Detlef D. Spalt Herausgeber Rechnen • mit dem Unendlichen Beiträge zur Entwicklung eines kontroversen Gegenstandes 1990 Springer Basel AG Dr. D. Spalt Technische Hochschule Darmstadt Fachbereich Mathematik, AG I I Sch lossgartenstrasse 7 D-6100 Darmstadt ISBN 978-3-0348-5243-2 ISBN 978-3-0348-5242-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-0348-5242-5 Cip-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rechnen mit dem Unendlichen: Beiträge zur Entwicklung eines kontroversen Gegenstandes I hrsg. von Detlef D. Spalt. - Basel; Boston; Berlin : Birkhäuser, 1990 NE: Spalt, Detlef D. [Hrsg.] Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2 UrhG werden durch die «Verwertungsgesellschaft Wort», München, wahrgenommen. © 1990 Springer Basel AG Ursprünglich erschienen bei Birkhäuser Verlag Basel 1990. INHALT Detlef D. Spalt Einleitung: Rechnen mit dem Unendlichen VII Hassan Givsan Wozu Historie? - Anmerkungen zur Frage der Geschichtsschreibung der Wissenschaften (Mathematik) 1 Wilhelmus A.J. Luxemburg Robinson's Nonstandard Analysis and its Influence on Mathematics 13 Detlef Laugwitz Frühe Delta-Funktionen - Eine Fallstudie zu den Beziehungen zwischen Nichtstandard- Analysis und mathematischer Geschichtsschreibung 23 Herbert Breger Know-how in der Mathematik. Mit einer Nutzanwendung auf die unendlichkleinen Größen 43 Teunis Koetsier Etappen in der Entwicklungsgeschichte des sogenannten Vertauschbarkeitssatzes von Schwarz 59 Rüdiger Thiele Carnots Betrachtungen über die Grundlagen der Infinitesimalrechnung 79 Ivor Grattan-Guinness Thus it mysteriously appears: impressions of Laplace's use of series 95 Hans Niels J ahnke Algebraische Analysis in Deutschland, 1780-1860 103 Jan Berg Zur logischen und mathematischen Ontologie. Geneseologie und Resultatismus in der Analysis der Grundlagen der Bolzanoschen Zahlenlehre 123 Bob van Rootselaar Die "mengentheoretischen" Begriffe Bolzanos 157 Hanns Peter Becker Bolzanos meßbare Zahlen 165 Walter Purkert Infinitesimalrechnung für Ingenieure - Kontroversen im 19. Jahrhundert 179 DeUef D. Spalt Die unendliche Zahlenmenge im Wandel von Bolzano zur Mengenlehre - oder: Cantor als Vater der bürgerlichen Mathematik 193 Bibliographie 219 Einleitung: Rechnen mit dem Unendlichen I. Eine Geschichte (Ein Rahmen für dieses Buch) Am 3. Juni 1784 schrieb die Berliner Akademie der Wissenschaften auf Be treiben von Lagrange folgende mathematische Preisaufgabe aus: "Die Nützlichkeit der Mathematik, die ihr entgegengebrachte Hoch achtung sowie der ihr zu Recht verliehene ehrenvolle Name der 'exakten Wissenschaft' par excellence verdanken sich allesamt der Klarheit ihrer Prinzipien, der Strenge ihrer Beweise und der Be stimmtheit ihrer Lehrsätze. Um die Fortdauer dieser kostbaren Überlegenheit in diesem vor nehmen Teil unserer Kenntnisse zu bewahren, wird gefragt nach Einer klaren und bestimmten Theorie dessen, was das Unendliche in der Mathematik genannt wird. Es ist bekannt, daß die höhere Mathematik beständig das unend lich Große und das unendlich Kleine verwendet. Indessen vermie den die [antiken] Geometer und selbst die alten Analysten aufs sorgfältigste alles, was mit dem Unendlichen in Verbindung steht; und die großen modernen Analysten anerkennen sogar, daß der Ausdruck unendliche Größe widerspruchsvoll ist. Die Akademie wünscht daher eine Erklärung dafür, wie so viele richtige Lehrsätze aus einer widerspruchsvollen Voraussetzung her geleitet werden können, und daß ein sicheres, klares - kurz ein wahrhaft mathematisches Prinzip angezeigt werde, welches das Un endliche zu ersetzen vermag, ohne jedoch die durchzuführenden Untersuchungen zu schwierig oder zu lang zu gestalten. Es ist gefordert, das Thema in aller Allgemeinheit und in aller Strenge, Klarheit und Einfachheit zu behandeln."l Am 1. Juni 1786, ein halbes Jahr nach dem Einsendeschluß, erklärte die Aka demie anläßlich ihrer Zuerkennung des Preises an L'Huilier unter anderem: 1 Nouveauz Memoires de l'Academie Royale des Sciences et de Beiles Lettres 1784, S. 12f., meine Übersetzung. Eine englische Übersetzung sowie nähere Erläuterungen zu dem Preis ausschreiben und dessen Ausgang gibt Juskevic 1971. VIII Einleitung "Alle Einsender haben es versäumt zu erklären, wie so zahlreiche richtige Lehrsätze aus einer widerspruchsvollen Voraussetzung her geleitet werden können, wie es die einer unendlichen Größe ist. Alle haben sie mehr oder weniger die erforderten [Qualitäten der] Ein fachheit und Klarheit und über allem der Strenge außer acht ge lassen. Die meisten von ihnen haben nicht einmal gesehen, daß das gesuchte Prinzip nicht auf den Infinitesimalkalkül beschränkt sein sollte, sondern auf Algebra und auf Geometrie, wie sie in der Weise der Alten gehandhabt wird, auszudehnen war. Nach Ansicht der Akademie ist daher die Frage nicht in vollem Umfang gelöst."2 Heute, im Abstand von zwei Jahrhunderten sehen wir, daß diese Preisaufgabe der Akademie die Qualität einer Forschungsaufgabe für viele Generationen hatte - und daß sie nach den Maßstäben der Akademie bis auf den heutigen Tag nicht gelöst ist - vielleicht, weil sie in dieser Form tatsächlich unlösbar ist. Gefragt wurde nach einem einzigen Mathematischen Prinzip des Unendlichen, welches, ohne widerspruchsvoll zu sein, hinreicht, sämtliche wahren mathema tischen Lehrsätze in einfacher, klarer und strenger Weise zu deduzieren - und zwar in allen mathematischen Gebieten (ausdrücklich genannt wurden neben der Infinitesimalrechnung die Geometrie und die Algebra). In heutiger Sicht unerfüllbar scheint jedenfalls die Forderung der Einzigkeit; Es ist bisher nicht zu sehen, wie ein einziges solches Prinzip für die gesamte Mathematik formulierbar sein könnte. Die Entwicklung der Geometrie im frühen 19. Jahrhundert verlief noch am ehesten in den von der Preisaufgabe gewünschten Bahnen. Aus der naiven Frage, ob sich zwei Parallelen im Unendlichen schneiden oder nicht, wurden die beiden Axiome "Parallelen schneiden sich nicht" und "Je zwei Geraden haben gen au einen Schnittpunkt", die in nüchterner Sprache zwei Typen von Geometrie charakterisieren: die affine und die projektive. Hier also hat sich die Rede vom Unendlichen gänzlich verflüchtigt und allenfalls noch metaphorisch erhalten (dem unendlichfernen Punkt oder der unendlichfernen Geraden haftet keinerlei problematischer Hauch mehr an - und so sprechen die Geometer auch kürzer vom Fernpunkt und der Ferngeraden). Wenn man unter dem von der Akademie gebrauchten Titel Algebra die Arith metica universalis, also die Allgemeine Arithmetik versteht (etwa in der Tradi tion Newtons), so gab Georg Cantor zu Ende des 19. Jahrhunderts den Anstoß zu einer Lösung der gestellten Aufgabe für dieses Gebiet. Seine Begründung der Lehre von den transfiniten Kardinalzahlen und den transfiniten Ordinal zahlen wurde und wird weiterhin sogar als erste wirkliche Mathematisierung 2a.a.O. S. 156 Einleitung IX des Unendlichen gepriesen. Dies bezieht sich darauf, daß Cantor konkretes Rechnen mit unendlichgroßen Zahlen lehrt, also eine Arithmetik des (Aktual-) Unendlichen. In der Infinitesimalrechnung schließlich wurde ebenfalls zum Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Lösung der Preisaufgabe formuliert: Durch die Ar beiten von Dedekind, Meray, Cantor/Heine und schließlich Hilbert wurde mit den reellen Zahlen ein. Zahlenbegriff geschaffen, der ohne jegliches ak tuale Unendlich auskommt, aber dennoch geeignet ist, die unendlichen Größen der Differential- und Integralrechnung zu behandeln. Dieses Kunststück ver langte jedoch die Entwicklung weiterer, unterstützender Lehren (insbeson dere zum Konvergenzbegriff), welche heute das Gebiet der Topologie aus machen. In der Sicht der Akademie wird man dies wohl so beurteilen, daß dieser Lösungsvorschlag: reelle Zahlen plus Topologie zwar dem Erfordernis der Strenge und (vielleicht auch) dem der Klarheit genügt - aber gewiß nicht demjenigen der Einfachheit. Unter diesem Blickwinkel ist es daher besonders aufregend, daß in den vergan genen drei Jahrzehnten mit der Nichtstandard-Analysis eine neue Lehre der Infinitesimalrechnung entwickelt wurde. Sie legt einen reichhaltigeren Zahl begriff zugrunde (gelegentlich als hyperreelle Zahlen bezeichnet), der ins be sondere aktual-unendliche Zahlen (kleine wie große) umfaßt und eine oftmals direktere Behandlungs- und Argumentationsweise gestattet als die frühere Lehre, die dann Standard-Analysis heißt. Nachdem die anfänglichen Zweifel an der Strenge dieser neuen Lehre ausgeräumt wurden (indem sie als Vorur teile aus der Sicht der alten Lehre erkannt wurden), hat man allen Grund zu der Vermutung, daß die heute neu einberufene Jury der alten Akademie in der Nichtstandard-Analysis eine höchst preis würdige Lösung ihrer damaligen Aufgabe sehen könnte. Und dies nicht nur deswegen, weil sie im Vergleich zur älteren Analysis ebenso streng, dabei jedoch einfacher ist3 - sondern ins besondere deswegen, weil sie in Form eines allgemeinen Prinzips auch andere Gebiete der Mathematik zu erfassen vermag. Zutreffender spricht man daher von Nichtstandard-Mathematik (mit den Kernbereichen Analysis, Arithmetik, Maß- und Wahrscheinlichkeitstheorie) und kennzeichnet so eine bestimmte Behandlung des Aktualunendlichen in der Mathematik. 3 Klarheit ist, wie wir allmählich lernen, eine weniger objektivierbare, sondern psycholo gische Kategorie, welche durch Ausbildung einer geeigneten persönlichen Anschauung oder Intuition gestaltet wird. - Originell dazu Baruk 1985 X Einleitung 11. Der gegenwärtige Stand (Zum Inhalt dieses Buches) Wie man mit dem Unendlichen mathematisch rechnen kann, begann uns Leib niz zu lehren - einhundert Jahre vor der von der Akademie ausgeschriebenen Preisaufgabe. Daß wir seitdem mit dem Unendlichen in der Mathematik rech nen müssen (daß das Unendliche in der Mathematik unausweichlich ist), sehen wir am Verlauf der geschichtlichen Entwicklung. (Und beiläufig sei bemerkt, daß dieses Muß eine Folge jener Rolle ist, die die Mathematik für die Entwick lung der moderenen Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften spielt - also direkter Ausdruck der gesellschaftlichen Erfordernisse an die Mathema tik.) Der aktuellste Wissensstand des mathematisch Unendlichen ist zweifellos in der Nichtstandard-Analysis (einschließlich der Diskussion um sie) ausgespro chen. Die in diesem Buch versammelten Aufsätze beleuchten dieses Thema des mathematischen Unendlichen unter recht verschiedenen Blickwinkeln und sind so geeignet, das Verständnis der Sache zu fördern. Die Sache - das ist in der Wissenschaft die gewordene Sache, die Sache in ihrem und als ihr Werdegang. Daß sich das Wissen verändert, ist heute ein Gemeinplatz - daß dies die Historie erfordert, um diese Veränderungen zu thematisieren, wird dabei heute noch meist übersehen. Und selbst, wo sich ein diffuses Gefühl für die Notwendigkeit von Historie meldet (wie es heute häufiger geschieht), bleibt das Warum? und ins besondere das konkrete Wie? im Dunkeln. Hassan Givsan denkt in seinem Beitrag Wozu Historie? in sehr grundlegender Weise über die Geschichtsschreibung der Mathematik nach und zeigt, wie fruchtbar hier die Reflexion des ontologischen Aspektes sein kann (jene also, die nach dem Sein der Gegenstände fragt). Seine Pointe besteht in der ontologischen Fundierung eines konkreten Wie? der Geschichtsschrei bung, nämlich einer Historie, welche ihren Gegenstand stets als genau das nimmt, was er gewesen ist - und nicht etwa als das, was er später, d.h. ge genwärtig ist. Diese letztere Form der Geschichtsschreibung (von uns Resul tatismus genannt4) herrscht jedoch eindeutig vor - mit, wie zu begründen ist, spürbaren Folgen für die gewonnenen Einsichten. Den aktuellen Stand des mathematischen Wissens zum Unendlichen umreißt Wilhelmus Luxemburg in seinem Aufsatz. Er bietet einen Steilkurs über mathe matische Logik und Modelltheorie, dem der Leser ohne eine gewisse vorgängige Vertrautheit mit diesen Bereichen sicher nicht in allen seinen Einzelheiten, wohl aber in großen Zügen wird folgen können. Der sachliche Höhepunkt findet sich zu Ende des Abschnittes IV, wo unter Verwendung von zwei exakt geschiedenen Sprachebenen (intern und extern) das zentrale (aktual-)unendliche Objekt w (eine unendlichgroße natürliche Zahl) wie folgt gefaßt wird: w ist endlich und 4zuerst in meinem Aufsatz 1985