben Stunde durch ein buntes Gewirr von Sträuchern und Büschen, Bäumen und Riesenblumen schlug, war Karlie Müllerchen. Ihm schien der Marsch noch am wenigsten auszumachen – was natürlich daran lag, daß er die längsten Beine hatte und viel gemächli­ cher gehen konnte als die anderen: Karlie war nämlich volle zwei Meter zwanzig groß, was auch für einen Erwachsenen eine außergewöhnliche Grö­ ße gewesen wäre. Aber Karlie hatte nicht mehr als sechzehn Jahre auf dem Buckel. Und noch gab es kein Anzeichen dafür, daß er zu wachsen aufhörte. Grinsend sah er auf die anderen hinab. Seine hellblauen Augen blitzten schalkhaft, während er mit der rechten Hand in einer charakteristischen Ge­ bärde seinen schütteren Bart kraulte. „Nun stellt euch mal nicht so an“, sagte er mit heller Stimme von oben her­ ab. „Gleich haben wir es geschafft.“ Micel Fopp, der Dritte im Bunde, war fünfzehn Jahre alt. Ihm machte der holprige Weg durch die Büsche, deren Zweige mit boshafter Regelmäßigkeit zurückfederten und dann in die Gesichter der Eindringlinge peitschen woll­ ten, am meisten zu schaffen. Denn im Gegensatz zu Harpo Trumpff und Kar­ lie besaß Micel Fopp nicht die Möglichkeit, die Zweige mit erhobenen Händen abzufangen. Seine Arme waren nämlich so kurz, daß man eigentlich gar nicht von Armen reden konnte. Er war mit diesen kurzen Ärmchen geboren, weil seiner Mutter während der Schwangerschaft falsche Medikamente verschrieben wurden. Seine Hände waren klein wie die eines Fünfjährigen und fast direkt an den Schultern angewachsen. Micel hatte sich daran gewöhnt, diese Hände trotz­ dem zu benutzen, aber er mußte seinen Körper dabei ziemlich winden. Bei vielen alltäglichen Verrichtungen war er auf die Hilfe seiner Kameraden oder jener kleinen Roboter angewiesen, die wegen ihrer früheren Hülle aus grü­ nem Plüsch noch immer die „Grünen“ genannt wurden. Er war nicht der einzige an Bord, der wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Hilfe benö­ tigte. Schließlich war die EUKALYPTUS früher eine Art Hospitalschiff ge­ wesen. Aber das mußte ihm kein Kopfzerbrechen bereiten. Nicht nur, daß die anderen Micel als Kameraden gern hatten – was schon genug gewesen wäre – er gab ihnen noch mehr. Micel war nämlich ein Telepath, er konnte die Ge­ danken anderer Wesen lesen. Manchmal wenigstens, denn seine Gabe steck­ 2 te noch in den Kinderschuhen und reichte meistens nur dazu aus, in den Köpfen jener zu lesen, die er gut kannte. Das war ein Talent, das außer ihm nur noch der geheimnisvolle Akkai Bharos hatte und sonst niemand an Bord. Mehr als einmal hatte Micel der EUKALYPTUS und ihrer Besatzung mit sei­ nem ungewöhnlichen Können in kritischen Situationen geholfen. Als die drei Jungen oben auf der  baumbestandenen  Anhöhe angelangt waren, rief Karlie plötzlich: „Da unten! Seht mal!“ Harpo hatte eigentlich vorgehabt, sich erst einmal gründlich  auszukeuchen  – schon, um den anderen anschaulich klarzumachen, wie sehr ihn der Marsch anstrengte – aber der Anblick, der sich ihm bot, ließ alles andere vergessen. Vielmehr rutschte ihm vor Schreck die Luft in die falsche Kehle. Er verschluckte sich, hustete und kämpfte mit einem Schluckauf. „Hick...“ machte er nach einer Weile und sah dabei immer noch mit weit aufgerissenen Augen hinab in das kleine Tal, das sich zwischen zwei Hügeln bis an die Schiffswandung hinzog. Die nackte Wand erinnerte daran, daß sie sich keineswegs im Freien, sondern im Innern des Riesenraumschiffes EUKALYPTUS befanden. Wenn es hier richtige Tiere und Pflanzen gab, so war das keineswegs selbst­ verständlich. Früher, als die EUKALYPTUS noch die Erde umkreiste, gab es zwar auch so etwas wie ein Tier­ und Pflanzenleben – jedenfalls sah es so aus. In Wahrheit handelte es sich jedoch um künstliche Nachbildungen, um Plas­ tikpflanzen und Robotertierchen, denn echte Tiere und Pflanzen gab es auf der durch riesige Umweltschäden inzwischen öden Erde fast nur noch in zoologischen und botanischen Gärten. Was heute an Bord des Raumschiffes blühte, krabbelte oder vor sich hin hopste, stammte von anderen Welten oder von einem Raumschiffwrack, dem die EUKALYPTUS­Besatzung einen Besuch abgestattet hatte. „Das darf doch – hick! – nicht wahr sein!“ sagte Harpo. „Ich werd’ verrückt!“ stöhnte Micel. Das kleine Tal war mit mindestens dreitausend, vielleicht auch fünf­ tausend, zehntausend – zählen konnte man in dem Gewimmel wirklich nicht – winzigen blauen Drachen bevölkert, die überall herumsprangen, überein­ anderkrochen, durch Felsspalten flutschten, auf Steinen saßen und zu der grellen Miniatursonne an der Decke hinaufblinzelten oder ganz einfach trüb­ sinnig durch die Gegend tapsten. Alle zischten vor sich hin, wie das so ihre Art war, und insgesamt hörte sich das wie ein Bienenschwarm an, der einen Imker daran hindern wollte, den Honig zu holen. Die fast durchsichtigen kleinen Schwingen der salamanderähnlichen Wesen flatterten nervös. Der Boden in der Umgebung war nahezu kahl. Was grünte und blühte, war radi­ kal abgefressen worden, und über die letzten Reste machte sich die zischende Armada gerade her. Eine Vorhut hüpfte bereits nagend den Nachbarhügel hinauf. „Aber ... aber wir haben doch höchstens einhundertfünfzig von ihnen an Bord genommen“, protestierte Harpo. „Wie können sie sich nur so schnell vermehrt haben?“ 3 „Da solltest du erst mal auf Deck 15 die Eichkatzen sehen“, erwiderte Kar­ lie. „Und die Schlangen! Dann würdest du dich über gar nichts mehr wundern.“ „Und die Kröten?“ fragte Micel. „Was ist mit den Kröten?“ „Die haben sich kaum vermehrt; es sind eher weniger geworden. Das liegt aber daran, daß die Zahl der Schlangen zugenommen hat. Je mehr es von denen gibt, desto mehr Kröten fallen ihnen zum Opfer. Du weißt ja, daß sich Schlangen von Kröten ernähren.“ „Hmmm“, machte Harpo. „Natürlich hätten wir auf der EUKALYPTUS eigentlich Platz genug, um einige Hunderttausend von den kleinen Viechern unterzubringen. Und wenn die natürliche Nahrung ausgeht, können wir mü­ helos künstliche produzieren. Aber ich weiß nicht recht ... Irgendwie ist das eine Spirale ohne Ende.“ „Tja“, meinte Karlie und strich wieder seinen Bart. „Daran haben wir nicht gedacht, als wir die Tiere aus dem Raumschiffwrack herüberholten. Dort war der Lebensraum begrenzt – hier jedoch haben sie alles, was sie brauchen. Einige der Arten jedenfalls. Es gibt ausreichend Wasser, Nahrung, Licht und Wärme. Sie sind hier abgeschirmt wie in Abrahams Schoß ...“ „Was für ‘n Ding?“ fragte Micel. Ein kurzer geistiger Vorstoß in Karlies Be­ wußtsein sagte ihm, wer dieser Abraham gewesen war. „Aha“, grunzte er zu­ frieden. „Erzähl nur weiter, laß dich nicht aufhalten.“ „... und weil es Mutter Natur so eingerichtet hat, daß viele Jungtiere gebo­ ren werden, damit unter den normalen, sehr harten Bedingungen wenigstens einige überleben, steigt die Zahl der Tiere bei uns mit rasender Geschwindig­ keit.“ „Aber die sollten doch mal vernünftig sein und nachdenken!“ platzte Micel heraus. „Na, na“, sagte Karlie gönnerhaft. „Das können Tiere eben nicht – vernünf­ tig sein und nachdenken. Sonst wären es ja keine Tiere.“ Micel bekam ganz rote Ohren. „Na gut“, sagte er. „Dann müssen wir eben das Denken für sie übernehmen. Wie wär’s mit Pillen oder so was, also Mit­ teln, die verhindern, daß sie so viele Junge bekommen?“ „Frühreifer Bengel!“ Karlie feixte. „Du hast wohl was aufgeschnappt, wie? Aber im Ernst: Wie willst du das denn machen? Jedem dieser kleinen Drachen eine Pille in den Rachen stopfen? Prost Mahlzeit! Viel Vergnügen! Das kann Jahre dauern, bis du durch bist.“ Micel schwieg. „Und trotzdem müssen wir was unternehmen“, pflichtete Harpo Micel bei. „Aber was, frage ich mich. – He, ich habe eine Idee! Wir setzen unseren Zoo auf einem Planeten aus!“ Karlie sah ihn erschreckt an. „Was denn? Tatsächlich?“ In seiner Stimme klang Besorgnis mit. „Glaubst du denn, daß es unsere kleinen Freunde schaf­ fen, sich auf einem fremden Planeten zurechtzufinden? Immerhin leben sie seit   Jahrhunderten,   wenn   nicht   seit   Jahrtausenden,   in   einem   abge­ schlossenen Raum. Die Gefahren, die eine völlig neue Umwelt für sie bietet ... 4 Ich meine, wir sind doch für sie verantwortlich, wo wir uns einmal mit ihnen eingelassen haben. Man kann Tiere nicht einfach so an die Luft setzen, nur weil sie lästig werden!“ Er warf einem der tauchenden kleinen Drachen einen mitleidigen Blick zu. Man sah ihm an, daß er es kaum übers Herz bringen würde, sich von den harmlosen kleinen Kerlchen zu trennen. Karlie hatte ein weiches Herz für alles, was kreuchte und fleuchte. Wie eigentlich alle an Bord, denn auf der verseuchten Erde hatten sie gelernt, wie kostbar das Leben auch in seiner winzigsten Form war. Und der lange Karlie fühlte sich besonders zu den ganz kleinen Wesen hingezogen – vielleicht, weil er so groß war. Oft hatte er sich hier unten verkrochen und still die Tiere beobachtet. Er versuchte sogar, den kleinen Drachen das Fliegen beizubringen – was natürlich sinnlos war, denn die zarten, seidigen Flügel konnten die verhältnismäßig schweren Körper nicht tragen. „Aber Karlie!“ rief Harpo. „Du weißt doch, daß wir genauso denken. Wir setzen die Tiere natürlich nur aus, wenn wir ganz sicher sind, daß sie es auf dem Planeten gut haben werden. Sie sollen es sogar besser haben als hier und nicht so zusammengepfercht leben müssen. Na ja, und dann sollten wir na­ türlich auch an uns denken. Stell dir mal vor, die nagen vor lauter Hunger an Plastikteilchen und Kabeln herum ...“ Und um Karlie zu trösten, fügte er schließlich hinzu: „Ein paar von den kleinen Viechern können wir ja auch an Bord behalten. Die beobachten wir dann und sorgen dafür, daß sie sich nicht wieder so schnell vermehren.“ Micel stimmte ihm zu, und Karlie nickte schließlich ebenfalls. So gut ging es den Tieren auch wieder nicht auf der EUKALYPTUS. Die Schlangen würden die Kröten ausrotten, falls man nicht bald etwas dagegen unternahm. Und dann würden die Schlangen selbst sterben müssen, weil sie keine Nah­ rung mehr fanden – und wer wußte schon, ob sie Ersatznahrung annahmen. Vielleicht würden sie auch vor lauter Hunger die Eichkätzchen angreifen. Nein, es war wirklich am besten, wenn sie einen Planeten für sich hatten. „Schwatzmaul soll uns sagen, wie weit es bis zum nächsten Planeten mit voraussichtlich guten Lebensbedingungen ist“, schlug Micel vor. „Dann se­ hen wir weiter.“ Mit Schwatzmaul war niemand anderer als der manchmal recht vorlaute Bordcomputer gemeint. Seine Kameras und Mikrophone überwachten bein­ ahe jeden Winkel eines jeden Decks. Daß er Micel nicht sofort antwortete, lag wahrscheinlich daran, daß selbst die scharfen Ohren eines Computers etwas überhören konnten, wenn einige tausend Drachen summten und fauchten. Harpo, Micel und Karlie strebten der nächstliegenden Schiffswand zu und verschwanden hinter der Tür eines Notausstiegs. Von dort aus führte ein niedriger Gang zum Antigravlift. Wenige Minuten später schwebten sie in der dunklen Röhre, die alle Decks miteinander verband, zur Zentrale des Schiffes im obersten Deck. Die Körper wurden von Energiefeldern gehalten und an das vorprogrammierte Ziel geschleust. 5 Für einen flüchtigen Moment mußte Harpo an ihre ersten mißtrauischen Versuche mit dem Lift denken. Damals, als sie, auf sich allein gestellt, lernen mußten, die Einrichtungen des Raumschiffs in den Griff zu bekommen. Die Erwachsenen hatten das Schiff verlassen, als sich eine Katastrophe anbahnte. Und seither gehörte es den Kindern. Wie alles andere war auch der Antigrav­ lift inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Man program­ mierte sein Ziel und sprang in den Lift, ohne sich mehr dabei zu denken als beim Öffnen einer Tür und dem Betreten eines Raumes. Die Zentrale lag vor ihnen. Wie immer herrschte ein angenehmes Halbdunkel in dem riesigen Raum unter der gläsernen Kuppel. Das weiße, gelbe und manchmal auch rote Licht der Sterne fiel auf die Instrumentenpulte und die weichen, breiten Ses­ sel, in denen mehrere Besatzungsmitglieder der EUKALYPTUS saßen. Die meisten Regel­ und Steuervorgänge erledigte der Computer in eigener Verantwortung. Wenn überhaupt mal ein menschlicher Eingriff erforderlich war, dann konnte der bequem aus den Sesseln heraus vorgenommen werden. Alle erforderlichen  Bedienungsapparaturen  waren in den Armlehnen un­ tergebracht. Man konnte nicht nur durch die Kuppel direkt in das All hinausblicken, sondern hatte auch noch zahlreiche plastische Bildschirme zur Verfügung, auf denen Schwatzmaul wahlweise andere Blickwinkel oder vom Bordobser­ vatorium eingespeiste Vergrößerungen bestimmter Raumausschnitte proji­ zierte. Im Moment sah man auf dem  Hauptschirm  die Außenhülle des mächtigen Schiffes, das von der Erde stammte, aber durch ein noch immer weitgehend ungeklärtes Ereignis in einen fernen Raumsektor verschlagen worden war. Zwei kleine Gestalten wanderten in der einsamen kosmischen Nacht über die Metallhülle der EUKALYPTUS. Sie trugen Raumanzüge mit magnetischen Schuhen und machten deshalb sehr eigenartige, schwerfällige Bewegungen. Zwar gab es im Weltall keinen Fahrtwind wie auf einem Planeten, der sie vom dahinjagenden   Raumschiff   fortreißen   konnte,   aber   die   Magnetschuhe verhinderten, daß sie durch eine unbedachte Bewegung in das All hinaus­ schwebten. Eine der Außenkameras verstellte auf einen Knopfdruck hin das Zoom­Objekt. Das Fernsehbild zeigte nun die Gesichter der Gestalten. Unter einem der Plexiglashelme erkannte Harpo das lange schwarze Haar und das Gesicht seiner Schwester Anca. Das andere Gesicht erinnerte stark an einen kleinen Grizzlybären mit rotem Fell. Die Nase sah wie eine dunkelblaue Pflaume aus, und das kräftige weiße Gebiß, das gerade sichtbar wurde, konn­ te einen unwissenden Beobachter leicht das Fürchten lehren. Alexander. Er war viel gutmütiger, als sein Gebiß ahnen ließ, und stammte vom Planeten Nordpol. Und wenn er auch wie ein Bär aussah, so war er doch keineswegs ein Tier, sondern so intelligent wie alle anderen Besatzungsmitglieder. Von allen Rotpelzen – wie sich Alexanders Rasse nannte – hatte er die wei­ teste Reise unternommen, eine Fahrt in den Weltraum. Und darauf war er auch gehörig stolz. Denn seine Leute, die auf Nordpol vom Fischfang lebten, liebten das Reisen und sahen es gern, wenn die Jungen auszogen, um 6 Abenteuer zu erleben. Manche von Alexanders Verwandten hatten nach jah­ relanger Wanderschaft den ganzen Planeten umrundet. Aber Alexander schlug sie alle. Seine Freundschaft zu den Kindern der EUKALYPTUS ließ ihn die Wunder anderer Planeten erleben. „Sieht’s schlimm aus, Leute?“ fragte jemand. Er saß als einziger nicht in einem gewöhnlichen Sessel, sondern in einem Rollstuhl. Es war Thunderclap Genius. Er trug einen halbkugelförmigen Helm, um Funkverbindung zu Anca und Alexander zu halten, ohne den Hauptkanal benutzen zu müssen. Seine Frage hatte jedoch den Eintretenden gegolten. „Viel schlimmer.“ Harpo seufzte. Er ließ sich in einen freien Sessel fallen und schlug die Beine übereinander. „Wenn wir nicht bald etwas unter­ nehmen, Thunderclap, dann fressen uns die Drachen die Haare vom Kopf.“ „Aussetzen wäre wirklich die beste Lösung“, ließ sich eine andere Stimme aus dem Halbdunkel vernehmen. Harpo sah auf. Auf dem Sitz des Navigators, den normalerweise Karlie für sich gepachtet hatte, saß Bharos. Obwohl er nicht nur ein Erwachsener, sondern – durch seine Langlebigkeit bedingt – ein uralter Erwachsener war, war er kleiner als die Kinder und sah zierlich, beina­ he elfenhaft aus. Er las in ihren Gedanken wie in einem offenen Buch und wußte deshalb sofort Bescheid. Thunderclap machte: „Hmmm, hmmm...“ und rief dann Anca und Alex­ ander von ihrem Spaziergang zurück. Ein Problem mußte gelöst werden. Und da die EUKALYPTUS keinen Kapi­ tän hatte, der allen anderen seine Befehle gab, wurde der Rat einberufen. Ihm gehörten alle Besatzungsmitglieder an. Aber dieses Mal würde es wohl keine langen Diskussionen geben, denn die Tatsachen sprachen für sich. Die Tiere mußten ausgesetzt werden. Und zwar auf dem nächsten geeigne­ ten Planeten. Station der Geheimnisse Der Planet unter ihnen war eine kleine, grünblaue Welt mit viel Wasser und drei größeren Kontinenten. Die Mannschaft der EUKALYPTUS fühlte sich so­ gleich an die Erde erinnert – an eine Erde, wie sie vor vielen hundert Jahren existiert hatte. Es gab wildwuchernde Wälder und andere unberührte Ge­ biete, glitzernde Flüsse, die aus der Höhe wie silberne Fäden aussahen, und Tiere, deren huschende Gestalten Schwatzmauls scharfe Augen erspähten. Nach einigen Umkreisungen im Orbit des Planeten lagen ausreichende Da­ ten vor. Intelligentes Leben schien es nicht zu geben – zumindest nicht auf der Oberfläche dieser Welt. Und dafür, daß sich solche Wesen im Erdreich verkrochen, zeigte sich kein Anhaltspunkt. Alles in allem machte diese kleine Welt – die nur etwa halb so groß wie die Erde war – einen idyllischen, fast pa­ radiesischen Eindruck. Das Klima war mild, die Umwelt schien friedvoll und 7 harmonisch zu sein, die Atmosphäre entsprach den Verhältnissen auf der Erde und damit den Bedürfnissen von Sauerstoffatmern – und das waren nicht nur die Kinder der EUKALYPTUS, sondern auch ihre tierischen Passa­ giere vom Raumschiffwrack. Schwatzmaul sammelte unentwegt Daten und erarbeitete eine Hochrech­ nung. So einfach war es schließlich nicht, die Passagiere auszusetzen: Ihnen sollte nichts Böses geschehen, aber auch die eingespielte Natur des Planeten durfte nicht durcheinandergebracht werden. Die Speicher des Computers wußten über die irdische Geschichte in allen Einzelheiten Bescheid. Deshalb kannte Schwatzmaul die Fehler, die die Men­ schen gemacht hatten. In Australien, einem Erdteil, der vor dem Siegeszug des Menschen von den anderen Kontinenten abgekapselt war und eine eigene Tier­ und Pflanzenwelt entwickelt und bewahrt hatte, war durch ein paar ausgesetzte Wildkaninchen unermeßlicher Schaden entstanden. Und es gab Hunderte von Beispielen ähnlicher Art. Aber schließlich konnte Schwatzmaul mit an Sicherheit grenzender Wahr­ scheinlichkeit verkünden, daß sich Kröten, Schlangen, Eichkätzchen und Drachen so gut mit der einheimischen Tier­ und Pflanzenwelt vertragen würden, daß keine Schwierigkeiten zu befürchten waren. Schwatzmaul schickte einige Sonden hinunter und sammelte Proben, aber die meisten Daten speicherte er mit seinen tausend Augen, tausend Ohren und hunderttausend Sensoren, die Eindrücke erfaßten, die der Mensch vom Orbit aus nicht wahrnehmen konnte. Nachdem die EUKALYPTUS den Planeten achtmal umkreist hatte, schleus­ te man eines der Gleitboote aus, um sich die Gegend mal aus der Nähe anzu­ sehen. Schwatzmaul hatte so nebenher natürlich auch alle Luftaufnahmen ausgewertet und Landkarten ausgedruckt. Thunderclap und Anca leisteten dabei eifrig Unterstützung und gaben den Flüssen, Kontinenten und Gebirgs­ formationen Namen. Blaufluß, Schubladenberge – sie sahen wirklich so aus–‚ Krummrücken und Zickzackdelta waren nur einige ihrer Wortschöpfungen. Nur einen Namen für den Planeten selbst hatten sie sich noch nicht ausge­ dacht. Das lag wohl daran, daß sie sich zu sehr an die Erde erinnert fühlten. Karlie meinte, man solle den Planeten doch kurzerhand „Erde II“ nennen, aber dieser Vorschlag wollte keinem so recht gefallen. Schließlich sagte Brim Boriam, der für die ärztliche Betreuung an Bord zuständig war: „Nennen wir ihn doch Dragon. Das ist ein anderes Wort für ,Drache‘ und kommt der Sache ziemlich nahe. Schließlich soll diese Welt unseren kleinen Drachen eine neue Heimat bieten.“ Alle waren begeistert, und es blieb bei diesem Namen. Als die Besatzung des Gleitbootes ausgelost wurde, gab es einige lange Gesichter und vier strahlende Glückspilze. Genauer gesagt strahlten nur drei vor Freude, nämlich Harpo, Anca und Ollie. Lonzo, der vierte im Bunde, konnte mit seinem Robotergesicht keine Gefühle ausdrücken. Statt dessen schlug er mit all seinen Tentakeln ein Rad, um seine Begeisterung zu zeigen. 8 Dann war es soweit. Das Gleitboot fiel aus der Schleuse in die Schwärze des Alls und senkte sich dem Planeten entgegen. Schon erreichte es die obersten Schichten der Atmosphäre und stieß durch sie hindurch. In diesem Moment summten die Lautsprecher der Video­Kommunikationsanlage.  Die Bild­ schirme flackerten, dann sah man die erregten Gesichter von Karlie und Thunderclap in der Zentrale der EUKALYPTUS. Stimmen im Hintergrund be­ wiesen, daß die anderen Freunde ebenfalls in der Nähe waren, von der Fernsehkamera aber nicht erfaßt wurden. Ein grünes Licht auf dem Kontroll­ pult des Bootes zeigte an, daß die Bildfunkanlage sendebereit war. Zunächst   jedoch   meldete   sich   Schwatzmaul   mit   einem   Räuspern: „Ähem...“ Die Computerstimme wollte daran erinnern, daß sie auch noch da war.   Tatsächlich   kontrollierte   das   Bordgehirn   der   EUKALYPTUS   alle Funktionen des Gleitbootes, das – bildlich gesprochen – mit dem großen Raumschiff durch eine Art Nabelschnur verbunden war. Allerdings bestand die „Nabelschnur“ aus einem Energiestrahl, der auch dann nicht abriß, wenn das Boot einige tausend Kilometer entfernt war. Dieses Energiebündel ver­ sorgte den Antrieb des Bootes und ermöglichte auf einer Spezialfrequenz die Bildverständigung. „Meine   lieben   Freunde!“  begann  Schwatzmaul  in   der  ihm   eigenen salbungsvollen Art. Er machte eine Pause und fuhr dann fort: „Ich möchte nicht versäumen, euch darauf hinzuweisen, daß meine überaus perfekt funktionierenden Schaltkreise in Verbindung mit der  hyperpräzisen  Aus­ wertungsabteilung meines ...“ „Oh, nein!“ riefen Harpo und Anca wie aus einem Munde. „Sag jetzt bloß nicht, daß du dich geirrt hast und sich diese Welt nun doch nicht eignet!“ „Das“, sagte Schwatzmaul galant, „habt ihr gesagt, nicht ich. Aber um zum Kernpunkt meines kleinen Problems zu kommen: Auch ein armer Computer kann sich einmal irren, und wenn er noch so intelligent ist. Na ja, geirrt habe ich mich eigentlich trotzdem nicht. Das wäre ja auch schlechthin unmöglich, nicht wahr? Hmm – was wollte ich eigentlich damit sagen?“ Harpo, der sich vor Schreck hingesetzt hatte, warf Anca und Ollie einen Blick zu und sagte dann: „Ja, das möchten wir auch gern wissen!“ Aus der Zentrale der EUKALYPTUS erklang die Stimme von Alexander: „Probleme! Probleme! Diese Computer sehen überall Probleme! Wenn meine Leute auf Nordpol auch so viele Probleme sehen würden, wäre es ihnen nie­ mals im Leben möglich gewesen, auch nur einen einzigen Fisch zu fangen!“ „Nun“, sagte Schwatzmaul und hüstelte dezent, während auf einem der Bildschirme Thunderclaps Gesicht auftauchte. Er hatte sich in die Sendung eingeschaltet und schien Mühe zu haben, nicht aus der Haut zu fahren. „Rundheraus gesagt“, meinte Schwatzmaul schließlich, „rundheraus gesagt – es gibt Anzeichen dafür, daß der Planet mit dem hübschen Namen Dragon ... Übrigens, Kompliment Herr Boriam, etwas Besseres hätte selbst mir nicht einfallen können. Wie geht es eigentlich ...“ 9 „Zur Sache!“ donnerte Thunderclap dazwischen. Er war hochrot im Gesicht und fuchtelte mit den Armen herum. „Diese geschwätzige Maschine bringt mich noch um den Verstand!“ „Tja, es sieht so aus“, fuhr Schwatzmaul fort, „aber das sage ich nur euch und nicht diesem tobenden Herrn Genius: Es sieht so aus, als sei Dragon be­ wohnt!“ „Peng!“ sagte Harpo. Er schaute ziemlich einfältig. In diesem Moment schaltete sich Anca in das Gespräch ein. „He, da scheint was dran zu sein!“ sagte sie aufgeregt. „Wir sehen nämlich gerade ...“ „Gebäude!“ schrie Harpo. „Zwei Türme!“ brüllte Karlie in der Zentrale. „Nein – drei!“ Der große Bild­ schirm erlaubte es den Zurückgebliebenen, die Ereignisse fast so deutlich zu verfolgen, wie es der Besatzung des Gleitbootes möglich war. Jetzt hatten es alle gesehen. Unter dem Boot lag nicht unberührter Dschungel. Und es gab nicht nur das silberne Band des Stroms, der den seltsamen Namen Garten­ schlauch erhalten hatte. Eine nahezu quadratische Lichtung mit einer Seiten­ länge von etwa fünfhundert Metern war zu erkennen. „Was mag das für ein komisches Leuchten sein?“ wollte Alexander wissen, der seine Pflaumennase am Bildschirm in der Zentrale schier plattdrücken wollte, während seine Bärenpranken Furchen in das Spezialglas zu reißen drohten. Er fletschte die Zähne und verfiel für einen Moment lang wieder in seine Muttersprache, die inzwischen auch die meisten seiner Freunde gelernt hatten: „Mächtiger Schneeiglu aus rotem Licht ... Halbkugel ...“ Tatsächlich! Das quadratische Gelände war nicht nur durchgehend bebaut, sondern schien auch von einer komischen Lichthülle umgeben zu sein, die bis dicht an den Wald heranreichte. Als habe jemand eine Käseglocke aus Licht über die Gebäude gestülpt. „Funkkontakt?“ fragte Harpo. „Nichts“, kam es von Thunderclap zurück. „Unser Sender arbeitet auf Hochtouren. Aber es ist nichts zu machen.“ Lonzo saß vor der Funkanlage und hielt ein Mikrophon im Tentakel – so ein Mimer, er konnte doch auch ohne Mikrophon funken! Er trug die alte Ma­ trosenmütze mit den beiden dunkelblauen Bändern und rief mit plärrender Stimme: „Ahoi! Ahoi! He, ihr da unten! Captain Kidd bittet um Landeerlaubnis im Hafen von New Orleans! Wir haben ein Fäßchen Rum an Bord und möchten euch zu einer Fete einladen! Ahoi! Ahoi! Meldet euch endlich, ihr Galgenvö­ gel!“ „Lonzo!“ knirschte Thunderclap auf dem Bildschirm. „Aber doch nicht in diesem Gossenjargon! Was sollen die Leute von uns denken!“ Der Roboter drehte sein kugelförmiges Köpfchen und schlug sich mit einem anderen Tentakel auf die kleine Mikrophonöffnung, die bei ihm den Mund darstellte. „Huch, ich habe mich wohl im Ton vergriffen“, jammerte er. Dann setzte er neu an: „Hier spricht das S. S. EUKALYPTUS. Bitten, an Land 10

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