Richtlinien zur medizinischen Indikation der Schwangerschaftsunterbrechung Herausgegeben von C. Muller und D. Stucki Mit einer Abbildung Springer-Verlag Berlin. Gottingen . Heidelberg 1964 ISBN-13: 978-3-642-88108-4 e-ISBN-13: 978-3-642-88107-7 DOl: 10_1007/978-3-642-88107-7 AIle Rechte, insbesondere das cler Obersetzung in &emde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrtickliche Genehmigung des Verlages ist es auch nieht gestattet, dicses Such oder Teile daraus auf pbotomechanischem Wege (Photokopic? Mikrokopie) ode! auf andere Art zu vervielfaltigen © by Springer-Vedag OHG I Berlin -Gottingen . Heidelberg 1964 Softcovcr reprint of the hardcover 1st edition 1964 Library of Congress Catalog Card Number 64-'4613 Die Wiedergabc von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buche berechtigt auch ohoe besondere Kennzeichnung nicht zu def Annahme. daB solche Namen im Sinne def \Varenzeichen~ und Markenschutz-Gesetzgebung ais frei zu betrachten waren und daher von iedermann benutzt werden diirften Druck: Kont-old Triltsch, Graphischer GroBbetrieb. Wiinburg Titel Nt. 1209 Vorwort Seit der letzten Auflage von G. WINTERS grundlegender Monographie "Die kUnst liche Schwangerschaftsunterbrechung" (1949) und H. NAUJOKS "Leitfaden der Indi kationen der kUnstlichen Schwangerschaftsunterbrechung" (1954) ist - soweit wir wissen - in keinem Land ein ahnliches Werk erschienen. Es ist ein schones Zeugnis der rasch fortschreitenden Wissenschaft, daB die beiden genannten Werke langst iiber holt sind. Zahlreiche Untersuchungen wahrend des vergangenen Jahrzehnts Uber krankhafte Storungen in der Schwangerschaft haben zu einem erfreulichen Abbau der Indikationen der Unterbrechung gefUhrt. Viele Arzte, Praktiker wie Spezialisten, ver missel'i einen dem gegenwartigen Stand unserer Erkenntnis angepaBten Ratgeber auf diesem aktuellen und verantwortungsvollen Gebiet. Wir haben deshalb den Versuch unternommen, unseren Kollegen, von denen sich die iiberwiegende Mehrzahl urn eine wissenschaftliche Indikationsstellung bemUht, neue Richtlinien in die Hand zu geben. Da sich unsere Auffassungen mit dem Fortschritt in der Wissenschaft wandeln und andern werden, sind wir fUr jede UnterstUtzung und Anregung von Klinikern und erfahrenen Praktikern dankbar. Die Herausgeber danken allen Kollegen, die sich bereitwillig und der Tragweite des Problemes bewuBt der verantwortungsvollen Aufgabe unterzogen haben. Bern, Januar 1964 Carl Muller Porrentruy, Januar 1964 David Stucki Inhaltsverzeidtnis I. Einleitung. • • • • • • • • • • • • • C. MULLER 2 II. Belastung des Organismus durm eine normale Smwangersmaft. • . • • • • • • • • D. STUCKI 4 III. Geburtshilflim-gynakologisme Erkrankungen • E. GLATTHAAR • 24 IV. Gestose. . . . • • • • • • C. MULLER P. DUBUIS 34 V. Erkrankungen der inneren Organe . . . • 58 - Krankheiten des Herzens und der GefaBe. • W. HADORN. 58 - Nimttuberkulose Erkrankungen der Atmungs- organe. • . • • • • • • • • J. REGLI . 65 - Krankheiten der Verdauungsorgane • P. A. KRIEG. 67 - Nierenkrankheiten und Hypertonie . F. REUBI . 71 - Rheumatisme Erkrankungen . . . T. DE PREUX. 75 - Blutkrankheiten • . • • . • • G. HEMMELER 78 - Erkrankungen der endokrinen Drusen B. COURVOISIER 82 - Diabetes mellitus . . • . . • . G. R. CONSTAM . 86 - Lungentuberkulose ..•• . . F. CARDIS 87 VI. Psymiatrisme und neurologisme Erkrankungen R. WySS 92 VII. Chirurgisme Erkrankungen. . J.OERI 98 VIII. Orthopadisme Erkrankungen . E. HAUSAMMANN 102 IX. Erkrankungen der Harnorgane . E. WILDBOLZ 104 X. Hautkrankheiten • . . . . H. KUSKE 106 XI. Augenkrankheiten . . . . . R. WITMER 111 XII. Ohren-. Nasen-. Halskrankheiten . F. ESCHER 114 XIII. Krankheiten und MiBbildungen der Frucht M. VEST 116 XIV. Maligne Tumoren . . . . . . . . . L. ECKMANN. 122 XV. Gefahr der medikamentosen Fruchtsmadigung in der Smwangersmaft . . . . . . • • . 125 - Dbersicht. . . . . . . . . . . . . C. MULLER 125 - Zum Problem der Auslosung von MiBbildun- gen durch Arzneimittel U. PFANDLER 140 - Sexualhormone . H. E. Voss. 145 - Tuberkulostatika . . E. MORDASINI 150 - Antikoagulantien . . H. STAMM 155 - Zusammenfassung. . C. MULLER 157 XVI. Gefahr der Strahlenschadigung . J. H. MULLER 159 XVII. Nimtmedizinisme Indikationen C. MULLER 162 XVIII. Antikonzeption und Sterilisation . MARIANNE MALL-HAEFELl 169 XIX. Standpunkt der mristlichen Kirchen . C. MULLER 177 XX. Rechtlime Grundlagen der Schwangerschaftsunter- bremung . . . . . . . . . • . . . . 188 - Deutsche Bundesrepublik . . . . . . . J. W. BOSCHE 188 - Osterreim (nam einer Mitteilung des Bundes- ministeriums fur soziale Verwaltung Wien) 192 - Schweiz ........•.•. H. EGLI 193 XXI. Gefahren der Schwangerschaftsunterbrechung . C. MULLER 202 XXII. Verantwortung . . . . . • . . . . . C. MULLER 205 Herausgeber Prof. Dr. CARL MULLER Honorarprofessor fUr Geburtshilfe und Gynakologie an der Universitat Bern Dr. DAVID STUCKI Chefarzt der geburtshilflim-gynakologismen Abteilung des Bezirkspitals Pruntrut Mitarbeiter Dr. jur. JURGEN W. BOSCHE Remtsanwalt, KOln-Lindenthal Prof. Dr. FERNAND CAROlS Professeur assode der medizinismen Fakultat, Lausanne Dr. GEORG R. CONSTAM Konsiliarius fiir Diabetes an der medizinismen Uni versitatspoliklinik Ziirim PD. Dr. BERNARD COURVOISIER Chefarzt der inneren Abteilung des stadt. Kranken hauses La Chaux-de-Fonds Prof. Dr. PIERRE DUBUIS Professor der medizinismen Fakultat, Lausanne PO Dr. LEO ECKMANN Chirurg am Tiefenauspital Bern Dr. jur. HERMANN EGLI Generalsekretar der smweizerismen Krzteorganisation Bern Prof. Dr. FRANZ ESCHER Direktor der oto-rhino-Iaryngologismen Universitats klinik Bern Prof. Dr. ERICH GLATTHAAR Chefarzt der Frauenklinik des Kantonspitals Winterthur Prof. Dr. WALTER HADORN Direktor der medizinismen Universitatsklinik Bern Dr. ERNST HAUSAMANN Spezialarzt fUr Chirurgie Bern PD Dr. GUIDO HEMMELER Spezialarzt fiir innere Medizin, Lausanne Dr. PIERRE A. KRIEG Spezialarzt fiir Gastro-enterologie, Lausanne Prof. Dr. HANS KUSKE Direktor der dermatologismen Universitatsklinik Bern Dr. MARIANNE MALL-HAEPELI Oberarztin der Universitatsfrauenklinik Basel PO Dr. ERNESTO MORDASINI Spezialarzt fUr Lungenkrankheiten, Bern Prof. Dr. JEAN HERMANN MULLER Leiter der radiologismen Abteilung und des histo pathologismen Laboratoriums der Universitatsfrauen klinik Ziirim Dr. JAKOB OERI Oberarzt der mirurgismen Universitatsklinik Basel PD Dr. UDO PFANDLER Dozent fUr Genetik an der Universitat Bern Dr. THEO DE PREUX Spezialarzt fiir Rheumatologie, Lausanne Dr. JOSEPH REGLI Chefarzt der kantonal-bernismen Heilstatte fiir Tuber kulose, Heiligenschwendi Prof. Dr. FRAN90lS REUBI Direktor der medizinisdten Universitatspoliklinik Bern PD Dr. HEINl STAMM Chefarzt der geburtshilflim-gynakologismen Abteilung des stadtismen Krankenhauses Baden PD Dr. MARKUS VEST Oberarzt der Universitatskinderklinik Basel Dr. HERMANN E. VOSS Ehemaliger Leiter des biologismen Laboratoriums der pharmazeutismen Werke Boehringer und Sohne, Mann heim Prof. Dr. EGON WILDBOLZ Chefarzt der urologismen Abteilung des Inselspitals Bern Prof. Dr. RUDOLF WITMER Direktor der Universitatsaugenklinik Ziirim Dr. RUDOLF Wyss Chefarzt der Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt, Miin singen/Kt. Bern I. Einleitung C. MULLER AIle Zeiten und aIle Volker kannten das Problem der kiinstlichen Beendigung der Schwangerschaft und setzten sich mit dem erlaubten und dem unerlaubten Abort aus einander. Je nach der Zeitauffassung, je nach dem Stand der arztlichen Wissenschaft und der Kultur wurden die damit zusammenhangenden Fragen mehr von re1igiosen, ethischen, arztlichen, sozialen oder bevolkerungspolitischen Gesichtspunkten aus be urteilt. Wie sehr sich die Auffassungen anderten, kommt in der Gesetzgebung zum Ausdruck, die im Laufe der Zeit aIle Schattierungen kannte von volliger Straffreiheit bis zur Todesstrafe. Die medizinische Indikation zur vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft, wenn auch schon in der Antike bekannt, fand erst im 18. Jahrhundert allgemeinere Anerkennung, nachdem sich eine Autoritat wie WILLIAM COOPER (1772) fUr sie aus gesprochen hatte. 1m 19. und 20. Jahrhundert kam es, mit wenigen Ausnahmen, in allen Rechtsstaaten zu Gesetzen, die den kiinstlichen Abort aus medizinischer Indikation gestatteten. Diese Indikation ist nach dem Gesetze nur dann gegeben, wenn eine Krankheit Leben oder Gesundheit der Mutter in eine ernste, nur durch Beendigung der Schwangerschaft abwendbare Gefahr bringt. In fast allen Landern wurden Zwangskonsilien angeordnet oder Facharztkomitees zur Begutachtung eingesetzt, urn dem Mi~brauch der medizinischen Indikation vorzubeugen. Trotzdem herrschte all gemeine Unsicherheit in der Indikationsstellung. Es ist das gro~e Verdienst von GEORG WINTER, als Erster allgemein giiltige Richt linien formuliert zu haben. 1918 veroffentlichte er seine Monographie "Die Indika tionen der Schwangerschaftsunterbrechung". Diese Schrift stellt eine mutige Pionier arbeit dar. Schon damals bestand ein gro~es Mi~verhaltnis zwischen der Anzahl wissenschaftlich begriindeter Anzeigen zur Unterbrechung der Schwangerschaft und der Haufigkeit der praktischen Ausfuhrung. Die Interpretation des Gesetzes war unbefriedigend - sie ist es ja heute noch. Dazu prall ten damals, nach dem ersten Weltkrieg, politische und weltanschauEche Dogmen auch auf dem Gebiet des Abortus artificialis heftig aufeinander. Es bedurfte des zivilen Mutes eines so bedeutenden Menschen und Arztes wie WINTER, zur Besinnung und Verantwortung aufzurufen und der Verwirrung der Begriffe entgegenzutreten. Zum erst en Male wurde hier systematisch untersucht, wie der Verlauf verschiedener Krankheiten durch eine hinzutretende Graviditat beeinflu~t wird, und wann die Gefahr fUr das mutterliche Leben durch eine Interruptio abgewendet werden mu~. In der zweiten Auflage (1932) uberlie~ WINTER die Bearbeitung vieler medizinischer Indikationen seinem Schuler E. NAUJOKS. Grundsatzlich bewahrten die Richtlinien auch in dieser neuen Form den Geist WINTERs: "Unser Prinzip mu~ sein: keinen Abort zuviel und keinen zuwenig." Dieser zweiten Auflage war nur eine kurze Lebensdauer beschieden, denn 1935 wurden von STADLER im Auftrage der Reichs arztekammer und im Anschlu~ an die ,,4. Verordnung zur Ausfiihrung des Gesetzes zur Verhutung erbkranken N achwuchses" neue "Richtlinien fur Schwangerschafts unterbrechungen aus gesundheitlichen Grunden" herausgegeben. Sie bedeuteten nichts 1\.1 i.dler/Stucki, Sell w angerschaftsun terbrechung c. 2 MULLER anderes als eine staatliche Sanktion des systematischen Mordes am keimenden Leben. WINTER hat die Korruption seines Werkes mit tiefster Emporung und Niedergeschla genheit aufgenommen. Die Forderungen wurden fUr alle deutschen Arzte verbindlich erklart und verloren erst 1945 ihre Giiltigkeit. 1946 starb GEORG WINTER, "das Gewissen der deutschen Gynakologie". Sein Werk erschien zum letzten Mal 1949. Leider! Denn NAUJOKS entschloB sich nun, den "Richt linien" eine offizielle Note zu geben und sie, unter dem Protektorat des Prasidiums des deutschen Arztetages, stark gekiirzt, in der Form eines Leitfadens herauszugeben. Dieser Leitfaden war aber m. E. kein Fortschritt. 1m Gegenteil! Der leidenschaftliche Wunsch des Autors nach "amtlicher Fixierung" ist der Sache schlecht bekommen. NAUJOKS bedauerte, daB "es nur voriibergehend zu einer amtlichen Fixierung der Indikationen kam, und zwar der Stadlerschen Richtlinien", trotzdem letztere eine Schandung seines Werkes darstellten! Was NAUJOKS als Nachteil des Winterschen Buches empfand, war sein groBter Vorteil: der Geist der Sc..~ule, der Geist einer iiber ragenden Personlichkeit von hohem Ethos und groBer Zivilcourage. 1m Vergleich dazu wirkt der stark geschrumpfte und - wie NAUJOKS im Vorwort schreibt - "aus der Sphare wissenschaftlicher Diskussion herausgehobene" Leitfaden wie eine farblose amtliche Verlautbarung. In fast allen Landern ist man auf dem Gebiet der Schwangerschaftsunterbrechung ganz allgemein in eine unbefriedigende Situation geraten. Wenn man gehoffi hatte, durch neue Gesetze die Abtreibungsseuche einzudammen, so war dies ein FehlschluB. Es ist ein offenes Geheimnis, daB viele Abtreibungen, die friiher illegal vorgenommen wurden, heute unter einer laxen, gedankenlosen Begutachtungspraxis auf "legalem" W ege ausgefUhrt werden. Ob Vertreter des Staates, einer religiosen Gemeinschaft, Arzte oder politische Gruppen zur Schwangerschaftsunterbrechung Stellung nehmen, stets entbrennt ein heftiger Streit der Meinungen. Die Diskussion um die nichtmedizinischen Indikationen, sei es die soziale, eugenische, bevolkerungspolitische oder, wie jetzt wieder, die Not zuchtsindikation, ist von jeher unfehlbar ins Politische abgeglitten, selbst wenn sie von Fachleuten, Juristen oder Arzten gefiihrt wurde. Dies liegt im Charakter der Sache. Juristen in verantwortlichen Stellungen sind meist Politiker und als solche stellen sie haufig die Rechtsauffassung der Masse tiber die sittlichen MaBstabe einer Minderheit. Wir alle wissen, daB Ethik nicht von der Masse getragen wird. Gerade die vorbehaltlose Zustimmung der Masse hat bestimmt den geringsten Kulturwert. Wie die Masse aus anonymen Gefiihlen heraus bedenkenlos urteilt, haben wir beim ThalidomidprozeB in Liittich in aller Deutlichkeit gesehen. Kulturfordernd kann nur das wirken, was zum Nachdenken zwingt. Von jeher waren es Einzelne, die auf dem steilen Weg der Ethik vorangegangen sind. Genau so kann auch nur der Einzelne Verantwortung tragen, nicht die Gruppe, nicht der Staat, nicht die Gesellschaft, nicht einmal die Kirche. Wiirde die Masse nach ethischen Grundsatzen leben und handeln, so ware ein Strafgesetzbuch tiberhaupt unnotig. Es widerspricht aber jeder geschicht lichen Erfahrung, daB die Masse die absolute Freiheit ertragt, denn Freiheit ver pflichtet, verlangt Verzicht und groBe Opfer. Es scheint nur Wenigen bewuBt zu sein, daB es bei der Vernichtung keimenden Lebens weit iiber politische, staatliche und kirchliche Toleranz oder Intoleranz hinaus geht. Es geht um das Lebensrecht schlechthin, um die Ehrfurcht vor dem Leben, um die Grundlage jeder Kultur. Ethik ist nicht eine Funktion sozialer Niitzlichkeit. Bei diesen Stellungnahmen und Auseinandersetzungen sind oft eine erstaunliche Gedanken losigkeit und eine Unkentnis der materiellen und ideellen Seite des ganzen Fragen komplexes festzustellen, selbst bei Arzten. Die Schwangerschaftsunterbrechung ist in jedem Einzelfall eine in tiefste Schichten des Einzel- und des Gemeinschaftslebens hinabreichende Tat, namlich Totung. Einleitung 3 Immer ist es der Arzt, der die Entscheidung triffi:. Er vor allem muB sich der Trag weite seines Handelns bewuBt sein. Ihm darf als entlastendes Moment weder die Un wissenheit und die Gedankenlosigkeit der Masse, noch die seelische Verfassung der Schwangeren zugute gehalten werden. Ihm sollte das Problem in seiner Vie1seitigkeit vertraut sein. Jeder, der sich mit diesen Fragen eingehend auseinandergesetzt hat, wird einsehen, daB es keine KompromiBlosungen geben kann, obschon diese sich unserer Bequemlichkeit so gerne anbieten. WINTER meint, und wir konnen das nur unterstreichen: "Die Art der Handhabung dieses schwierigen Stoffes ist geradezu ein Gradmesser fur die geistige Freiheit, die Achtung vor der Personlichkeit und fur den Stand von Kultur und Sitte eines Volkes." Das Wissen urn den wahren Charakter der Fruchttotung ist unter dem EinfluB der zum System gewordenen "Indikationslehre" fast ganz verloren gegangen. Unter Indikation versteht man die wissenschaftliche Begrundung eines therapeutischen Ein griffes, mit anderen Worten, eine Heilanzeige. Je differenzierter eine Heilmafbahme ist, desto strenger muB die Indikationsstellung sein. Bei lebensgefahrlichen Eingriffen wird stets eine vitale Indikation gefordert. Nun kann aber ein Eingrijf, durch den ein lebendes, gesundes Wesen mit allen seinen prospektiven Potenzen vernichtet wird, auf keinen Fall einer Heilhandlung gleichgesetzt werden. Manche Arzte fassen die Schwangerschaft als Komplikation eines Krankheits prozesses auf. Die Dinge liegen aber umgekehrt. Die Schwangerschaft ist Ausdruck normaler und vitaler Funktion und die Krankheit bedeutet eine Komplikation fur die Schwangerschaft. Unser arztliches Denken sollte also darauf ausgerichtet sein, den KrankheitsprozeB zu bekampfen, nicht aber den gesunden Lebensvorgang zu ver nichten. So gesehen bedeutet die Fruchttotung nicht nur keinen heilenden Eingriff, sondern das Eingestandnis des Versagens aller Therapie. Unsere Anstrengung muB dahin gehen, die therapeutischen Moglichkeiten immer we iter zu entwicke1n, die Anzeigen zur Schwangerschaftsunterbrechung immer mehr einzuschranken, bis dieser Eingriff schlieBlich aus der Liste der wissenschaftlichen Operationen gestrichen werden kann. Dieses Bestreben allein entspricht einer biologischen, arztlichen und ethischen Auffassung von der Menschwerdung und von der Verantwortung des Arztes. Ohne diese umfassende Anschauung verkummert die Ehrfurcht vor dem Leben, reiBen die letzten Damme ein, die uns vor dem Chaos schutz en. Das Gesetz ermachtigt uns, den Keimling zu zerstoren, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter in einer nicht anders abwendbaren Gefahr sind. Das Gesetz setzt voraus, daB wir wissen, was Gesundheit ist. Wir wissen es aber nicht. Die Welt gesundheitsorganisation bezeichnet Gesundheit als "einen Zustand korperlichen, see1ischen und sozialen Wohlbefindens". Keiner von uns glaubt im Ernst, daB diese simple, utilitaristische Definition wirklich stimmt. In der materialistischen Lebens schau ist Gesundheit in erster Linie Arbeitsfahigkeit und Kriegstauglichkeit des Men schen. Wir sind nicht der Ansicht, daB diese Betrachtungsweise der Bestimmung des Menschen und dem Sinn seiner Krankheit gerecht wird. Gesundheit ist ein Idealbegriff und sie bleibt daher, wie jedes Ideal, in diesem Leben unerreichbar. Auch der Begriff "Gefahr" ist rei at iv, subjektiv und er wird, wie auf Seite 210 angedeutet, gleich anderen Begriffen, in verschiedenen Epochen ungleich gewertet. Wir sehen: trotz allen Gesetzen, die eine Indikation zur Schwangerschafisunter brechung anerkennen, liegt die Auslegung des Gesetzes und damit die Verantwortung fur eine Fruchttotung ausschlieftlich beim Arzt. Der kunstliche Abort, der ein in normaler Entwicklung begrijfenes kindliches Leben zerstort, erfordert also eine unantastbare, wissenschafilich stichhaltige Indikation. Die Voraussetzungen zur Aufstellung einer einwandfreien Indikation sind folgende: 1. Einwandfreie Diagnose der Krankheit mit allen Mitteln der modernen Unter suchungstechnik. Der praktische Arzt verfugt im allgemeinen weder uber die Kennt- 4 D. STUCKI nisse und die Erfahrung noch iiber die Einrichtungen, die heute fiir die griindliche AbkHirung eines Falles gefordert werden miissen. So kann die Indikation zur Schwan gerschaftsunterbrechung nicht in der Sprechstunde, sondern, zumal bei internen und psychiatrischen Erkrankungen, erst nach griindlicher klinischer Abklarung gestellt werden. 2. Richtige Prognose. Diese Aufgabe ist noch schwieriger als die vorige, denn sie basiert nicht allein auf objektiv nachweisbaren Veranderungen, sondern auf Erfahrung und Spezialkenntnissen, iiber die nicht jeder Arzt verfiigt. Indikationsstellung ist, mit wenigen Ausnahmen, ein prognostisches Urteil. Prognose aber ist wohl die schwierigste arztliche Kunst; sie ist ein Wahrscheinlichkeitsschlug, der sich auf die eigene und die statistische Erfahrung stiitzt und von den Moglichkeiten der Therapie abhangt. In der Beurteilung des Einflusses der Schwangerschaflsunterbrechung auf den weiteren Verlauf der Krankheit konnen wir nicht vorsichtig genug sein. Besserung oder Heilung des Leidens nach der Unterbrechung sind kein Beweis fiir einen kausalen Zusammenhang. Bei adaquater Therapie heilen die meisten Krank heiten auch wahrend der Schwangerschaft aus. Nicht so selten fordert die Graviditat, entgegen aller Erwartung, die Heilung der Krankheit. Bei manchen Krankheiten kann eine Verschlimmerung durch eine Unterbrechung nicht aufgehalten werden. Infolge dessen kann nicht jede Verschlimmerung durch das Austragen der Schwangerschaft dem Arzt zur Last gelegt und als Beweis falscher Beurteilung angesehen werden. Die Unterbrechung bedeutet also nicht immer die Beseitigung einer untragbaren Belastung des Organismus; sie ist und bleibt aber immer ein schwerwiegender Eingriff in einen normalen, biologischen Ablauf und dies in physischer und psychischer Hinsicht. 3. Nachweis der Erfolglosigkeit aller therapeutischen Maftnahmen. Bei der Koinzi denz eines Leidens mit einer Graviditat ist in erster Linie die Krankheit zu behandeln und diese kann heute in fast allen Fallen geheilt werden. Der Abortus artificialis ist der letzte Ausweg; er gehort ans aujJerste Ende aller therapeutischen Oberlegungen und Anstrengungen. Richtlinien sollen keine Dienstvorschrift oder Polizeiverordnung sein. Sie sollen der personlichen Einsicht und der Beurteilung des verantwortungsbewugten Arztes freien Raum gewahren. Sie soIlen nur raten und Oberblick geben fUr den, der Rat sucht und der aIle Moglichkeiten ernstlich priift, das keimende Leben zu erhalten. Suchen aber Schwangere und Arzt einen Weg, die Schwangerschaft zu unterbrechen, so werden sie ihn immer finden und bediirfen keiner Richtlinien. Wir aber werden stets fragen: wann mujJ und nicht, wann darf eine Graviditat vor der Zeit kiinstlich beendet werden. II. Belastung des Organismus durch eine normale Schwangerschaft D. STUCKI Im Laufe der Schwangerschaft voIlzieht sich unter der Fiihrung des Hypothalamus die Entwicklung zweier Systeme: des anatomo-biologischen Systems (Fetus und Pla zenta), das eine funktionelle und beinahe autonome Einheit darstellt und die Ent wicklung des zweiten Systems anregt, namlich des Adaptationssystems der Mutter. Die Manifestationen ihrer wechselseitigen Beeinflussung und Abhangigkeit sind sehr zahlreich. Belastung des Organismus durch eine normale Schwangerschaft 5 Die Entwicklung von Plazenta und Fetus mit ihrem stetig steigenden, an para sitare Lebensgemeinschaften erinnernden Fordern und Nehmen, stellt einen regel rechten Angriff auf den mlitterlichen Organismus dar und verursacht in ihm bedeu tende Umstellungen, evtl. sogar Storungen. Zwischen der Frucht und den von ihr im mlitterlichen Organismus ausgelosten Reaktionen kommt es zu einem gewissen, sehr labilen, stets zum Pathologischen tendierenden Gleichgewicht, das sorgfaltiger Oberwachung bedarf. Es ist daher berechtigt, nicht nur von funktioneller Anpassung des Organismus zu sprechen, welche die Gesamtheit der verschiedenen Aspekte dieses Gleichgewichtes umfaBt, sondern von einer eigentlichen funktionellen Oberlastung; dieser sind die Abwehr- und Aus gleichskrafte des mlitterlichen Organismus nicht immer gewachsen. Wir betrachten im folgenden, nach den verschiedenen Organen und System en geordnet, diese Reaktionen des mlitterlichen Organismus und ziehen daraus einige praktische Schliisse. Genitalorgane Der den Fruchtsack bergende Uterus vergroBert sich im Laufe der Schwanger schaft unter Wachstum, Verdlinnung und struktureller Umordnung ("Weiterstellung") seiner Wand betrachtlich. Sein Volumen nimmt bis zum Ende der Schwangerschaft ungefahr auf das 500fache des ursprlinglichen Volumens, die Masse auf das 20- bis 30fache zu. Das Uterusgewicht betragt bei der erwachsenen, nicht schwangeren Frau 30 bis 80 g. Der geburtsreife Uterus wiegt mit dem Fruchtsack 5000-6000 g; davon ent fallen 3000 auf den Fetus, 1000 auf die Amnionfllissigkeit, 600 auf die Plazenta und 1000-1500 auf den Uterus selbst. Die Lange der einzelnen Muskelzellen nimmt auf das 1o fa che, unter Umstanden so gar auf das 17-40fache zu (STIEVE). Ebenso nimmt die Breite ca. auf das 3fache und die KerngroBe auf das doppelte zu. Nach STIEVE ist Ferner mit einer Neubildung von Muskelzellen aus undifferenzierten Mesenchymzellen zu rechnen; in der Wochen bettsinvolution des Uterus gehen diese neugebildeten Muskelzellen groBtenteils zugrunde. Die Kapazitat der im unentfalteten Uterus mehr oder weniger torquiert verlau fend en Blut- und LymphgefaBe, insbesondere der groBen Venenplexus, wird durch Erweiterung, Streckung und Verlangerung der bestehenden, sowie durch Bildung neuer GefaBe bedeutend vergroBert. Die Fahigkeit zur Erweiterung des Uterus beruht neben dem Wachstum und der Vermehrung seiner Elemente auch auf dem strukturellen Geflige des Myometriums (Anordnung der Muskelfasern in Spiralen). Das Auftreten einer doppelten Querstreifung in den hypertrophischen Muskel fasern flihrte zu der Annahme, die glatte Muskulatur des Uterus wlirde in quer gestreifte umgewandelt. Man weiB heute, daB es sich urn Artefakte handelt. Diese interessante Entwicklung der Uterusmuske1fasern, die, obwohl histologisch glatt, physiologische Eigenschaften der quergestreiften Faser zeigt (Gehalt an kontraktilem EiweiB usw.), ist wahrscheinlich durch Ostrogenwirkung hervorgerufen, wahrend die Steuerung des Tonus und der Kontraktilitat vorwicgend dem EinfluB des gestagenen Hormons unterworfen zu sein scheint. Form, Konsistenz und Lage des Uterus verandern sich im Laufe der Schwanger schaft in charakteristischer Weise. In den beiden ersten Schwangerschaftsmonaten macht der Uteruskorper eine mehr konzentrische Hypertrophie durch; weich-auf ge10ckert liegt er zu dieser Zeit leicht anteflektiert im klein en Becken. Nach dem dritten Monat findet das Wachstum exzentrisch statt, so daB der Fruchthalter eine Langsachse aufweist, die mit der Langsachse des miltterlichen Korpers zusammenfallt.