Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn Raumschiff der Kinder Band 1 aus der Reihe „Raumschiff der Kinder“ ungekürzte Originaledition der nicht mehr aufgelegten Einzelausgabe von 1977 © Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1977. Sämtliche Rechte, auch die der Verfilmung, des Vortrags, der Rundfunk und Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany. ISBN 3770903870 Im Plastikwald Die Maus kroch schnuppernd aus ihrer Höhle. Harpo Trumpff hielt den Atem an. Seine Finger umklammerten den Griff des Keschers. Vor Aufregung packte er so fest zu, daß die Haut an den Knöcheln ganz weiß wurde. Anca zuckte mit einer Schulter, weil dort der Pullover auf der Haut kratzte. Harpo strafte seine Schwester mit einem ärgerlichen Blick. Wie konnte man in diesem Moment an etwas derart Nebensächliches denken! Zum Glück hatte die Maus die Bewegung nicht bemerkt. Sie schob ihren mit grellrotem Fell bedeckten kleinen Körper beinahe sorglos vollständig aus dem Unterschlupf, wirbelte mit der witternden Nase etwas Staub auf und verschwand unter dem Blatt einer Plastikpflanze. Nur der Schwanz schaute noch hervor. Auf diesen Moment hatte Harpo gewartet. Vorsichtig balancierte er den Ke scher, bis er genau über der Stelle schwebte, die von dem Mäuseschwanz markiert wurde. Er wollte den Kescher mit einer blitzschnellen Bewegung über das Tier stülpen – aber im gleichen Moment verlor er den Halt unter den Füßen. Mitten im sandigen Boden hatte sich ein Krater gebildet, in den der lockere Sand wie Wasser floß, den zappelnden Harpo mit sich reißend. Im ersten Moment konnte Anca überhaupt nicht begreifen, was dort vor ih ren Augen geschah. Sie hatte erwartet, daß ihr Bruder mit einem Triumph schrei in den Kescher greifen und ihr stolz die gefangene Maus zeigen würde. Statt dessen tat sich der Boden auf und verschlang den Jungen. Die Maus flitzte wie ein geölter Blitz in das Dickicht der Plastikpflanzen. Wie hypno tisiert starrte Anca auf den Kescher, der Harpo aus der Hand geglitten war und nun am Rande des Sandtrichters lag. „Hilfe! Hilfe!“ Harpos Rufe lösten die Erstarrung. Ängstlich beugte sich Anca über den Trichter und versuchte in die Tiefe zu spähen. Aber man sah nur ein dunkles Loch, das wie ein schräger und ziemlich steiler Tunnel unter das Gebüsch führte. Von den Rändern abbrechende Sandbrocken warnten das Mädchen gerade noch rechtzeitig davor, einen weiteren Schritt zu tun. „Harpo!“ rief Anca. „Ist dir etwas passiert? Harpo, antworte doch!“ Aber der Junge hörte ihre dünne Stimme vermutlich gar nicht. Er schrie viel zu laut und ohne Pause. Einzelne Wörter wie: „Nein!“ – „Holt mich raus!“ – „Ich habe Angst!“ konnte man gerade noch verstehen, aber das meiste ging in unartikuliertem Kreischen unter. „Harpo, beruhige dich doch! Ich hole Hilfe!“ Anca war erst zwölf Jahre alt, und ihr Bruder war sechzehn. Seit dem Tod der Eltern – beide starben bei der Reaktorkatastrophe von São Paulo vor sechs Jahren – waren die Kinder nur aufeinander angewiesen. Meist war Har po der Beschützer der Schwester. Aber jetzt kam es allein auf sie an, das wuß te Anca. 2 Sie fühlte sich verzweifelt und hilflos. Tränenblind rannte sie den Pfad entlang, ohne überhaupt zu bemerken, daß ihr die Blätter und Ranken der künstlichen Pflanzen ins Gesicht peitschten. Während sie lief, formte sich un deutlich ein Bild in ihrem Innern. Sie sah das Tal der Wigwams mit den Freunden vor dem Feuer. Dorthin mußte sie laufen. Die Freunde würden Rat wissen. Aber der Weg war lang. Wenn nur Harpo inzwischen nichts geschah! Ihr einziger Trost war, daß es hier keine gefährlichen Tiere gab. Aber wußten sie das wirklich so genau? Sie prallte urplötzlich mit etwas zusammen, das eigentlich flauschig und weich war, bei diesem ungestümen Aufprall aber doch einen ziemlich harten Widerstand bot. Sowohl Anca als auch das Ding hüpften wie Tennisbälle aus einander und fielen ins Dickicht. Benommen richtete sich das Mädchen auf. Auf der anderen Seite des Weges kroch ein unglaublich dicker grüner Bär zwischen den Blättern hervor, das heißt, im ersten Moment hätte man ihn für einen Bären halten können. „Hoppla, kleines Fräulein“, brummte das Wesen und half ihr beim Auf stehen. „Du hast es aber eilig.“ Der Bär war kein Bär. Schließlich haben lebendige Bären kein grünes Fell. Wenn man genau hinsah, erkannte man die Nahtstellen der Plüschhülle. Und aus den Bärenaugen blickte weder Sanftmut noch Wildheit, sondern das gleichmütige Leuchten einer elektronisch gesteuerten Sehzelle. Ein Roboter oder wegen der grünen Verkleidung von den Kindern so genannt – ein Grü ner. Normalerweise hätte sich Anca an ihm vorbeigedrückt, denn wie alle im Tal der Wigwams war sie mißtrauisch gegen diese elektronischen Aufpasser und Lehrer, die wie Plüschtiere aussahen. Aber schließlich ging es dieses Mal um Wichtigeres als um ihr Mißtrauen. „Schnell“, keuchte sie. „Mein Bruder ist in ein Sandloch gefallen und kann allein nicht wieder heraus.“ „Sandloch?“ wiederholte der Grüne. „Das werden wir gleich haben. Zeig mir die Stelle.“ Aufgeregt lief Anca dem Grünen voraus. Es fiel ihm sichtlich schwer, dem Mädchen zu folgen. Er war um einen Kopf kleiner als Anca und hatte kürzere Beine. Als sie den Trichter erreichten, glaubte Anca für einen schrecklichen Moment, daß jemand dem Bruder etwas angetan hatte. Denn alles war ruhig. „Harpo!“ rief sie, so laut es ging. Erleichtert hörte sie ein leises Wimmern als Antwort. „Es dauert nicht mehr lange“, versprach das Mädchen. „Ein Grüner ist hier und wird dir helfen.“ Die Bezeichnung war ihr so herausgerutscht. Als artiges Mädchen hätte sie „Lehrer“ sagen müssen. Doch der Roboter zeigte keine Reaktion. „Ein stillgelegter Ventilationsschacht“, erklärte er, nachdem er die Ränder des Trichters untersucht hatte. „Der Sand muß sich im Laufe der Zeit über die Pflanzenblätter gelegt und den Eingang verdeckt haben.“ 3 Unter seinem linken Ohr machte sich ein hellgrünes Glimmen bemerkbar. Aha, dachte Anca, jetzt ruft er über Funk Unterstützung herbei. Die Kinder hatten es im Laufe der Zeit gelernt, so ziemlich alle Verhaltensweisen der Grünen zu deuten. Einige Minuten später, während sie noch beruhigend in den Trichter hin einsprach, öffnete sich etwa hundert Meter entfernt eine Wand, die bisher fugenlos erschienen war, und spuckte vier weitere Grüne aus. Einer trug ein dünnes Drahtseil, ein anderer eine Handwinde. Ohne sich lange aufzuhalten, ließ sich einer der Roboter in den Trichter gleiten. Die anderen warfen das Seilende hinab, befestigten das Seil an der Winde und zogen wenig später den Grünen und Harpo unter den Büschen hervor. Erleichtert umarmte Anca ihren Bruder. Er wirkte etwas erschöpft, sonst aber ganz normal. Nichts erinnerte mehr an den kreischenden, jammernden Jungen in der Tiefe. Anca wußte aber, daß diese panische Angst kein Traum war. Sie erlebte es nicht zum ersten Mal. Harpo war krank wie so viele Kinder der Erde, die in ihrer Umwelt nicht glücklich sein konnten. Niemand durfte außerhalb der Städte spielen, und in den Städten war es höllisch eng. Im Grunde lebten sie in einem muffigen Gefängnis. Manche Kinder quälten Alpträume. Auch Harpo. Er litt unter Fallangst und Schwindelgefühlen, aber am schlimmsten wurde es, wenn er sich im Dunkeln alleingelassen fühlte. Deshalb hatte man ihn auf dieses Raumschiff geschickt, und Anca, die gesund war, durfte mit. Einsichtige Ärzte hatten erkannt, daß die Geschwister zusammenbleiben wollten. „Findet ihr allein zurück, oder soll ich euch zu eurer Siedlung begleiten?“ fragte der Grüne, der als erster am Ort des Unfalls gewesen war. „Nein, nein, es ist alles in Ordnung“, antwortete Harpo hastig. „Und – vielen Dank.“ Es fiel ihm nicht leicht, dem Grünen zu danken. „Wir werden den Schacht so absichern, daß sich solch ein Malheur nicht wiederholen kann“, versicherte der Grüne. Wie übergroße Teddybären wat schelten die Roboter davon und verschwanden hinter jener verborgenen Tür in der Wand. „Am besten erzählen wir den anderen gar nichts davon“, meinte Harpo, dem seine Angst, wie die Hilfe der Grünen, unangenehm war und der nicht weiter darüber reden wollte. „Wenn du meinst“, sagte Anca. Eigentlich verstand sie den Bruder nicht. Wie konnte man sich für eine Krankheit schämen? Harpo wollte ihr gerade den Kescher abnehmen, als sie plötzlich damit eine blitzschnelle Bewegung ausführte. „Juchhu!“ rief sie und hielt den zappelnden Fang in die Höhe. „Jetzt haben wir am Ende die Maus doch noch gefangen!“ „Klasse!“ Harpo freute sich. Ihm war entgangen, was Anca aus den Augen winkeln erspäht hatte: daß die Maus neugierig ihr Versteck verlassen hatte. Furchtlos griff Harpo in den Kescher und zog das strampelnde Tierchen heraus. Er betrachtete es eine Weile und hielt es dann an sein Ohr. 4 „Ach“, sagte er ganz enttäuscht. „Alles umsonst. Die Maus summt.“ Er reichte Anca das Tier. Tatsächlich: Die Maus summte. Und wenn man genau hinsah, konnte man auch die winzigen Metallgelenke an den Beinchen erkennen. Achtlos setzte Anca den kleinen RoboterMechanismus auf den Boden. Wie eine echte Maus flitzte das künstliche Wesen in die Höhle zurück; schließlich besaß es ein kleines Computergehirn, das ihm die Verhaltens weisen einer Maus aufprägte. „Schade“, meinte Harpo. „Jetzt habe ich keine Lust mehr, noch einmal auf Jagd zu gehen.“ „Aber Micel hat auf Deck 28 einen richtigen Frosch gesehen“, erinnerte An ca. Ob das nun Trotz war oder der Versuch, ihn zu trösten, wußte Harpo nicht so genau. „Micel Fopp ist ein Angeber“, gab er deshalb zurück. „Wenn ein Telepath die Gedanken anderer Kinder liest, dann gibt er deren Erlebnisse immer gleich als die eigenen aus. Micel war nie im Leben auf Deck 28. Also kann er dort auch keinen Frosch gesehen haben.“ „Dann eben nicht. Aber einer auf dem Schiff hat einen lebendigen Frosch gesehen“, trumpfte Anca auf. „Genügt dir das nicht?“ „Hm“, machte Harpo. Er ärgerte sich, daß seine kleine Schwester recht hatte. „Wir wollen gehen“, lenkte er deshalb ab. „In zwei Stunden wird es dunkel.“ Die Schlange Harpo ging den Pfad entlang. Anca folgte ihm. Sie mußte laufen, um dem Bruder folgen zu können. Das Mädchen glich Harpo äußerlich nicht sehr. Sie hatte schwarzes Haar, das glatt und voll ihr zierlich geschnittenes Gesicht umrahmte und so lang war, daß es fast bis an die Hüften reichte. Obwohl alles an Anca klein und niedlich wirkte, neigte sie doch ein wenig zur Rundlichkeit, was ihr den Spitz namen Pummelchen eingetragen hatte. „Ich habe Kohldampf“, beschwerte sie sich nach einer Weile. „Es ist nicht mehr weit“, antwortete Harpo. „Sicherlich wartet am Wigwam auf uns ein großer Topf mit Bohnensuppe und viel Speck.“ Wenn man es genau nahm, dann war das mit der Bohnensuppe mehr ein Wunschdenken. Harpo aß Bohnensuppe leidenschaftlich gern. Aber mit ihr war heute kaum zu rechnen, denn Karlie Müllerchen, der Riese, hatte Kü chendienst. Und der aß für sein Leben gern Kartoffelpuffer. Brrrr ... Der Pfad schlängelte sich wie eine dünne schwarze Linie durch das farben frohe Dickicht der Plastikpflanzen. Störende Blätter und Ranken bog Harpo mit dem dünnen Metallstab zur Seite, den er vor einigen Wochen gefunden hatte und seitdem immer bei sich trug. 5 So unübersichtlich der Dschungel auch wirkte: Weder Harpo noch Anca machten sich Sorgen, wie sie von hier in das Tal der Wigwams zurückfinden würden. Sie kannten sich auf diesem Deck aus wie ein Floh in der Westenta sche. Als sie vor zwei Jahren auf das Schiff gekommen waren, hatten sie noch jede Einzelheit bestaunt: Die violetten Rhabarberblätter, dick und groß wie Polsterkissen und genauso weich und elastisch; das hüfthohe Gras mit den gelben und blauen Halmen, die mit jeweils einer Farbe ein Quadrat formten und zusammen eine Fläche bildeten, die aus der Ferne wie ein Schachbrett mit gelben und blauen Karos aussah. Es gab Bäume, Schlingpflanzen und viele Blumen, kleine und riesengroße, unterschiedlich in der Form und bunt wie durcheinandergeworfene Farbnäpfe eines Malkastens. In dieser Deckzone hatten die Alten alles so farbenfroh wie nur möglich gestaltet. Selbst die Wände waren mit leuchtenden Farben bemalt. Dort allerdings schimmerte an einigen Stellen rostiges Metall durch. Die Farbe war im Laufe der Zeit brüchig geworden und bröckelte ab. Die Plastikpflanzen wirkten hingegen frisch wie am ersten Tag. Es gab Bezirke auf diesem Deck, das die Nummer 27 trug, die anders aussa hen. Etwa das Tal der Wigwams. Dort sah man nur grünblaues Plastikgras und einen strahlendgelben „Himmel“ mit einer künstlichen Sonne, die am Ende des Tages erlosch. Manchmal machte es Harpo Spaß, sich zwischen diesen bunten Pflanzen zu bewegen. Aber es gab auch Tage, an denen er sie nicht ausstehen konnte und sich in Ecken zurückzog, wo es nichts gab als di cke, graue Felsbrocken. Alle Kinder waren sich darin einig, daß es ihnen auf dem Schiff besser gefiel als zwischen den grauen Betonklötzen der irdischen Städte oder dem kahlen Umland. Unvernünftige Fabrikbesitzer hatten so lange schädliche Gase und giftige Flüssigkeiten in Luft und Wasser geleitet, bis die Menschen krank wurden und fast alle Tiere und Pflanzen starben. Riesige Maschinen mußten fortan die Aufgaben übernehmen, die früher den Pflanzen zugefallen waren. Sie wandelten Kohlensäure in den lebensnot wendigen Sauerstoff um und fraßen dabei gewaltige Energiemengen in sich hinein. Doch so sehr sich die Wissenschaftler und Gärtner auch abmühten: Die wenigen Tiere und Pflanzen, die die Umweltverschmutzung überlebt hatten, kümmerten in überdachten Schutzgebieten vor sich hin und wollten an der freien Luft nicht mehr gedeihen. Die meisten Kinder an Bord des Schiffes hatten noch niemals frische Pflanzen und lebendige Tiere gesehen und freuten sich über den Ersatz aus Kunststoff, den sie hier vorfanden. Nicht so Thunderclap Genius. Er dachte anders und hatte seine Freunde mit seinen Ideen angesteckt. Der blasse Junge, der sich nur in seinem automatischen Rollstuhl vorwärtsbewegen konnte, war einmal in einem Erholungsheim gewesen, zu dem ein Zoo mit richtigen Tieren und Pflanzen gehörte. Seitdem litt er unter einer unstillbaren Sehnsucht nach lebendigen Geschöpfen und verachtete den bunten Kunst stoff, der nicht altern mußte. Er war vor Aufregung ganz und gar aus dem 6 Häuschen geraten, als Micel Fopp, der Junge mit dem sechsten Sinn, von dem richtigen Frosch erzählte, den er gesehen haben wollte. Nur mühsam hatten die anderen Kinder Thunderclap davon abhalten können, mit seinem Rollstuhl einen Weg nach Deck 28 zu suchen, wo er nach dem Tierchen for schen wollte. Seltsam, daß sich auf dem Schiff lebendige Tiere aufhalten sollten. Wie waren sie dorthin gelangt? Wovon ernährten sie sich? Diese Gedanken gingen Harpo Trumpff durch den Kopf. Er war damit so stark beschäftigt, daß er Sekunden brauchte, ehe er realisierte, daß seine Schwester Anca aufschrie. Harpo wirbelte herum und machte ein erschrecktes Gesicht. Aber nur deshalb, weil ihn Pummelchens piepsende Stimme aus seinen Überlegungen gerissen hatte. „Das ist doch – das ist doch eine Schlange!“ rief Anca und deutete auf eine Stelle im Plastikgebüsch. Im ersten Moment konnte Harpo überhaupt nichts erkennen. Aber dann bemerkte er zwischen zwei dicken Blättern ein kleines, hellbraunes Tier, nur halb so lang wie sein Unterarm. Durch Ancas lautes Rufen aufgescheucht, ringelte es sich gerade tiefer in das Dickicht hinein. „Nicht entkommen lassen!“ schrie Harpo. „Es gibt keine Roboterschlangen an Bord. Die ist echt!“ Er stürzte hinterher und brach ungestüm die Plastikblätter auseinander. Anca folgte ihm und durchsuchte ein verfilztes Gestrüpp. „Sie kann noch nicht weit sein“, versicherte sie eifrig und kroch selbst wie eine Schlange über den Sandboden. Der gelbe Sand und die bunten Gräser und Blätter erleichterten es der Schlange, ein sicheres Versteck zu suchen. Die Färbung ihres Körpers hob sich kaum zu suchen. Die Färbung ihres Körpers hob sich kaum von der Um gebung ab. Harpo klopfte mit seinem Metallstab gegen die Büsche und hoffte darauf, daß sich die Schlange weiterschlängeln und dadurch verraten würde. Aber das Manöver blieb erfolglos. Ärgerlich wollte er sich abwenden, als ihm Ancas Stimme erneut durch Mark und Bein fuhr. „Hier ist sie! Hier ist sie! Harpo, komm schnell, ich habe sie. Aaaaauuuu!“ „Was ist denn?“ rief Harpo verdutzt und rannte zu Anca hin. „Ich glaube, sie hat mich gebissen“, sagte Anca mit zusammengepreßten Lippen, um aufkommende Tränen zu unterdrücken. Sie zeigte auf ihren lin ken Fuß. „Dort!“ rief sie und zeigte auf ein Gebüsch. „Laß sie nicht entkommen, Har po. Wir wollen sie doch den anderen zeigen.“ „Ach, das ist jetzt nicht mehr so wichtig“, meinte Harpo und kümmerte sich besorgt um das Mädchen. „Wir sind ganz schön leichtsinnig gewesen“, sagte er. „Hätte uns auch früher einfallen können, daß Schlangen kein Spielzeug sind.“ 7 Auf den ersten Blick konnte er an dem nackten Fuß – wie alle Kinder lief auch Anca stets barfuß – nichts Besonderes erkennen, aber dann entdeckte er eine winzige Bißwunde, aus der zwei Tropfen Blut ausgetreten waren. Sekundenlang fühlte er sich hilflos. Wäre Thunderclap Genius mit seiner Begeisterung für Tiere und Pflanzen und deren Lebensgewohnheiten nicht gewesen, hätte er auch nach drei Stunden nicht gewußt, was zu tun war. So entsann er sich jedoch an einen der endlosen Vorträge des Jungen im Roll stuhl. „Manche Schlangen sind giftig“, hatte Thunderclap gesagt. „Man muß ver suchen, das Gift auszusaugen, damit es nicht in den Blutkreislauf gerät. Und man darf, wenn man von einer giftigen Schlange gebissen wurde, nicht weg rennen, weil sich das Gift dann noch schneller im Körper verteilt.“ Thunderclap war sicherlich noch weiter in Einzelheiten vorgedrungen, aber Harpo hatte nur diese Sätze im Gedächtnis behalten. Er mußte etwas tun, das war klar. Denn ein zweites Mal würden sie heute kaum das Glück haben, in einer Notlage auf einen Grünen oder gar einen Alten zu stoßen. Ja, die Alten in ihren weißen Kitteln, mit ihren Spritzen, Tabletten und Abhorch geräten: Die hätten das Problem in Minutenschnelle aus der Welt geschafft. Doch die saßen in ihrer Zentrale, irgendwo im Schiff, weit weg vermutlich. „Stillhalten!“ befahl Harpo und beugte sich über das Bein seiner Schwester, die jammernd auf den Pfad zurückgekrochen war. Er preßte seinen Mund auf die Wunde und begann mit aller Kraft zu saugen. Eine salzige Flüssigkeit sammelte sich schnell in seiner Mundhöhle. Harpo spuckte sie aus. Dort wo er gesaugt hatte, war der Fuß ganz rot geworden, außerhalb dieser Zone hin gegen weiß, weil hier das Blut fehlte. Noch einmal lutschte er an Ancas Wunde, bis er nicht mehr konnte. Leider hatte Thunderclap nicht erwähnt, wie lange man saugen mußte. Harpo versuchte zu verbergen, daß er Angst um Anca hatte. Sie mußten so schnell wie möglich zu den Freunden zurück. Und von dort zu den Grünen. Die würden auf jeden Fall helfen. Aber wie, wenn Anca doch nicht rennen durfte? Hoffentlich war kein Gift im Blut geblieben, hoffentlich wirkte es nicht töd lich, hoffentlich ... Harpos Gedanken bewegten sich wie in einem rasenden Kreisel. „Kannst du gehen?“ fragte er ängstlich. „Komm, ich stütze dich.“ „Laß nur“, antwortete Anca tapfer. Sie blickte Harpo mit großen, leuch tenden Augen vertrauensvoll an. Als sie zum ersten Mal auftrat, sah ihr Bru der jedoch sofort, wie sich ihr Gesicht schmerzlich verzog. „Leg deinen Arm um meine Schultern“, ordnete er an. „Wir haben es nicht mehr weit.“ Anca tat, was er verlangte. Humpelnd bewegte sie sich an seiner Seite. Sie kamen nur langsam voran. Harpo dachte nur daran, daß der Schwester nichts geschehen durfte. Flüchtig überlegte er, daß sie ein richtiges Tier an Bord des Raumschiffs gese hen hatten und daß nach diesem Biß überhaupt nicht mehr daran zu 8 zweifeln war, daß die Gerüchte auf Tatsachen beruhten. Robottiere würden niemals beißen. Aber er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich auf den vor ihnen liegenden Weg. Für alles andere war später noch Zeit. Das Tal der Wigwams „Das ist doch ... das sind doch ... ei der Dauz ... wenn das nicht ... ich glaub’, mich trifft der Psychoschlag ...“, quakte jemand, als Harpo und Anca den Dschungel verließen und in das Tal der Wigwams traten. „Lonzo! Gott sei Dank!“ rief Harpo. „Du mußt uns helfen! Anca ist von einer richtigen Schlange gebissen worden. Kannst du uns helfen? Oder müssen wir zu den Grünen?“ Im letzten Moment verkniff sich Harpo den Zusatz: „zu den anderen Grü nen“. Das hörte Lonzo gar nicht gern, da er sich für einen Menschen hielt und sich auch so benahm. Es wäre unfair gewesen. Gewiß, Lonzo war ein Ro boter wie die anderen Grünen auch, aber er war auf der Seite der Kinder, während die anderen auf der Seite der Erwachsenen standen. Nachdem sie gemerkt hatten, daß ihr Kollege Lonzo die Plüschverkleidung abgelegt hatte und nicht länger ihren Befehlen gehorchte, wollten die Grünen ihn fort bringen. Aber die Kinder hatten ihren Freund versteckt. Niemand hatte das Recht, ihn fortzunehmen und gegen seinen Willen in einen verkleideten Ted dybären zu verwandeln. „Schlangenbiß?“ fragte Lonzo. „Potz Galaxis!“ Er beugte sich über das Bein des Mädchens. „Nicht verzagen – Lonzo fragen!“ „Kannst du uns helfen?“ wiederholte Harpo seine Frage. „Mir sollen gleich die Ohren abfallen, wenn ich das nicht kann“, knurrte Lonzo. Zwar besaß er überhaupt keine sichtbaren Ohren an seinem glatten, kugelförmigen Körper, aber er meinte es ernst. Harpo sah, wie der kleine Roboter im unteren Bereich seines blitzblanken Körpers ein paar Instrumente ausfuhr und sich damit an Ancas Bein zu schaf fen machte. Das Mädchen guckte ein bißchen bange, aber sie weinte nicht. „Wirst du mir auch nicht weh tun?“ fragte sie nur ein wenig besorgt. Sie mochte Lonzo gern, aber das war nicht außergewöhnlich. Alle Kinder im Wig wamtal mochten ihn. „Aber nicht doch, mein kleines, dickes Pummelchen“, krächzte Lonzo be ruhigend. „Wie könnte ich das denn, wo ich dich so gern habe wie meine eigene Tochter?“ „Du hast mich schon wieder Pummelchen genannt!“ fuhr Anca wie von einer Hornisse gestochen zornig auf. „Du weißt doch, daß du mich nicht Pummelchen nennen ... Aaaauuuuh!“ „Operation geglückt, Patient gerettet“, krähte Lonzo. „Macht drei Pfennig achtzig. Ich schicke die Rechnung.“ 9 Seine Tentakelarme wirbelten so schnell durch die Luft, daß man sie ein zeln gar nicht mehr wahrnehmen konnte. Dann hielt er inne. Ancas Bein war bereits verbunden. „Blutanalyse: kein Gift. Wunde desinfiziert. TetanusInjektion erfolgt. Ver band mit Heilkulturen angelegt“, schnarrte er herunter. Im nächsten Moment schlug Lonzo ein Rad mit seinen Tentakelarmen. „Kein Arzt zur Stelle – ruft Lonzo, gelle?“ blubberte es aus der Mitte des Me tallknäuels. Der Roboter verschwand mit glucksenden Geräuschen zwischen den Dschungelpflanzen. Klatschend kam er zur Ruhe, als sein Körper mit einem dicken Plastikbaumstamm kollidierte. „Zu Hülfe! Zu Hülfe!“ kreischte Lonzo und begann mit feierlichem Timbre in der Stimme „In Lauterbach hab’ i mein’ Strumpf verlor’n“ zu singen. „Ein verrückter Kerl“, sagte Harpo lachend. Aber er war überzeugt davon, daß man sich auf Lonzo verlassen konnte. Er hatte eigenartige Angewohnhei ten entwickelt und zweifellos einen Defekt in seinem positronischen Gehirn. Aber man konnte jederzeit auf ihn setzen, wenn Not am Mann war. „Hallo, meine Kleinen“, kam eine zaghafte Stimme aus einem Grasbüschel. „Trompo!“ jauchzte Anca, noch bevor sie ihren kleinen Spielgefährten zwi schen den blauen Halmen entdeckt hatte. Ihre Verletzung hatte sie im gleichen Moment vergessen. Sie kniete nieder und glättete mit den Händen die Halme am Rande des Weges. Ein seltsames kleines Wesen stolzierte mit hocherhobenem Rüssel auf das Mädchen zu und ließ sich bereitwillig auf den Arm nehmen. Trompo glich bis auf die langen, pelzbedeckten Schlappohren in beinahe allen Einzelheiten einem irdischen Elefanten – aber er war nicht größer als ein Kätzchen und genauso anschmiegsam. Trompo war ihnen allen ein Rätsel geblieben, obwohl er länger im Wigwamtal lebte als die Kinder. Er war kein Robottierchen und stammte auch nicht von der Erde. Vielleicht hatte ihn ein Raumfahrer vor langer Zeit von einem anderen Planeten mitge bracht und hier ausgesetzt oder vergessen. Jedenfalls konnte er sprechen. Die seltsamen Trompetentöne, die Trompo von sich gab, wenn eines der Kinder ein Lied anstimmte, hatten ihm zu seinem Namen verholfen. Die Kinder kannten aus alten Filmen die riesigen Elefanten, die einst in Afrika und Indien gelebt hatten. Nun waren sie ausgestorben, und zwar, wie sie gelernt hatten, bereits bevor das große Sterben der Pflanzen und anderen Tiere auf der Erde eingesetzt hatte. Elfenbeinjäger hatten sie wegen ihrer Stoßzähne gnadenlos verfolgt, und Sonntagsjäger, die überall auf der Erde nach einem Nervenkitzel suchten, hatten sie abgeknallt. Auch Trompo besaß Stoßzähne, die aber so winzig wie alles andere an ihm waren. Er erzählte niemals, woher er kam und was er bei den Kindern suchte. Aber es schien ihm im Tal der Wigwams zu gefallen, denn er blieb. Er war ebenso intelligent wie die menschlichen Talbewohner, doch wie Lonzo hatte er größtenteils nur Unsinn im Kopf. Anca sah schon lange nicht mehr so blaß aus wie kurz nach dem Schlangenbiß. Sie humpelte zwar noch immer, mußte sich aber nicht mehr 10