KonegenlNitschke (Hrsg.) Revision des Grundgesetzes? Norbert KonegenlPeter Nitschke (Hrsg.) Revision des Grundgesetzes? Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) des Deutschen Bundestages und des B undesrates Leske + Budrich, Opladen 1997 ISBN 978-3-8100-1856-4 ISBN 978-3-322-95821-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95821-1 © 1997 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschlieBlich alJer seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des VerI ages unzuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfliltigungen, Ubersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Norbert KonegeniPeter Nitschke Vorwort..................................................................................................... 7 Marion Schmidt Die GKV - Auft rag, Zusammensetzung und Verfahren .......................... 9 Norbert Konegen Grundrechte und Staatszielbestimmungen ............... ....................... .......... 29 Peter Nitschke Grundgesetz und Europa .. ................ ............. ...... .................. .................... 57 Tobias Schmack-Reschke Biirgerbeteiligung und Plebiszite in der Debatte der Gemeinsamen Verfassungskommission.............................................. 77 RUdiger Kipke "Parlamentsrecht" ...................................................................................... 107 Ruth Wilhelmi Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen und Miinnem........... 121 Irene Gerlach Art. 6: Die Diskussion urn die Rechte und Pflichten der Familie und der nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Grundgesetz............... 141 Wilfried von Bredow 1m Schlagschatten des Bundesverfassungsgerichts. Die neu bestimmte Rolle der Streitkriifte in der AuBen- und Sicherheitspolitik des vereinigten Deutschland......................................... 159 Birgit Schillings Asylrecht und Grundgesetz ....................................................................... 177 Karen Schonwa/der Schutz ethnischer Minderheiten .............................................................. 197 6 Inhalt Elmar Eggert Der Bereich Staatskirchenrecht in der Gemeinsamen Verfassungskommission und dessen Grundlagen .. ... ...... ... .... .... ............... 217 Matthias Kurp Die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission und ihre Auswirkung ................................................................................. 233 Norbert KonegeniPeter Nitschke Ausblick: Von der Substanz der Verfassung ............................................. 241 Sachregister . .... ....... ....... ............................... ...................... ..... ..... ............. 245 Personenregister ..... ............. ........ ........................... ........... ..... ....... ............ 249 Autorenverzeichnis .................................................................................... 251 Vorwort Wer oder was ist die Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) gewesen? Wie hat sie gearbeitet und was hat sie bewirkt? - Darauf sollen in diesem Band Antworten mit dem Ziel gegeben werden, eine Art Standortbestimmung zur aktueUen Verfassungskultur der Bundesrepublik Deutschland in Umrissen zu versuchen. Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, die den Aufirag des Einigungsvertrages erfiiUen soUte, "sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgewor fenen Fragen zur Anderung oder Erganzung des Grundgesetzes zu befassen" und damit das Grundgesetz auf seine Eignung fiir ein Gesamtdeutschland zu tiberpriifen, hat in ihrer Tiitigkeit und ihrem Bestehen zwischen dem 16. Januar 1992 und dem 28. Oktober 1993 eine Vielzahl von verfassungsrelevanten Ma terien sondiert, in zum Teil heftigen Debatten erortert und schlieBlich eine ver gleichsweise geringe Anzahl von Vorschliigen zu Gesetzesanderungen in Kon sensformeln gebracht. Trotz der groBen Bedeutung, die diesem nach dem Par lamentarischen Rat einmaligen Gremium im Verfassungsleben der Bundesre publik Deutschland zukommen soUte, ist die Arbeit der GVK von der politisch interessierten Offentlichkeit nur wenig beachtet worden. Dies ist urn so bemer kenswerter, weil irn Kontext von Artikel 5 des Einigungsvertrages bereits im Vorfeld ihrer Konstituierung nicht nur tiber eine Revision des Grundgesetzes, sondem auch tiber eine plebiszitiir legitimierte Neuschopfung der Verfassung diskutiert wurde. Faktisch ist diese Debatte mit der Einrichtung der GVK kana lisiert worden - zu Lasten des offentlichen Diskurses. Die Ergebnisse der GVK stehen somit exemplarisch fUr den verfassungs politischen Kurs der Bundesrepublik Deutschland. Sie zu dokumentieren und zu bewerten war Ausgangspunkt fUr diesen Sammelband, in dem erstmalig die Auseinandersetzungen innerhalb der GVK zu zentralen verfassungs- und ge seUschaftspolitischen Themen wie Plebiszit, GleichsteUung von Mann und Frau, Umwelt und sozialen Grundrechten vereint und in Korrelation zu Aussa gen in der jeweiligen Fachliteratur gesetzt sind. Das Buch grenzt sich hier inso fern konzeptioneU von anderen Publikationen zur Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission abo Die Autoren versuchen, die Kommissionsarbeit themengeleitet zu untersuchen, d.h. sie zeichnen anhand eines Beratungsge genstands die gesamte Diskussion in der Kommission selbst, aber auch das Vorfeld sowie die juristischen und geseUschaftspolitischen Konsequenzen nacho 8 lnhalt Dem Leser wird somit sowohl ein Uberblick tiber die Arbeit der GVK im all gemeinen wie auch im speziellen gegeben. Unter dieser Aufgabenstellung wird deutlich, welche Antrage zu Geset zeslinderungen im Forum der GVK tiberhaupt diskutiert worden sind und in welcher Art und Weise - verfahrenstechnisch wie inhaltlich - etwa Diskurse lemente ausgegrenzt worden sind. Anhand der neun Anhorungspunkte wird ex emplarisch dargestellt, wie die parteipolitischen Frontstellungen aus Bundestag und Bundesrat die Diskussionslinien innerhalb der Verfassungskommission von Anfang an so deutlich bestimmten, daB letztendlich die Arbeitsergebnisse sehr minimalisiert blieben. Die einzelnen Beitrage hierzu folgen in ihrer Gliederung konzeptionell der Chronologie der Anhorungssachen. In ihnen wird jeweils das Pro und Kontra der Streitpunkte unter politikwissenschaftlichen Kriterien beleuchtet. Sie setzen sich damit ausdriicklich von dem juristisch geflihrten Diskurs in der GVK abo Dariiber hinaus sind mit der Charakterisierung der Verfahrensmuster und per sonellen Rekrutierungsmechanismen sowie der Medienwirkung der GVK und nicht zuletzt mit der Behandlung der Frage des Staatskirchenrechts drei ergan zende Beitrage aufgenommen worden, welche die Gesamtintention des Sam melbandes konzeptionell abrunden sollen. Die Idee zu diesem Sammelband ist aus zwei Seminaren, die von den bei den Herausgebern im Wintersemester 93/94 und im Wintersemester 94/95 an der WestHUischen Wilhelms-Universitat veranstaltet wurden, hervorgegangen. Ftir die Beitrage hierzu fanden sich sowohl Studierende wie Lehrende zusam men, von denen sich jeder in unterschiedlicher Zielsetzung umfassend mit der Auswertung von Sitzungsprotokollen, Anhorungsberichten und Begleitpublika tionen zu seinem Themenkreis auseinandergesetzt hat. Entstanden ist eine Auf satzsarnrnlung, die sich mit der gesamten Bandbreite aktueller verfassungspoli tischer Fragestellungen beschiiftigt und zum Teil tiber die Arbeit der Verfas sungskommission weit hinausreichende Fragen und Konsequenzen formuliert. Somit versteht sich dieser Sammelband auch als ein Reader zum verfassungs politischen Kurs der Bundesrepublik Deutschland in der gegenwlirtigen Situati- on. Eine letzte abschlieBende Bemerkung: Obwohl es den Anschein haben mag, daB seit dem Ende der GVK viel Zeit flir die wissenschaftliche Aufarbei tung der Materialien zur GVK gegeben war, trifft dieser Anschein hier nur be dingt zu. Zwei Jahre Recherche sind bei komplexen Materien, wie der vorlie genden, letztendlich nur ein geringes Zeitpolster. Daher gilt: Der vorliegende Band ware nicht so schnell zustandegekommen, wenn nicht aIle beteiligten Ko autorinnen und -autoren die Protokollbesilinde zur GVK in dem zur Verfligung stehenden Zeitrahmen sachgerecht bearbeitet hatten. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Der Dank gilt insbesondere auch den beiden Sekreilirinnen in Essen, Isabel Rox und Karin Lentes, die in der AbschluBphase mit Hochdruck die redaktionelle Endfassung erstellt haben. KolniEssen im November 1996 Die Herausgeber Marion Schmidt Die GVK - Auft rag, Zusammensetzung und Verfahren 1. Einfohrung Man stelle sich ein Dominospiel vor: Sobald ein Stein kippt, reiBt er eine ganze Reihe weiterer nach sich. Nach diesem Prinzip lassen sich auch die Rahmenbedingungen der GVK darstellen, die Thema dieses Beitrages sind. Der AnstoB, wenn man so will, kam von den Menschen in der DDR, die durch ihren Protest gegen das iiberkommene sozialistische System in ihrem Land den Boden fUr eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten berei teten. Zwei Wege fiihrten zu diesem Ziel: Die DDR konnte dem Geltungsbe reich des Grundgesetzes nach Art. 23 in der alten Fassung des Grundgesetzes beitreten. Die Vereinigung konnte jedoch auch iiber die NeuschOpfung einer Verfassung vollzogen werden, iiber die gemliB Art. 146 a.F. GG "das deut sche Yolk in freier Entscheidung" abstimmen sollte. Die Diskussion um den verfassungsrechtlichen Weg zur deutschen Ein heit bestimmten in der ersten Halfte des Jahres 1990 nicht nur Politiker und Staatsrechtler, sondern auch zahlreiche Verfassungsinitiativen in Ost und West. Diese setzten sich, zum Teil mit eigenen Verfassungsentwiirfen, mehr heitlich fUr eine basisdemokratische Variante der Vereinigung ein. Die ver antwortlichen politischen Krafte entschieden sich jedoch aus verschiedenen Griinden, die noch naher darzulegen sind, fiir die Option des Beitritts, des Art. 23 a.F. GG. Der nachste Spielstein, der nach dieser Entscheidung kippte, trug die Schrift des Einigungsvertrages. In ihm wurde nicht nur die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt, sondern auch die Frage nach Verfassungsan derungen im Zuge der Wiedervereinigung gestellt. In Art. 5 wird den gesetz gebenden Organen empfohlen, sich "mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenenen Fragen zur Anderung oder Erganzung des Grundgesetzes zu befassen" (Wortlaut Art. 5 Einigungsvertrag). Es sollte eineinhalb Jahre dauern, bis der nachste Stein fiel und sich am 16. Januar 1992 die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat als das Gremium konstituierte, das den Auft rag des Eini gungsvertrages fiir Verfassungsanderungen erfiillen sollte. Der Beitrag tbe matisiert einerseits die personelle Zusammensetzung und die Verfahrenswei- 10 Marion Schmidt se, andererseits soli versucht werden, die Struktur und die Arbeitsweise der Kommission an ihren Vorgaben, ihrem Auft rag und ihren Vorlaufern in den verschiedenen Verfassungsinitiativen ergebnisorientiert nachzuzeichnen. 2. Das politische Voifeld 2.1. Der AusLOser: Die ,Herbstrevolution' in der DDR Am Anfang war die Revolution. Ohne den zweifellos dramatischen und ra santen UmbruchprozeB, der im Herbst des Jahres 1989 in der damaligen DDR beg onnen hatte, hatte es nicht nur bereits ein knappes Jahr spater eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten zu diesem Zeitpunkt der Ge schichte gegeben, es hatte wohl auch keine Diskussion urn eine Reform des Grundgesetzes stattgefunden. Die Vereinigungsdiskussion bot fUr die Verfassungsdiskussion jedoch nur den aktuellen historischen AnlaS, es gab indes auch andere Impulse, die ein Nachdenken tiber das Grundgesetz notwendig machten: Die europaische Integration beispielsweise oder auch langst tiberfallige Reformthemen aus den 80er Jahren, wie etwa der Umweltschutz, die Verabschiedung der Lan desverfassungen in den neuen Bundeslandern. Eine umfassende Reform des Grundgesetzes wurde das letzte Mal vor rund zwanzig Jahren in einer Enque te-Kommission des Deutschen Bundestages angedacht.1 Erst durch die Wie dervereinigung bot sich den Deutschen die historisch einmalige Chance, nach tiber vierzig Jahren das "bewlihrte" (so u.a. Scholz 1993, 3 u. 5; Schauble 1991, 288), aber eben nicht fUr alle Deutschen geschaffene Grundgesetz auf seine Tauglichkeit fUr ein geeintes Deutschland hin zu tiberprtifen und es zu einer gesamtdeutschen Verfassung zu machen. Dabei bestimmte eine Vereinigung von DDR und Bundesrepublik Deutschland zunachst gar nicht die Proteste der Menschen im Herbst 1989 in der DDR. 1m Vordergrund standen die Forderungen nach Mitbestimmungs recht, Meinungs- und Reisefreiheit sowie freie Wahlen. Das alte SED-Regi me sollte gestiirzt, die Lebensbedingungen innerhalb der DDR geandert wer den. Doch konnten die von Ministerprasident Hans Modrow in Aussicht ge stellten Reformen viele DDR-Btirger nicht zum Bleiben bewegen. Die Aus reise von Fliichtlingen in die Bundesrepublik stieg krisenhaft an und stellte sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik vor Probleme, die politische Konsequenzen forderten. An die Phase des Kampfes fUr Demokratisierung schloB sich alsbald die nationale Wende der Revolution an (Korte 1994, 82). Aus der Parole "Wir sind das Volk" wurde "Wir sind ein Volk". Nachdem S. Deutscher Bundestag (Hrsg.) 1976 u. 1977: Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform. SchluBbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundes tages. Bonn (Reihe "Zur Sache" Nr. 3176 und Nr. 2177) Die GVK - Auftrag, Zusammensetzung und Verfahren 11 Bundeskanzler Helmut Kohl Ende November einen Zehn-Punkte-Plan zur Uberwindung der TeiIung Deutschlands vorgelegt hatte, konkretisierten sich dann die Einigungsbestrebungen auf beiden Seiten (vgl. dazu etwa Korger 1993 sowie Schauble 1991). 2.2. Zwei Wege fohrten zur deutschen Einheit: Die veifassungsrechtlichen Voraussetzungen for eine Wiedervereinigung Als sich abzeichnete, daB eine Wiedervereinigung greifbar nahe ruckte, be gann eine Diskussion tiber den einzuschlagenden verfassungsrechtlichen Weg. Nach dem Grundgesetz gab es zwei Maglichkeiten. Einerseits bezeich nete sich das Grundgesetz in seiner alten Praambel als eine yom deutschen Yolk in den westlichen Besatzungszonen "ftir eine Ubergangszeit" gegebene Verfassung, die aber fUr diejenigen Deutschen, "denen mitzuwirken versagt war", mithandeln sollte. Weiter hieB es dort, "daB das gesamte deutsche Yolk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" (WortIaut Praambel des GG in seiner Fassung vor 1990). Dementsprechend beinhaltete das Grundgesetz in Art. 146 a.F. GG eine Bestimmung, die fUr diesen Fall der FaIle Anwendung finden sollte. Darin wird die Geltungsdauer des Grundgesetzes bis zu dem Tag festgesetzt, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist" (WortIaut Art. 146 a.F. GG). Man hat aus diesen Passagen des Grundgesetzes eine Verpflichtung ftir seine Staats organe gefolgert, die Wiedervereinigung Deutschlands anzustreben. Ande rerseits konnte eine Vereinigung beider deutscher Staaten auch nach Art. 23 a.F. GG durch den Beitritt anderer Teile Deutschlands zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erfolgen. Kontinuitat oder Neubeginn? - "Holzweg" oder "Kanigsweg,,?2 Welcher Weg in der Verfassungsfrage einzuschlagen sei, dariiber erhitz ten sich im Fruhjahr 1990 die Gemtiter deutscher Politiker und Verfassungs rechtler (siehe u.a. GuggenbergerlStein 1991). Ftir die einen galt es jetzt, das als unzureichend legitimiert empfundene Grundgesetz, das seinerzeit als Ubergangsverfassung geschaffen wurde, durch eine Verfassung abzu16sen, die mit einer Volksabstimmung beschlossen werden sollte (so u.a. Mahren holz 1991,220; Simon 1990,9-17; Evers 1990,931-945; Recht und Politik 1990). Ftir die anderen bedeutete dieser Weg der "Aufbruch in eine andere Republik" (Schauble 1990,291). Eine Verfassung mit Volksentscheid wtirde "die Gesellschaft repolitisieren und die optimale FunktionserfUllung staren" 2 Den Begriff "Holzweg" pragte Altbundeskanzler WiIIy Brandt in bezug auf Art. 23 a.F. GG; Bundeskanzler Helmut Kohl konterte mit der Metapher vom "Konigsweg" flir Art. 146 a.F. GG, und Konigswege dUrfe es in einer Republik nicht geben. Vgl. Haberle 1992, 236.