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Rechtspluralismus in der Islamischen Welt: Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft PDF

384 Pages·2005·25.803 MB·German
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Rechtspluralismus in der Islamischen Welt W Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients Beihefte zur Zeitschrift „Der Islam" Herausgegeben von Lawrence I. Conrad Neue Folge Band 16 Walter de Gruyter · Berlin · New York Rechtspluralismus in der Islamischen Welt Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft Herausgegeben von Michael Kemper und Maurus Reinkowski Walter de Gruyter · Berlin · New York © Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-018455-9 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografic; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2005 by Walter de Gruytcr GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeichcrung und Verarbeitung m elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Inhalt Michael Kemper und Maurus Reinkowski Einleitung 1 Christian Müller Sitte, Brauch und Gewohnheitsrecht im mälikitischen fiqh 17 RalfElger cUrf und sarlca im Südmarokko des 19. Jahrhunderts: Al-Muhtär as-SüsIs Biographiensammlung al-Macsül als Quelle 39 Tilman Hannemann Gewohnheitsrechte in einer islamischen Rechtsumgebung: Theoretische Vergleichsperspektiven aus der Großen Kabylei 47 Christoph Rauch Die jemenitischen higras zwischen Stamm und Staat 67 Franz und Keebet von Benda-Beckmann Adat, Islam und Staat - Rechtspluralismus in Indonesien 89 Karl Käser Gewohnheitsrecht und Geschlechterbeziehungen im osmanischen Europa 105 Maurus Reinkowski Gewohnheitsrecht im multinationalen Staat: Die Osmanen und der albanische Kanun 121 Bert G. Fragner Mongolisches Erbe unter den Strenggläubigen: Die Karriere des unislamischen Gewohnheitsrechts in den nachmittelalterlichen Staaten im iranischen Hochland 143 Christoph Werner cUrf oder Gewohnheitsrecht in Iran: Quellen, Praxis und Begrifflichkeit 153 Christine Nölle-Karimi Die paschtunische Stammes Versammlung im Spiegel der Geschichte 177 VI Inhalt Sergey Ν. Abasin Qal'im und mahr in Mittelasien: Die moderne Praxis und die Debatten über Scharia und Adat 195 Ildiko Beller-Hann Gewohnheitsrecht unter den Uighuren im ländlichen Xinjiang 209 Ol'ga I. Brusina Die Transformation der Adat-Gerichte bei den Nomaden Turkestans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 227 Irina L. Babic Die Rolle des Gewohnheitsrechts in der russischen Politik im nordwestlichen und zentralen Kaukasus: Geschichte und Gegenwart 255 Timur M. Aytberov Rechtsdokumente der awarisch-tschetschenischen Fürsten aus dem Daghestan des 17. Jahrhunderts 271 Übereinkünfte daghestanischer Dorfgemeinden: Die cÄdät von Hidatl (Übersetzung von Michael Kemper unter Mitarbeit von Daria Stepanova) 279 Vladimir O. Bobrovnikov Verbrechen und Brauchtum zwischen islamischem und imperialem Recht: Zur Entzauberung des iskll im Daghestan des 17. bis 19. Jahrhunderts 297 Michael Kemper Arabischsprachige Adat-Ethnographie auf russische Bestellung? 317 Zaylagi Z. Kenzaliev Das kasachische Gewohnheitsrecht in sowjetischer und postsowjetischer Zeit 331 Judith Beyer Die Aksakal-Gerichte in Kirgistan: Entwicklung und aktuelle Situation einer traditionellen Rechtsinstitution 343 Zu den Autoren dieses Bandes 359 Personen- und Ortsregister 367 Sachregister 373 Einleitung: Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft Michael Kemper und Maurus Reinkowski Der vorliegende Band enthält die Beiträge des Symposiums Gewohnheitsrecht (Adat-Recht) zwischen Staat und Gesellschaft. Mittelasien/Kaukasus im Ver- gleich mit anderen Regionen der Islamischen Welt (Bamberg, 26.-28. Septem- ber 2003). Das multidisziplinäre Symposium diente dem Ziel, die zahlreichen Gemeinsamkeiten auszuloten, die sich aus der historischen Entwicklung des Gewohnheitsrechts und seiner Interaktion mit islamischem Recht einerseits und staatlichem Recht andererseits in unterschiedlichen regionalen Kontexten erga- ben. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf den muslimischen Gesellschaf- ten der ehemaligen Sowjetunion, insbesondere auf dem Nordkaukasus und Mittelasien, welche in der allgemeinen Diskussion um den Rechtspluralismus bislang nur wenig Beachtung fanden. Islam- und Religionswissenschaftler, Historiker und Ethnologen, Politik- und Rechtswissenschaftler haben mitunter ganz unterschiedliche Herangehens- weisen an das Phänomen des Gewohnheitsrechts. Allgemein gesprochen er- scheint Adat-Recht in muslimischen Gesellschaften als ein System oder eine Sammlung von Normen und Verfahrensweisen, welche sich historisch aus dem Brauchtum von sozialen Gruppen und Gemeinschaften entwickelt haben. Von diesen Gemeinschaften und ihren Vertretern wird das Adat-Recht aufrechterhal- ten und genutzt sowie verändert und weiterentwickelt. Bei alledem steht es immer in Wechselwirkung mit anderen Rechtsformen oder -systemen, insbe- sondere mit dem islamischen Recht sowie dem Recht von muslimischen oder nichtmuslimischen Staaten. Egal, ob diese verschiedenen Rechtssysteme in einer spezifischen historischen Situation miteinander konfligieren oder einander ergänzen - immer steht die Untersuchung des Adat-Rechts im Zeichen des Rechtspluralismus. Die Mündlichkeit, welche etwa in afrikanischen Kontexten oft als ein charakteristisches Merkmal von Gewohnheitsrecht genannt wird, erwies sich für den Kontext der muslimischen Gesellschaften mit ihrer Schriftkultur nicht als ein bestimmendes Kriterium. Während wir es in manchen Gebieten wie Kasachstan, dem zentralen und westlichen Nordkaukasus oder Afghanistan durchaus mit einem Recht zu tun haben, das vorwiegend oder ausschließlich oral tradiert wurde, kam es anderswo zur Produktion von gewohnheitsrecht- lichen Dokumenten und sogar zu umfangreichen "Adat-Büchern". Die Ver- 2 Michael Kemper und Maurus Reinkowski schriftlichung von Adat-Recht wurde hier vor allem von islamischen Schrift- gelehrten vorgenommen und geschah daher in engem Kontakt mit den Tradi- tionen des islamischen Rechts. Die Niederschrift kann als ein erster Schritt auf dem Wege zu einer Kodifizierung des Gewohnheitsrechts betrachtet werden, welche den Freiraum der an den Rechtsprozessen beteiligten Parteien und Entscheidungsgremien im Hinblick auf Urteilsfindung und Methoden ein- schränkt, dem Gewohnheitsrecht mithin einen Teil seiner Dynamik rauben kann. Die schriftliche Niederlegung der geltenden Rechtssätze reflektiert gleich- zeitig aber auch die Autonomie der Adat-Gemeinschaften, welche sich feste Institutionen, Regeln und Verfahren geben und dadurch auch die Beziehungen zu außenstehenden Gemeinschaften auf ein stabiles Fundament zu setzen trach- ten. Die hier vertrete inenen Beiträge zum nordöstlichen Kaukasus (Daghestan) und zum Jemen zeigen dies in aller Deutlichkeit; ähnliche Prozesse spielten sich aber auch in Algerien (im Mzab und in der Kabylei) und anderswo ab. Der Untertitel "Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft" ver- weist darauf, daß Recht und rechtsplurale Situationen immer mit der Frage der politischen Herrschaft verknüpft sind. Die hier versammelten Beiträge zeigen, daß der Staat auf mehrere Weise zum Adat-Recht in Beziehung treten kann. Erstens kann ein muslimischer Staat auf den lokalen oder regionalen Adat auf- bauen; dies geschah beispielsweise in Daghestan, wo Adat-Gemeinden sich zuweilen zu einer staatsähnlichen Einheit zusammenschlossen oder ein Fürsten- tum hervorbrachten. Zum anderen kann ein Staat, der von außen an die Adat- Gemeinschaften herantritt, die lokalen oder regionalen Adat in sein eigenes Rechtssystem inkorporieren und im wesentlichen in Kraft belassen, wie es das Osmanische Reich über mehrere Jahrhunderte mit den balkanischen Gewohn- heitsrechten tat. Drittens kann ein Staat mit verschiedenen Instrumenten intervenieren und Geltung für sein eigenes Recht beanspruchen; im zayditi- schen Jemen etwa gehörte die Gelehrtensiedlung (higra) zu diesen Instrumenten und Scharnieren zwischen Staat und (Stammes-) Gesellschaft. Und schließlich kennt die islamische Geschichte noch den Fall, daß fremde Eroberer, die Mon- golen, ihr Gewohnheitsrecht mitbrachten und Teile davon in den islamischen Gesellschaften auf lange Frist durchsetzten. Vor allem aber die europäischen Kolonialmächte haben auf das Gewohn- heitsrecht in den muslimischen Gesellschaften eingewirkt und es auf unter- schiedliche Weise verändert. Im russischen Einflußbereich sehen wir, daß die staatlichen Behörden im 19. Jahrhundert das Gewohnheitsrecht generell in Kraft beließen; dies gilt für das Adatrecht der Adygeer und Daghestanis im Nordkaukasus ebenso wie für jenes der Kasachen und Kirgisen in Mittelasien. Gleichzeitig aber wurden wichtige Bereiche aus den Gewohnheitsrechten her- ausgenommen und staatlichen Gerichten übertragen. Zudem richtete das Russi- sche Reich nun in vielen Regionen, in denen in vorkolonialer Zeit vor allem ad hoc zusammengesetzte Schiedsgerichte mit der Rechtsfindung beauftragt waren, Einleitung 3 fest installierte Einheimischen-Gerichte ein. Um die Tätigkeit dieser Gerichte kontrollieren und nachvollziehen zu können, gingen die Behörden und das Militär daran, die lokalen Gewohnheitsrechte aufzuzeichnen und zu "kodifi- zieren". Dieser Vorgang ließ sowohl den Kolonialbehörden selbst als auch ihren Kontaktpersonen aus den einheimischen Gesellschaften einen weiten Raum für Manipulationen; in mancher Hinsicht "schufen" die kolonialen Behörden mit ihren Sammlungskampagnen erst das, was in den betreffenden Regionen seit jener Zeit als Gewohnheitsrecht angesehen wird. Daß die Kolonialbehörden vielerorts das Adat-Recht in veränderter Form zur Grundlage ihrer Herrschaft und Verwaltung machten, war einerseits ein pragmatischer Akt: Durch den Erhalt der traditionellen Rechtsverhältnisse stärkte man bestimmte Gruppen der einheimischen Eliten, auf deren Koope- ration man in den erst kurz zuvor eroberten Gebieten dringend angewiesen war. Zum anderen war es auch ein Ausdruck von Paternalismus, der eng mit der jeweils spezifischen mission civilisatrice der europäischen Kolonialmächte verknüpft war. So waren die französischen wie auch die russischen Kolonial- verwaltungen der Überzeugung, daß die muslimischen Gesellschaften in Marokko und Algerien bzw. im Kaukasus und in Mittelasien für die Einfüh- rung des europäischen Rechtssystems noch nicht "reif" genug seien; erst mit der Zeit würden die vom Kolonialstaat eingeführten Transformationen des Gewohnheitsrechts die Muslime schrittweise an ein europäisches Rechtsver- ständnis herangeführt haben, so daß die einheimischen Bevölkerungen am Ende auch zur Übernahme des gesamten europäischen Rechtssystems bereit sein würden. Gleichzeitig sah man das Gewohnheitsrecht aber auch als Bollwerk gegen den als schädlich erachteten Einfluß des islamischen Rechts an; dem Gewohnheitsrecht feste Institutionen und schriftliche "Kodifizierungen" zu geben hieß deshalb auch, die eigenen Untertanen vor islamischem "Fanatis- mus" und damit vor ihrem eigenen Verderben zu bewahren, denn aufkeimender islamischer Widerstand gegen die Kolonialmacht (wie unter Sämil im Kauka- sus und unter cAbdalqädir in Algerien) würde zwangsläufig mit aller Gewalt niedergekämpft werden müssen. An der Fixierung und Formalisierung des Gewohnheitsrechts waren aller- dings neben den europäischen Kolonialbeamten auch die einheimischen Modernisierungseliten ganz wesentlich beteiligt, und das Mißverständnis eines "seit alters her bestehenden" Gewohnheitsrechts wurde gerade auch in den postkolonialen Staaten fortgeführt und so zementiert.1 Während viele afrika- nische Regierungen in den Gewohnheitsrechten einen Ausdruck von Authenti- zität und "Eigenem" sahen, das zu fördern und durch die Integration europäi- scher Verfahrensregeln und Methoden zu geltendem Recht weiterzuentwickeln 1 Siehe hierzu auch die aufschlußreiche Sammelrezension von Sally Engle Merry: "Law and colonialism", Law and Society Review 25.4 (1991), S. 889-922. 4 Michael Kemper und Maurus Reinkowski sei, setzte die Sowjetunion nach einer Übergangszeit alles daran, die lokalen Rechtsformen zu verbieten und durch republiks- bzw. unionsweite Gesetze zu ersetzen. Erst heute sehen wir in vielen muslimischen Regionen der ehemaligen Sowjetunion einen deklarativen Rückgriff auf adatrechtliche Verfahren und Institutionen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Wiederbelebung von ehemals gelebten Bräuchen und Rechtstraditionen der partikularen Gemein- schaften, sondern um eine von oben gelenkte Kampagne zur Durchsetzung staatlicher, in der Regel nationalistischer Interessen. Zu den Beiträgen in diesem Band Die in diesem Band enthaltenen Studien bieten zahlreiche Beispiele für die eben skizzierten rechtspluralen Konstellationen. Die Gliederung des Bandes erfolgte im wesentlichen nach geographischen Blöcken (arabischsprachige Welt, Indonesien, Südosteuropa, Iran, Afghanistan, Mittelasien und Nordkaukasus).2 Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit dem Verhältnis von islamischem Recht und Gewohnheitsrecht im arabischen und berberischen Kontext. Bekanntlich basiert das islamische Recht selbst zu einem großen Teil auf den gewohnheitsrechtlichen Normen, wie sie im Arabien des 7. und 8. Jahrhunderts herrschten. Nicht nur Muhammad selbst, sondern auch die Rechtsgelehrten der späteren Epochen haben Adat-Praktiken immer wieder durch islamische Texte (vor allem durch Hadithe) legitimiert und in das islamische Recht inkorporiert. In vielen Fällen aber standen die islamischen Rechtsgelehrten seit jeher vor der Frage, wie sie mit praktiziertem Recht umgehen sollten, welches ganz offen- sichtlich mit der Scharia unvereinbar ist, aber aus praktischen Gründen nicht einfach abgeschafft werden kann. In seinem Beitrag Sitte, Brauch und Gewohn- heitsrecht im malikitischen fiqh zeigt Christian Müller am Beispiel der himäsa (der Praxis des "Fünftelbauern") in Nordafrika, daß die malikitischen Rechtsge- lehrten solche nicht-islamischen Rechtspraktiken in ihren grundlegenden Werken meist ignorierten, sie aber in ihren fatwäs und in der Kommentarlite- ratur sehr wohl behandelten. Das Problem der Unvereinbarkeit mit islamischem Recht umschifften sie, indem sie immer nur auf bestimmte Teilaspekte der betreffenden Rechtspraxis eingingen, die dann doch in der einen oder anderen Form mit dem islamischen Recht harmonisiert werden konnten. In der For- schung wird seit längerem diskutiert, inwieweit die fuqahä0 bewußt auch auf Elemente des Gewohnheitsrechtes zurückgriffen, um das "Gelehrtenrecht" wei- 2 Zur Umschrift: Arabisch- und persischsprachige Namen und Termini wurden im allgemeinen nach den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft transkribiert. Zur Wiedergabe der russischsprachigen Namen und Begriffe wurde die Transliteration gewählt, die in der Serie Muslim Culture in Russia and Central Asia (Berlin 1996-2004) Verwendung fand.

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