3 RESSOURCENORIENTIERT MIT FAMILIEN ARBEITEN QUALIFIZIERUNGSMODUL FÜR FAMILIENHEBAMMEN UND FAMILIEN- GESUNDHEITS- UND KINDERKRANKEN- PFLEGERINNEN UND -PFLEGER QUALIFIZIERUNGSMODULE FÜR FAMILIENHEBAMMEN UND FAMILIEN- GESUNDHEITS- UND KINDERKRANKEN- PFLEGERINNEN UND -PFLEGER KOMPETENZORIENTIERTES ARBEITEN IN DER QUALIFIZIERUNG VON FAMILIENHEBAMMEN UND FAMILIEN- GESUNDHEITS- UND KINDERKRANKEN- PFLEGERINNEN UND -PFLEGERN AUFGABEN UND ROLLE KLÄREN 1 QUALIFIZIERUNGSMODUL 1 VERNETZT ARBEITEN 2 QUALIFIZIERUNGSMODUL 2 RESSOURCENORIENTIERT 3 MIT FAMILIEN ARBEITEN QUALIFIZIERUNGSMODUL 3 GESPRÄCHE MIT FAMILIEN FÜHREN 4 QUALIFIZIERUNGSMODUL 4 ELTERLICHE KOMPETENZEN STÄRKEN 5 QUALIFIZIERUNGSMODUL 5 ENTWICKLUNG BEGLEITEN 6 QUALIFIZIERUNGSMODUL 6 ELTERN-KIND-INTERAKTION BEGLEITEN 7 QUALIFIZIERUNGSMODUL 7 LEBENSWELT FAMILIE VERSTEHEN 8 QUALIFIZIERUNGSMODUL 8 MIT MÖGLICHEN HINWEISEN AUF 9 KINDESWOHLGEFÄHRDUNG UMGEHEN QUALIFIZIERUNGSMODUL 9 Über neu erschienene Qualifizierungsmodule und andere Publikationen des NZFH informiert der METHODENSAMMLUNG Newsletter des NZFH. Kostenfreies Abo unter: www.fruehehilfen.de/newsletter RESSOURCENORIENTIERT Redaktion: MIT FAMILIEN ARBEITEN Felsenweg-Institut der QUALIFIZIERUNGSMODUL Karl Kübel Stiftung FÜR FAMILIENHEBAMMEN UND FAMILIEN- Margot Refle Christiane Voigtländer GESUNDHEITS- UND KINDERKRANKEN- PFLEGERINNEN UND -PFLEGER Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) Karin Schlipphak Eva Sandner Michael Hahn 4 | MODUL 3 INHALTSVERZEICHNIS FACHLICHE GRUNDLAGEN 1 Hinführung . ................................................................................... 7 2 Auf welche kompetenzorientierten Ziele und Inhalte ist dieses Modul ausgerichtet? ..................... 7 3 Was sind die zentralen Wissensbestände zum Modulthema? 3.1 Welches Wissen ist für die ressourcenorientierte Arbeit grundlegend? .................................. 8 3.2 Wie können Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und -pfleger ressourcenorientiert mit Familien arbeiten? .......................................................... 12 4 Material und Literatur ......................................................................... 17 SEMINARPLANUNG 1 Methodisch-didaktische Schwerpunkte des Moduls ................................................ 21 2 Seminarleitfaden .............................................................................. 24 MODUL 3 | 5 3 FACHLICHE GRUNDLAGEN Autorin: Margarita Klein 6 | MODUL 3 © Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) und Felsenweg-Institut der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie MODUL 3 | 7 1 HINFÜHRUNG Menschen verfügen – manchmal offen, oft verborgen – über individuelle Stärken, Fähigkeiten und Möglichkeiten. Diese nutzbar zu machen für die Bewältigung von belastenden Lebenslagen und so die Qualität der Hilfe für Familien zu verbessern, genau daran setzt das Konzept des ressourcenorientierten Arbeitens an. Die verfügbaren Ressourcen zeichnen dabei die von Familie und Fachkraft gemeinsam geleistete Entwicklung von Lösungswegen vor. Dieser Blick auf bereits Gelungenes und mögliche Lösungen stellt eine kons truktive und partnerschaftliche Form der Zusammenarbeit mit Familien dar. Das vorliegende Modul 3 skizziert, wie FamHeb und FGKiKP in der Arbeit mit Familien Ressourcen entdecken, diese den Menschen zugänglich machen und damit zur Bewältigung von belastenden Lebenslagen beitragen können. In den Kompetenzprofilen für FamHeb und FGKiKP1 sind eigenen Ressourcen und die (in) der Umwelt bewusst und Kompetenzen formuliert, die ressourcenorientiertes Arbeiten nutzbar zu machen. Dahinter steht ein besonderes Bild der in den Fokus rücken (vgl. NZFH 2013 und NFZH 2014). Quer Zusammenarbeit mit den Familien: Es geht darum, Eltern2 durch die Modulthemen wird FamHeb und FGKiKP nahe- als v erantwortliche Erziehungsberechtigte zu begreifen. Auch gelegt, mit Familien wertschätzend und ressourcen- sowie und gerade in Krisensituationen gilt es, ihre Erziehungsleis- lösungsorientiert zu arbeiten. Modul 3 spezifiziert diese tung anzuerkennen – und diese weiter zu fördern. Das mag Heran gehensweise an die Arbeit mit Familien und schafft leicht und einfach klingen, doch die größte Herausforderung damit eine Basis, die allen Modulthemen zugrundeliegt. für FamHeb und FGKiKP ist dabei erfahrungsgemäß, ganz Ressourcenorientierung wird dabei als Grundhaltung bewusst und konsequent an dieser Sichtweise festzuhal- verstanden, mit der Fachkräfte sowohl den Familien als ten, besonders dann, wenn Familien sehr belastet sind und auch sich selbst und ihren Kooperationspartnerinnen und den Fachkräften bei den ersten Kontakten vielleicht wenig -partnern begegnen. Dazu gehört, Familien auch und gerade positive Tendenzen auffallen mögen. in Krisensituationen dabei unterstützen zu können, sich die 2 AUF WELCHE KOMPETENZORIENTIERTEN ZIELE UND INHALTE IST DIESES MODUL AUSGERICHTET? Welche Kompetenzen sind bedeutsam? ■ können Eltern dabei unterstützen, sich selbst zu helfen Die FamHeb und FGKiKP in den Frühen Hilfen: und eigene Ressourcen zu aktivieren. ■ kennen verschiedene Ansätze und Modelle ressourcen- ■ können prozess- und lösungsorientiert mit den Eltern orientierten Handelns. arbeiten. ■ kennen verschiedene Methoden ressourcenorientierten Arbeitens und können sie anwenden. ■ kennen verschiedene psychosoziale und gesundheitliche Ressourcen und Belastungsfaktoren. ■ kennen Einschätzungshilfen zur Erkennung von Res- sourcen und Belastungen. ■ kennen Strategien, auch bei hoher Belastung einer Fami- 1 Im Folgenden werden für die Berufsbezeichnungen Abkürzungen verwen- det: Familienhebamme = FamHeb, Familien-Gesundheits- und Kinderkran- lie Ressourcen zu entdecken. kenpflegerinnen und -pfleger = FGKiKP. ■ können Ressourcen benennen und Familien ihre Res- 2 Primäre Bezugspersonen können leibliche oder soziale Eltern(teile) sein. sourcen bewusst, erfahrbar und zugänglich machen. Im Sinne der Lesbarkeit des Textes wird hier von »Eltern« gesprochen. © Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) und Felsenweg-Institut der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie 8 | MODUL 3 ■ können gemeinsam mit den Eltern eine positive Entwick- Welche Inhalte sind bedeutsam? lungsperspektive, realistische und gestufte Ziele sowie Um Familien in belastenden Lebenslagen professionell be- Strategien zu deren Umsetzung entwickeln. gleiten zu können, ist es von großer Bedeutung, bei der Ent- ■ können empathisch mit den Eltern sein, in der Inter- wicklung von Lösungen daran anzuknüpfen, welche Res- aktion auch Nuancen wahrnehmen sowie positive sourcen in den Familien bereits vorhanden sind und welche Gefühle und Motive verstärken. Wege und »Rezepte« gut funktionieren oder bereits funktio- ■ können ihren Blick auf die Familie hinsichtlich der Ge- niert haben. Modul 3 bestärkt deshalb FamHeb und FGKiKP: wichtung von Ressourcen- bzw. Belastungsorientierung ■ eine wertschätzende Haltung gegenüber Eltern einzuneh- reflektieren. men und sie als kompetente Partnerinnen und Partner ■ können die Balance zwischen Fürsorge für eine Familie der Zusammenarbeit anzuerkennen. und deren Autonomie kritisch reflektieren und gege- ■ Eltern die eigenen Ressourcen bewusst und zugänglich benenfalls Konzepte der eigenen Arbeit situations- zu machen. angemessen verändern. ■ gemeinsam mit den Eltern nach vorne zu blicken und ■ können sich eigene Ressourcen vergegenwärtigen und – aufbauend auf ihren Ressourcen – passende Lösungs- Zugang zu eigenen Kraftquellen finden. wege zu entwickeln. ■ können eigene psychosoziale oder gesundheitliche Belastungen erkennen und sich Unterstützung durch Wichtige Inhalte sind: kollegiale Beratung, Fachberatung oder Supervision ■ Grundannahmen und Haltung der Ressourcenorientie- einholen. rung (Bild vom Menschen, der mit Ressourcen ausgestat- ■ können Möglichkeiten und Grenzen des eigenen pro- tet ist, um Problemlagen zu meistern) fessionellen Handelns in den Frühen Hilfen einschätzen, ■ Konzepte und Modelle ressourcenorientierten Arbeitens, gegebenenfalls weitere Fachkräfte hinzuziehen oder im Besonderen: Salutogenese, Resilienz, Embodiment, die Familie weitervermitteln und sich von der Familie Empowerment verabschieden. ■ Anregungen für ressourcenorientierte Gesprächsführung Vgl. hierzu die Kompetenzformulierungen zu Handlungs- ■ Anregungen zum Erkennen von Ressourcen in belasten- anforderung 6 im Kompetenzprofil Familienhebammen den Lebenssituationen (NZFH 2013) und Handlungsanforderung 2 im Kompetenz- ■ Handlungsmöglichkeiten, um Familien ihre Ressourcen profil Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin- bewusst, konkret erfahrbar und zugänglich zu machen nen und -pfleger (NZFH 2014). ■ Bewusster Umgang mit eigenen Ressourcen 3 WAS SIND DIE ZENTRALEN WISSENSBESTÄNDE ZUM MODULTHEMA? 3.1 WELCHES WISSEN IST FÜR DIE RESSOURCEN- ORIENTIERTE ARBEIT GRUNDLEGEND? Was ist Ressourcenorientierung? zu nutzen und dabei auf Lösungen hinzuarbeiten, statt die Ressourcen befähigen Menschen, (sinnvoll) zu handeln. Probleme (übermäßig) zu thematisieren. Alban Knecht und Franz-Christian Schubert definieren Die Grundannahme der Ressourcenorientierung geht Ressourcen als »personale, soziale und materielle Gegeben- davon aus, dass jeder Mensch über Ressourcen verfügt, um heiten, Objekte, Mittel und Merkmale, die das Individuum belastende Lebenssituationen zu meistern. Sie basiert also nutzen kann, um die externen und internen Lebensanforde- auf der Überzeugung, dass Menschen kompetent sind für ihr rungen und Zielsetzungen zu bewältigen« (Knecht/Schubert Leben und sich auf Basis ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und 2012, S. 16). Ressourcenorientiertes Arbeiten bedeutet in Möglichkeiten in Richtung ihrer Ziele, Wünsche und Träume diesem Sinne, die vorhandenen Potenziale zu entdecken und entwickeln. © Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) und Felsenweg-Institut der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie MODUL 3 | 9 Ressourcen liegen »in« den Menschen selbst oder in ihrer Ressourcen aktivierend wirkt und in den Menschen Poten- Umwelt (siehe Modul 8 »Lebenswelt Familie verstehen«). ziale freisetzt, kreative Lösungen zu entwickeln. Stehen dage- Als Ressourcen wirksam werden können Zeit, Raum, Geld, gen zu sehr Probleme und Schwierigkeiten im Mittelpunkt, soziale Beziehungen, persönliche Stärken und Fähigkeiten kann dies zu passivem Verhalten führen; Menschen fühlen (etwa Intelligenz, Beziehungsfähigkeit, Fantasie, Optimis- sich dann eher hilflos und gelähmt. Oder wie Steve de Shazer mus, körperliche Widerstandskraft und Beweglichkeit u.a.), es zusammenfasst: »Problem talk creates problems, solution Lebenserfahrung, Bildung – und die Hoffnung darauf, dass talk creates solutions – Wer über Probleme spricht, schafft eine gute Entwicklung möglich ist. Dies gelingt der Familie Pro bleme. Wer über Lösungen spricht, schafft Lösungen« oder dem einzelnen Menschen dann, wenn die Ressourcen (de Shazer, 1989a). als solche wahrgenommen und zur Gestaltung des Lebens, zum Wohlbefinden und zur Bewältigung von Herausfor- Der Gedanke der Ressourcenorientierung sowie die Kon- derungen und Belastungen eingesetzt werden (vgl. Knecht/ zepte zu Resilienz und Salutogenese sind inzwischen grund- Schubert 2012). legend für die Arbeit mit Familien geworden und stellen damit auch eine Basis für die Aufgaben von FamHeb und Vor diesem Hintergrund ist die Erfahrung von Selbstwirk- FGKiKP dar. Besonders bei der Arbeit mit Familien in belas- samkeit zentral: Selbstwirksamkeit ist »die subjektive Gewiss- tenden Lebenslagen kommt es darauf an, die Aufmerksam- heit, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund keit nicht zu stark auf die Belastungen zu richten, sondern eigener Kompetenzen bewältigen zu können« (Schwarzer vielmehr jene Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erkennen, 2004, S. 12). Sich auf die eigenen Ressourcen zu konzentrieren, zu benennen und zu fördern, die es den Familien ermögli- stärkt die Selbstwirksamkeit. Und diese wiederum erhöht die chen, ihr Leben zu meistern. tatsächliche Wirkungswahrscheinlichkeit. Ressourcenorientierung ist immer auch mit der Orientierung Doch wie kann dies gelingen? Auf welche Art Belastungen an Lösungen verbunden (vgl. den Abschnitt zur Lösungs- bewertet werden und ob die zur Verfügung stehenden Mög- orientierung nach Milton Erickson in Modul 4 »Gespräche lichkeiten, diese zu bewältigen, erkannt werden, variiert von mit Familien führen«). In der sozialwissenschaftlichen For- Individuum zu Individuum – und ist gut beeinflussbar durch schung wurden lange Zeit (und werden teilweise immer noch) gezielte Interventionen. FamHeb und FGKiKP können un- Belastungen, Risiken und damit Problemursachen in den ter Zuhilfenahme bestimmter Strategien gemeinsam mit den Fokus gerückt. Der Ressourcenansatz möchte dem ein n eues Familien den Zugang zu deren Ressourcen entdecken (vgl. Paradigma gegenüberstellen, indem der Blick zuallererst Storch 2000). auf Lösungen und die Ursachen für Wohlbefinden gerichtet wird. Grundannahme ist dabei, dass diese Fokussierung auf Zentrale Fragen ■ Was kann für eine Familie in belastender Lebenssituation zur Ressource werden? ■ Was macht die Orientierung an Ressourcen aus? ■ Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Umgang mit eigenen Ressourcen und der Arbeit mit den Ressourcen der Familie? Konzepte und Modelle ressourcenorien- Arbeit von FamHeb und FGKiKP als unmittelbar nutzbar tierten Arbeitens erwiesen haben. Unter dem Begriff der Ressourcenorientierung sind in den letzten Jahren zahlreiche Modelle und Konzepte entstanden Salutogenese bzw. ausdifferenziert worden. An dieser Stelle lohnt sich die Der Begriff Salutogenese bedeutet übersetzt »Gesundheits- nähere Beschäftigung mit den Konzepten Salutogenese, Re- entstehung« und entstand als Gegenbegriff zum medizini- silienz, Embodiment und Empowerment, da sie sich für die schen Begriff der Pathogenese, also der Krankheits entstehung. © Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) und Felsenweg-Institut der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie 10 | MODUL 3 Das Konzept wurde in den 1970er-Jahren von Aaron Hier findet sich auch der Anknüpfungspunkt für die Arbeit Antonovsky entwickelt (vgl. Antonovsky 1997). Der US- von FamHeb und FGKiKP: Sie können die Familien dabei amerikanische Soziologe versteht Gesundheit nicht einfach unterstützen, die eigenen Besonderheiten zu entdecken. als Zustand, sondern als Prozess; Gesundheit und Krank- Erkennt der einzelne Mensch, dass ihm viele Handlungs- heit sind für ihn keine Gegensätze, sondern zwei Pole eines möglichkeiten zur Verfügung stehen (die er vielleicht auch Kontinuums. Die wichtigsten Fragen, die Aaron Antonovsky gemeinsam mit der Fachkraft ausbauen oder entwickeln beschäftigen, sind: Was macht Menschen gesund? Wie kann konnte), kann er die unweigerlich auftretenden Stressoren Gesundheit erhalten werden? Wie leben Menschen gesün- anders bewerten. der? Sein Konzept liegt heute vielen Handlungsansätzen im Gesundheits- und Sozialbereich zugrunde (vgl. Bengel u.a. Resilienz 2001). Resilienz ist die »Kunst […] gegen alle Erwartungen aus Gesundheit wird im Salutogenese-Konzept definiert als die widrigen Umständen etwas Gutes zu machen« (Welter- Fähigkeit, Belastungen und Unwohlsein zu bewältigen und Enderlin 2012, S. 10). Damit ist die Fähigkeit eines Systems wieder zu größerem Wohlbefinden zu kommen. Wird das oder eines Menschen gemeint, mit Veränderungen umzuge- Leben verstanden als ein wilder Fluss, ist es die Aufgabe des hen, sich wie ein Stehaufmännchen immer wieder aufzurich- Menschen, darin zu schwimmen, nicht ihn zu begradigen. ten. Rosmarie Welter-Enderlin definiert Resilienz folgender- Manchmal ist das Schwimmen mühevoll, manchmal schla- maßen: »Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen gen einem die Wellen über den Kopf und zu anderen Zeiten verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf ist es leicht und lustvoll. Die entscheidende Frage ist, wie persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern Menschen zu besseren Schwimmern werden können, egal, an und als Anlass für Entwicklung zu nutzen« (Welter-Enderlin welcher Stelle des Flusses sie sich gerade befinden (vgl. Bengel 2012, S. 13). u.a. 2001). In ihrer Langzeitstudie beobachteten und beschrieben Emmy Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit schwierigen Werner und Ruth Smith über 40 Jahre lang die erstaunliche Ereignissen (Stressoren) konfrontiert. Menschen unterschei- Widerstandsfähigkeit mancher Kinder und Jugendlicher, den sich darin, wie sie diese Stressoren bewerten und wie sie die trotz belastender Umweltbedingungen ein zufriedenes dann darauf reagieren. Dabei ist vor allem das Empfinden Leben als Erwachsene führten (vgl. Werner 2012). Resilienz wichtig, mit dem Stressor selbst zurande zu kommen – und lenkt den Blick gerade auch auf die Schwierigkeiten, Brüche wie viele verschiedene Handlungsmöglichkeiten dem Einzel- und traumatischen Erfahrungen in einem Leben; ohne nen in einer Krise zur Verfügung stehen (vgl. Antonovsky diese Krisen würde Resilienz gar nicht sichtbar. Im Fokus 1997). Ein Schlüsselbegriff ist hier die Kohärenz, das Emp- des Resilienzbegriffs stehen Menschen in ihrer natürlichen finden eines inneren Zusammenhangs und eines äußeren Umwelt, Resilienz entfaltet sich meist ganz ohne das Eingrei- Zusammenhalts: Ich kenne mich, ich weiß, wer ich bin und fen professioneller Fachkräfte. So lässt sich für die Beglei- ich gehöre zu einem größeren sozialen Gefüge, habe einen tung von Familien in belastenden Lebenslagen viel davon Platz in der Welt und kann auf diese auch gestaltend einwir- lernen, wie sich Menschen von widrigen Umständen zwar ken. Wenn ein Mensch versteht, was und wie ihm geschieht, erschüttern lassen, aber nicht daran zerbrechen. Wie das im wenn er seinen Handlungsspielraum kennt, ihn nutzen kann Einzelfall gelingt, ist sehr individuell und von vielen Fakto- und im Geschehen einen Sinn sieht, wird er eher in der Lage ren abhängig. Resilienz ist ein komplexes Zusammenspiel sein, Kohärenz zu empfinden. Je größer die Kohärenz, umso aus P ersönlichkeitsmerkmalen und Umweltfaktoren: größer auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, mit Humor, Intelligenz, ein stabiles Nervenkostüm und religiöse belastenden Situationen gut umgehen zu können. Eine gute Überzeugungen zählen ebenso zu Resilienzfaktoren (Caspi persönliche Voraussetzung, um Kohärenz erleben zu können, u.a. 2000/2003, zit. in Werner 2012) wie ein gewisses Maß an ist ein ausgeprägter »Eigensinn«. Er entsteht in der Interak- guten sozialen Erfahrungen, beispielsweise dass mindestens tion mit anderen. Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich im eine Person im direkten Umfeld als zugewandt und wohl- Kontakt mit der menschlichen und dinglichen Umwelt selbst meinend erlebt wurde (vgl. Werner 2012). zu spüren. Erst durch die Interaktion mit anderen entwickelt sich ein Bewusstsein für die eigenen Grenzen und Besonder- Der Begriff Resilienz ist nicht gleichbedeutend mit dem soge- heiten, die eigene Identität. nannten Coping: Resilienz geht über einen »guten« Umgang © Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) und Felsenweg-Institut der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie
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