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Rechtsbedürfnis und Rechtshilfe: Empirische Ansätze im internationalen Vergleich PDF

259 Pages·1978·5.492 MB·German
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Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie V Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Herausgegeben in Verbindung mit Erich Fechner, Arthur Kaufmann, Ulrich Klug, Niklas Luhmann, Peter Noll, Heinrich Popitz, Manfred Rehbinder, Rüdiger Schott, Paul Trappe von Werner Maihofer und Helmut Schelsky Band V Westdeutscher Verlag Rechtsbedürfnis und Rechtshilfe Empirische Ansätze im internationalen Vergleich Herausgegeben von Erhard Blankenburg und Wolfgang Kaupen Westdeutscher Verlag CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie I hrsg. in Verbindung mit Erich Fechner ... von Werner Maihofer u. Helmut Schelsky. - Opladen: Westdeutscher Verlag. NE: Maihofer, Werner [Hrsg.] Bd. 5 ..... Rechtsbedürfnis und Rechtshilfe Rechtsbedürfnis und Rechtshilfe: empir. Ansätze im internat. Vergl. I hrsg. von Erhard Blankenburg u. Wolfgang Kaupen. - Opladen: Westdeutscher Verlag, 1978. (Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechts theorie ; Bd. 5) ISBN 978-3-663-05388-0 ISBN 978-3-663-05387-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-05387-3 NE: Blankenburg, Erhard [Hrsg.] © 1978 Westdeutscher Verlag, Opladen Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 1978 Satz: Vieweg, Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfältigung des Werkes (Fotokopie, Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. ISBN 978-3-663-05388-0 Inhalt Einführung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Josef Falke: Zugang zum Recht - Eine Fallstudie über die Öffentliche Rechtsauskunfts-und Vergleichsstelle in Hamburg. . . . . . . . . . . 13 Udo Reifner: Unentgeltliche Rechtsberatung in West-Berlin . . . . . . . . 43 Götz von Aulock: Rechtshilfe für untere Schichten und Anwaltschaft . 94 Kees Schuyt / Kees Groenendijk / Bernard Sloot: Rechtsprobleme oder private Schwierigkeiten - Die Inanspruchnahme von Rechtshilfe in den Niederlanden ............................... . .. 109 Richard H. H. White: Rechtshilfe in England .. . .139 Martin Partington: Die Entwicklung der Rechtshilfe in England - aktuelle Reformbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Amedeo Cottino / Ulf Drugge / Eva Christina Johansson / Gudrun Nordborg: Die schwedische Rechtshilfereform ......................... 162 Jon T. Johnsen: Rechtshilfe in Norwegen .. . 175 Volker Knoppke-Wetzel: Rechtshilfe in den USA .196 Erhard Blankenburg: Rechtshilfebedürfnis und Rechtsberatung - Theoretische Überlegungen zur rechtspolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland ......................... 231 Bibliographie ............................................ 250 Erhard Blankenburg und Wolfgang Kaupen Einführung der Herausgeber Im Oktober 1975 veranstaltete die Sektion Rechtssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Arbeitstagung über das Thema "Modelle kompen satorischer Rechtshilfe und Rechtsberatung". Zu der dreitätigen Arbeitstagung, die vom Bundesministerium der Justiz finanziell unterstützt wurde, waren Rechts-und Sozialwissenschaftler aus dem In- und Ausland eingeladen worden. Die meisten der für diesen Anlaß vorbereiteten und während der Tagung diskutierten Beiträge wer den hiermit - teilweise grundlegend überarbeitet - einer breiteren Öffentlichkeit vorgelegt, um die inzwischen zu diesem Thema zusammengetragenen Erkenntnisse sowohl für die rechtssoziologische als auch für die rechtspolitische Diskussion nutz bar zu machen. Die Verbreiterung der Diskussion in beiden Bereichen ist insofern sehr wichtig für eine Weiterentwicklung des Problembewußtseins, als die bisherigen Überlegungen zum Problem der "Rechtshilfe für sozial Schwache" weitgehend unter praktischen Gesichtspunkten von Juristen angestellt worden waren. Dabei wurde diese Diskussion, eingeengt auf die Alternative zwischen "öffentlichen Rechtsauskunftstellen" einerseits und eine Subventionierung von Anwaltsberatung andererseits, vorschnell unter Entscheidungsdruck gesetzt. Im Blickfeld stand von vornherein fast ausschließlich der ökonomische Aspekt der Zugangsproblematik. Gleich ob von "rechts" oder "links" wurde argumentiert, daß angesichts steigender Gerichts- und Anwaltskosten finanzielle Hürden vor der Inanspruchnahme des Rechts stünden, die in Erweiterung des "Armenrechts" abgebaut werden müßten. Gleich ob durch kostenlose Auskunft bei öffentlichen Stellen oder bei den frei beruflichen Rechtsanwälten - mit der Finanzierung der einen oder der anderen Lösung wurde das Problem des ungleichen Zugangs zum Recht als gelöst betrachtet. Das Eindringen rechtssoziologischer Gesprächspartner in diese Diskussion führt zwangsläufig zu einer quantitativen und qualitativen Ausweitung des Gegenstands: Während der Praxis verbundene Juristen in rechtspolitischen Diskussionen sehr schnell von einem Problemverständnis zu Lösungsvorschlägen gelangen, beinhaltet das berufliche Selbstverständnis von Soziologen vor allem die Aufgabe, zunächst die hinter der Definition von Problemen wie von Lösungen verborgenen Annahmen offenzulegen und infragezustellen (1). Daß diese berufsrollen-spezifischen Unter schiede keine Eigenart der (west-)deutschen Rechtspolitik sind, wird sichtbar, wenn man die vorliegende Veröffentlichung mit einem Tagungsbericht der amerikanischen "Lawand Society Association" zu dem gleichen Thema (2) vergleicht: Hier wie dort übernehmen die soziologischen Gesprächspartner die Aufgabe des "Problemati sierens" oder - wie es aus der Perspektive des Rechtspolitikers erscheinen mag - des "Zerredens" vermeintlich entscheidungsreifer Probleme. Daß eine vorschnelle "pragmatische" Entscheidung sich später dann häufig entweder als höchst unwirk sam erweist oder sogar gänzlich unerwünschte Konsequenzen mit sich bringt, soll hier nur zur plakativen Rechtfertigung wissenschaftlicher "Umwegproduktion" angeführt werden; das Problem der wissenschaftlichen Beratung der Politik ist nicht Gegenstand dieser Veröffentlichung. 7 Der Vergleich mit den amerikanischen Tagungsbeiträgen fördert allerdings nicht nur Ähnlichkeiten zutage; frappierender ist vielmehr, wie sehr das Problembewußtsein in der Bundesrepublik in bezug auf die "Gleichheit vor dem Gesetz" hinter dem Diskussions- und Entwicklungsstand in den Vereinigten Staaten - ebenso wie in einigen unserer europäischen Nachbarländer - hinterherhinkt. Dort werden seit nahezu 20 Jahren die verschiedensten Versuche zum Abbau von Zugangsbarrieren zum Recht unternommen und vielfältige Erfahrungen gesammelt. Diese Experimente werden zum Teil von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen begleitet, in anderen Fällen führt die sozialwissenschaftliche "Problematisierung" zur Erweiterung des Problembewußtseins und macht grundlegendere Reformansätze in der Rechtsbera tung erforderlich. Eine derartige Erweiterung erfuhr zum Beispiel die angelsächsische Diskussion in den sechziger Jahren durch die rechtssoziologischen Untersuchungen zum "Rechtsbedürfnis" in verschiedenen Bevölkerungsschichten. So wie die Krimi nologie mit der Entdeckung konfrontiert wurde, daß die ihr bislang bekannte und von ihr behandelte Kriminalität nur die Spitze eines Eisbergs innerhalb eines sehr viel größeren Dunkelfeldes ist, so brachten empirische Erhebungen über das Ausmaß und die gesellschaftliche Verteilung von rechtlich relevanten Problemen ans Licht, daß nur ein geringer Teil aller möglichen Rechtsansprüche und potentiellen Rechts konflikte tatsächlich vor Anwälte oder Gerichte getragen wird. Die Erkenntnis der "Latenz" vieler Rechtsbedürfnisse - wenn man hier überhaupt noch von Rechts bedürfnissen sprechen will - hat theoretisch wie praktisch weitreichende Folgen. Theoretisch führt sie zu der Konsequenz, daß das Recht für soziale Konfliktlösun gen nur begrenzt geeignet ist; praktisch weist sie darauf hin, daß das Ausmaß, in dem rechtliche Institutionen an der Lösung sozialer Konflikte beteiligt sind, sowohl von individuellen als auch von institutionellen Bedingungen abhängt. Die forschungs politische Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist, daß man die Zugangschancen bzw. die Zugangsbarrieren im Rechtssystem sehr viel gründlicher und mit sehr viel brei terem Problembewußtsein untersuchen muß, als dies bislang geschehen ist. Dies ist - wohlgemerkt - eine Konsequenz, die man in der angelsächsischen Diskussion und auch in den Ländern, die angelsächsische Forschungsergebnisse rascher rezi pieren, gezogen hat; die wissenschaftliche und politische Debatte in der Bundes republik muß überhaupt erst noch auf die Notwendigkeit einer Ausdehnung des Problemhorizonts hingewiesen werden! Die vorliegende Veröffentlichung soll mit der Vermittlung des Diskussionsstandes in einigen unserer Nachbarländer (mit - wie man feststellen wird - starkem Rück bezug zur US-amerikanischen Diskussion) auf die Fragwürdigkeit der derzeitigen Reformdebatte und der inzwischen hier und dort mit viel Euphorie inszenierten Reformversuche in der Bundesrepublik hinweisen und die wissenschaftliche und politische Erörterung vor einem voreiligen und selbstzufriedenen Ende bewahren. Daß die bisherigen Ansätze bei weitem nicht ausreichen, das Problem der ungleichen Zugangschancen auch nur in seiner äußerlichsten Erscheinungsform zu bewältigen, geht bereits aus den spärlichen Informationen hervor, die uns aus Erhebungen und statistischen Daten zur Verfügung stehen. Nahezu keinerlei systematisch erhobene Untersuchungsergebnisse liegen bisher über die "individuellen Bedingungen" vor, die eine Artikulation der Rechtsbedürfnisse fördern oder behindern. Wir wissen mehr über typische Konfliktlösungsstrategien von Japanern oder Mexikanern als von der überwiegenden Mehrheit unserer eigenen Bevölkerung (3). Wir wissen nichts über die typischen alltäglichen Konfliktsituationen, mit denen die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung konfrontiert werden; wir wissen nichts darüber, mit 8 welchen Deutungsmustern die Betroffenen an diese Situationen herantreten, ob sie überhaupt Lösungsmöglichkeiten sehen oder sich von vornherein resignierend vor einer scheinbaren Übermacht zurückziehen; wir besitzen nur ganz spärliche Infor mationen über das Verhältnis der Bevölkerung zur Rechtspflege, d.h. darüber, ob das Rechtssystem und seine professionellen Diener überhaupt als Helfer in Konflikt situationen gesehen und akzeptiert werden. Was wir haben, ist eine Vielzahl von Anhaltspunkten - und viele davon sind auch in den hier vorgelegten Beiträgen ent halten - für eine Beantwortung der vielen Fragen, die sich mit dem Problem des gleichen Zugangs zum Recht stellen. Es ist durchaus möglich, daß sich bei einer systematischen Zusammenstellung und Analyse der vorhandenen Anhaltspunkte die Zahl der offenen Fragen noch weiter erhöht; andererseits scheinen schon jetzt grobe Weichenstellungen möglich. So kann man angesichts der verschiedenen hier zusammengestellten Erfahrungen wohl davon ausgehen, daß eine Erleichterung der Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe - etwa durch finanzielle Unterstützung - eines der letzten Glieder der Problemkette anspricht; das heißt, daß nur diejenigen Fälle erfaßt werden, die das große "Dunkelfeld" der nicht artikulierten Rechtsbedürfnisse verlassen haben. Es wird in einigen Beiträgen wohl zu recht darauf hingewiesen, daß der erste Schritt zur Überwindung der Ungleichheit vor dem Recht wohl ein elemen tarer Rechtskundeunterricht sein müßte, wobei hier über die Vorbedingungen für einen Erfolg solcher Maßnahmen nichts näheres ausgeführt werden soll. Nur soviel kann an dieser Stelle angedeutet werden (weil es ebenfalls in einigen Beiträgen ange sprochen wird): Eine Rechtserziehung wird nur dann Erfolg haben, wenn sie mit der erfolgreichen Durchsetzung der Rechtsinteressen der Betroffenen verbunden werden kann, und diese Durchsetzungschance wiederum ist nicht allein abhängig vom Durchsetzungswillen der Betroffenen oder gar von einer abstrakten Rechtsposi tion, sie ist vielmehr letztlich eine Frage der gesellschaftlichen Machtverteilung. In diesem Zusammenhang wird wiederum nicht von ungefähr in einigen Beiträgen dar auf hingewiesen, daß schon die Frage, welche Probleme eigentlich im Rahmen des Rechtssystems einer Lösung zugeführt werden können, mithin "justiziabel" sind, sehr eng mit der Struktur der gesellschaftlichen Güterverteilung verbunden sei. Die zentrale Rechtsfigur des Eigentums im bürgerlichen Recht mag hier zur Illustra tion des Zusammenhangs genügen. Wenn man angesichts der Breite (oder Tiefe) des Problemzusammenhangs, der hier nur sehr vage angedeutet werden kann, das Postulat von Radbruch "Rechtshygiene ist besser als Rechtschirurgie" noch zu operationalisieren wagt, dann wird man sich wohl kaum mehr mit einer verbesserten Ausstattung der "Rechtsambulanzen" begnügen können - so wichtig diese im Rahmen einer allgemeinen Verbesserung der Rechtsversorgung auch sein mögen. Die unterschiedliche Reichweite des Problemverständnisses schlägt sich - konse quenterweise - auch in den verschiedenen Organisationsmodellen von Rechtshilfe nieder, die in den vorliegenden Beiträgen aufgeführt werden; sie reichen von der bloßen (finanziellen) Erleichterung der Anwaltsvertretung bis hin zu Ansätzen um fassender Lebenshilfe. Dabei fällt auf, daß zwar die theoretische Diskussion des Problems in der Bundesrepublik weit hinter dem in anderen Ländern erreichten Niveau zurückgeblieben ist, daß aber durchaus eine Vielfalt unterschiedlicher Be ratungsmodelle praktiziert wird - wenn auch weitgehend abgekoppelt von der "offiziellen" rechtspolitischen Diskussion und damit weitgehend ohne amtlichen Segen. Wie viel an diesem Segen gelegen ist, zeigt sich daran, daß gelegentlich die Staatsgewalt in Übereinstimmung mit den Interessen der Anwaltschaft gegen einen 9 "Rechtsberatungsmißbrauch" vorgeht, noch mehr aber vielleicht daran, daß sie es so selten tun muß; meist nehmen die potentiellen Rechtsberater aus Angst, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, schon selbst Abstand von ihrem Vorhaben (6). Immerhin ist es gesetzlich auch Interessenorganisationen gestattet, ihren Mitgliedern rechtlichen Beistand zu leisten; mehr oder weniger verbreitet sind dann auch ent sprechende Aktivitäten von Gewerkschaften, Mieter-und Hausbesitzervereinen, Ver braucher- und Industrieverbänden. Daneben wird Rechtsberatung gelegentlich auch im Rahmen umfassender "materieller" Beratung, etwa von Bürgerinitiativen, Studen tengruppen o. ä. angeboten (und von offizieller Seite meist auch geduldet, solange nicht das berufliche Interesse der Anwaltschaft tangiert ist). Daß diese verschiedenartigen Aktivitäten im Bereich der Rechtsberatung in der rechtspolitischen Diskussion kaum thematisiert wurden, mag auf den in der Rechts politik dominierenden Einfluß der Anwaltschaft zurückzuführen sein. Schließlich versteht sich die Anwaltschaft in der Bundesrepublik als die (alleinige) berufene Vertreterin dt>r Bevölkerung in allen Rechtsangelegenheiten - ein Anspruch, der in der Bundesrechtsanwaltsordnung sogar gesetzlich abgesichert werden konnte. Ange sichts dieses Monopolanspruchs müssen alle anderen Organisationsformen von Rechtsberatung als "etwas außerhalb der Legalität" stehend erscheinen; sie zu sammen mit der anwaltlichen Berufstätigkeit als umfassendes ,,1 nfrastruktur-System" der Rechtsberatung anzusehen und zu analysieren, hätte die Verletzung eines pro fessionellen Tabus vorausgesetzt. Angesichts dieser verengten Perspektive in der bundesrepublikanischen Rechtshilfe Debatte erscheint es uns um so wichtiger, auf die - gemessen an der Breite poten tieller Rechtsbedürfnisse - Begrenztheit anwaltlicher Dienstleistungen hinzuweisen. Rechtsanwälte beschäftigen sich weder aufgrund ihrer rechtlichen Spezialisierung noch von ihrer privatwirtschaftlich strukturierten Interessenlage her mit den typi schen Problemen der Mehrheit der Bevölkerung, deren Probleme im Bereich des Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialrechts sowie des Mietrechts ihren Schwerpunkt haben und überdies keine hohen "Streitwerte" - damit auch keine hohen Honorare - enthalten. Die vorliegenden Analysen machen deutlich, daß die Berücksichtigung der Probleme der Mehrheit der Bevölkerung im bestehenden Rechtssystem kaum möglich ist. Die Anwaltskanzleien würden bei einem Ansteigen des "Kleckerkrams" in kürzester Zeit "verstopft mit unwirtschaftlichen Sachen", der freiberuflich tätige Anwalt würde nicht mehr "auf seine Kosten" kommen. Auch die Gerichte würden einen Abbau der Zugangssperren kaum verkraften können; die zur Zeit angestrebte Organisationsrefonn der ordentlichen Gerichtsbarkeit - die Auflösung der kleinen Gerichte und die Konzentration auf größere bürokratische Organisationseinheiten hat unter anderem das uneingestandene Ziel, durch weitere Distanzierung gegenüber der Bevölkerung den "Kleckerkram" zu reduzieren. In diesem Zusammenhang gewinnen die Strategien größere Bedeutung, die sich von der Ausdehnung der Rechtsberatung eine Entlastung der Gerichte versprechen, indem durch frühzeitige Beratung ("Hygiene") eine Zuspitzung auf formale Posi tionen vermieden werden soll. Hier wird freilich die immanente Widersprüchlichkeit der rechtspolitischen Bestrebungen in der Bundesrepublik unübersehbar: Einerseits wollen die Rechtsanwälte sich nicht das Beratungsmonopol aus der Hand nehmen lassen, andererseits soll durch Ausdehnung der Beratung verhindert werden, daß soziale Konflikte auf das rechtliche Gleis geschoben werden. Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse zeigen nun aber, daß es gerade die Anwälte sind, die - wohl als Folge ihrer beruflichen Spezialisierung - immer wieder auf die formal- 10 rechtlichen Aspekte einer Auseinandersetzung zusteuern und mögliche informelle Lösungsalternativen damit eher verbauen. Das Ziel einer Entlastung der Rechtspflege könnte demnach also nur erreicht werden, wenn mit der Erweiterung der Beratungs leistungen auch der professionelle Horizont der Anwaltschaft erweitert würde. Dafür bestehen freilich derzeit günstige Rahmenbedingungen: Es ist durchaus möglich, daß infolge der quantitativen Zunahme des juristischen Nachwuchses, der (mangels anderer Beschäftigungsmöglichkeiten) in die Anwaltschaft drängt, neue Dimensionen anwaltlicher Beratungstätigkeit entwickelt werden - dies sowohl hinsichtlich der Klientel als auch der bearbeiteten Rechtsgebiete. Eine solche Ausweitung der an waltlichen Dienstleistungen könnte ihrerseits wiederum bewirken, daß die bisher "latenten" Rechtsbedürfnisse zunehmend artikuliert werden, so daß sich die N ach frage nach anwaltlicher Beratung weiter verstärkt. Doch sind dies bislang noch ungedeckte Wechsel auf die zukünftige Entwicklung; konkret absehbar sind solche Tendenzen in der Bundesrepublik nicht. Die Bindun gen an die Tradition einer positivistisch-dogmatischen Rechtsauffassung sind wohl auch unter den jungen Juristen noch so stark, daß einer Erweiterung des professio nellen Horizonts die kognitiven und emotionalen Grundlagen fehlen. Hier wäre, um wenigstens mittelfristige Veränderungen vorzubereiten, wohl auch eine erheb liche Öffnung der juristischen Ausbildung zu neuen juristischen und außerjuristi schen Inhalten hin erforderlich. All diesen Überlegungen, die - zur Verwirklichung der "Gleichheit vor dem Recht" - darauf hinzielen, die der rechtlichen Lösung bisher vorenthaltenen Probleme oder Konflikte zu "juridifizieren", wäre schließlich die Frage entgegenzusetzen, was eigentlich mit der "Verrechtlichung" solcher Probleme erreicht werden soll. An manchen Stellen der im folgenden abgedruckten Beiträge deutet sich durchaus die marxistischem Denken wohl vertraute Vorstellung an, das Recht als Regelungsform selbst sei ein bürgerlich-kapitalistischer Herrschaftsmechanismus. Zu glauben, man könne diesen Herrschaftscharakter durch demokratische Inhalte kompensieren, wäre demnach geradezu eine gefährliche Illusion, weil sie den strukturell (und damit inhaltlich) benachteiligten Parteien zwangsläufig Steine für Brot verkaufen müßte. Auswege aus diesem Dilemma weisen Experimente, die den Konflikt auf rechtlicher Ebene mit politischen Strategien verbinden. Rechtsberatung kann auch Teil der Organisierung und Solidarisierung kollektiver Interessen sein, etwa wenn sie von Interessenorganisationen wie Verbraucherverbänden, Mietervereinen oder Gewerk schaften durchgeführt wird. Für sie ist der rechtliche Aspekt nur ein Teil ihres Inter essenkampfes. Diese Verbindung von kollektiven und individuellen Strategien weist auf den Zusammenhang der Zugangsproblematik mit denen materieller Rechts reform hin. In Deutschland ebenso wie in unseren Nachbarländern wurde eine an sozialen Zielen orientierte Rechtsberatung zuerst von Gewerkschaften und kirch lichen Verbänden eingeführt. Die ersten Versuche öffentlicher Rechtsberatung um die Jahrhundertwende können weitgehend als Reaktion hierauf verstanden werden. Im Gegensatz zu anderen Ländern scheinen diese Traditionen jedoch während der Zeit des Dritten Reichs für die Bundesrepublik verschüttet worden zu sein. 11

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