Die "Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie" stellen eine Sammlung solcher Arbeiten dar, die einen Einzelgegenstand dieses Gebietes in wissenschafl: lich-methodischer Weise behandeln. Jede Arbeit solI ein in sich abgeschlossenes Ganzes bilden. Diese Vorbedingung laBt die Aufnahme von Originalarbeiten, auch solchen groBeren Um fanges, nicht zu. Die Sammlung mochte damit die Zeitschriften "Archiv fUr Psychiatrie und Nervenkrank heiten, vereinigt mit Zeitschrift fUr die gesamte Neurologie und Psychiatrie" und "Deutsche Zeitschrift fUr Nervenheilkunde" erganzen. Sie wird deshalb deren Abonnenten zu einem Vorzugspreis geliefert. Manuskripte nehmen entgegen aus dem Gebiete der Psychiatrie: Prof. Dr.M. MULLER Bern, BolligenstraBe 117 aus dem Gebiete der Anatomie: Prof. Dr. H. SPA;rZ GieBen, FriedrichstraBe 24 aus dem Gebiete der Neurologie: Prof. Dr. P. VOGEL Heidelberg, VoBstraBe 2 Die Bezieher des "Archi'll fur Psychiatrie und Ner'llenkrankheiten, 'llereinigt mit der Zeitschri/l fur die gesamte Neurologie und Psychiatrie", der "Deutsche Zeitschri/l fur NeT'llenheilkunde" und des "Zentralblatt fur die gesamte Neurologie und Psychiatrie" erhalten die Monographien bei Bezug durch den Buchhandel zu einem gegenuber dem Ladenpreis um 100/0 ermaf1igten Vorzugspreis MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE HERAUSGEGEBEN VON M. MOLLER - BERN' H. SPATZ -GIESSEN • P. VOGEL - HEIDELBERG HEFT 94 PSYCHOPATHEN DASEINSANALYTISCHE UNTERSUCHUNGEN ZUR STRUKTUR UND VERLAUFSGESTALT VON PSYCHOPATHIEN VON HEINZ HAFNER DR. MED., DR. PHIL., PRIVATDOZENT FOR PSYCHIATRIE UNO NEUROLOGIE AN DER UNIVERSITll.T HEIDELBERG MIT EINEM GELEITWORT VON DR. DR. he. LUDWIG BINSWANGER SPRINGER-VERLAG BERLIN· GOTTINGEN . HEIDELBERG 1961 Aus der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universitat Heidelberg Direktor: Prof. Dr. W. v. BAEYER ISBN 978-3-540-02731-7 ISBN 978-3-642-87999-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-87999-9 Alle Rechte, insbesondere das der Dbersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdriickliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielHiltigen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinn der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei 2.U betradltcn waren und daher von jedermann benutzt werden diirften © by Springer-Verlag OHG I Berlin-Gottingen-Heidelberg 1961. Inhaltsverzeichnis I. Geleitwort (L. Binswanger) II. AufriG der problemgeschichtlichen Situation 8 III. Die Freilegung des psychopathologischen Erfahrungshorizonts 12 Vorgehen und Beweisstruktur der psychiatrischen Daseinsanalyse . 19 Kritische Einwiinde gegen die psychiatrische Daseinsanalyse . 27 Die Frage nach der "Pathogenese" . . . 30 Die psychopathologische Diagnose und ihre Voraussetzungen 32 IV. Ein hochstaplerischer Betriiger Lebensgeschichte des Daniel Fiirst . 38 Kindheit und Jugend 39 Erwachsenenalter . 42 Altern und Tod 48 Klinische Vorbemerkungen . 58 Daseinsanalyse . 59 Einfiihrung . 59 Die Kindheitswelt 59 Die "freundliche Dbereinstimmung" 60 Die Welt des Erwachsenen. . . . 65 Die Zeit der Feste . . . . . . 67 Die "spielerisch-Ieichtfertige Daseinsform" 71 Bedrangnis und Freiheit. 75 Die Sprache 78 Die Mitseinsweisen 83 Die Zeitlichkeit 90 Alter und Niedergang 93 Die Verlaufsgestalt 99 V. Ein psychopathischer Hypochonder Lebensgeschichte des Peter Krumm 109 Daseinsanalyse . . . . . 125 Diagnostische Vorbemerkungen 125 Die Kindheitswelt . . . . 126 Die "Ausweglosigkeit" . 128 Der verfehlte "Aufgabencharakter" des Daseins 129 Der Bruch zwischen individueller und sozialer Haltung . 130 Das existenzielle Gewissen . 131 Hoffnung und Entmutigung . . 134 Der Leib . . . . 139 Bedriickung und Druck im Leibe . 142 Wiirme und Kiilte 144 Die hypochondrische Krankheitswelt 145 Geschichtlichkeit und Verlaufsstruktur 147 VI. Ein "stimmungslabiler" Psychopath Lebensgeschichte des Emil Barth 152 IV Daseinsanalyse . . . . . 160 "Charakterbildung" und Kindheitswelt 160 Entmutigung und Schwermut . 162 Stimmung als "Aufenthalt" . . . . 165 Die Welt der "Pflicht" . . . . . . 168 Die "Dberhohung" der Wirklichkeit in Stimmung und Phantasie . 170 Die "Phasen" depressiver Verstimmung 175 Zusammenfassung und Verlaufsgestalt 180 VII. Psychopathie als klinische "Einheit" 184 "MaW' und "Ordnung" . . . 186 Die "psychopathische Daseinsverfassung" 189 Psychopathische Durchbruchshandlung und neurotische Ausdruckshandlung . 194 Die "soziale Rolle" .......... 198 Die psychopathische Abwandlung der mitweltlichen Ordnung als Verfehlung des "Aufgabencharakters". . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199 Die lebensgeschichtliche Ausformung der "psychopathischen Daseinsverfassung" 201 Die existenziellen Voraussetzungen "psychopathischer Charaktertypen" 205 Grundsatzliche Moglichkeiten und Grenzen der Typenbildung 206 Psychopathische Daseinsverfassung und "Anlage" 208 "Psychopathische" Verlaufsgestalten 209 N a c h w 0 r t 213 Literatur 215 N arne n v e r z e i c h n i s 223 Sac h v e r z e i c h n i s 225 I. Geleitwort von Ludwig Binswanger 1. In der noch sehr jungen Geschichte der phanomenologisch-daseinsanalytischen Psychiatrie nimmt die vorliegende Arbeit von HEINZ HAFNER insofern einen beson deren Platz ein, als sie sich erstmals systematisch an einem nicht-psychotischen Gebiet versucht, an dem immer noch umstrittenen Gebiet der Psychopathien. Urn zu ver stehen, was hier geschieht, miissen wir in Ermangelung einer gemde heute so drin gend notwendigen allgemein-psychiatrischen Methodenlehre etwas weiter ausholen. Der Ursprung der phanomenologisch-daseinsanalytischen Forschungsrichtung in der Psychiatrie liegt in dem Ungeniigen, ja Leiden unter dem Mangel an einer phano menologisch-humanen oder menschlichen Vergleichbarkeit der je eigenen Lebenswelten geisteskranker und gesunder Menschen und in clem una:bHissigen systematischen Suchen nach einer wissenschatfHichen Methode zur Abhilfe dieses Mangels. Hierzu erOOfneten sich mit der Zeit zwei Moglichkeiten. Die erste ergab sich aus der phanomenologisch apriorischen, ontologischen Freilegung des menschlichen Daseins durch MARTIN HEID EGGER in "Sein und Zeit" vom Jahre 1927, die zweite, von mir aber erst vor kurzem (1960) ergriifene, in der Phanomenologie der transzendentalen Konstitution des spaten HUSSERL, meinem Verstandnis erst voU erschlossen durch W. SZILASIS "Ein fiihrung in die Phanomenologie Edmund Husserls" vom gleichen Jahre. DaB die vor liegende Arbeit von HEINZ HAFNER sich noch ganz auf HEIDEGGER stiitzt, versteht sich von se1bst. Insofern sie aber auch ihrerseits von der phanomenologischen Inter pretation der jeweiligen Lebenswelten seiner Kranken, der Leben~welt der Kindheit und des Erwachsenenalters, sowie von der in beiden zutage tretenden phanomenologi schen Verlaufsgestalt ausgeht, tragt sie einen ausgesprochen phanomenologischen Charak ter, der auch im Sinne des spaten HUSSERL noch weiter ausgeschopfl: werden konnte. Was nun das Neuland betriffi:, das HAFNER mit dem vorliegenden daseinsanaly tisch-phanomenologischen Versuch 'betritt, so konnte man des Glaubens sein, die Ver haltnisse hinsichtlich ,der menschlichen Vergleichbarkeit der je eigenen Lebenswelten der Psychopathen und derjenigen der Gesunden lagen hier giinstiger als hinsichtlich der bisher untersuchten Welten geisteskranker Menschen, besaBen wir doch schon eine sehr griindlich bearbeitete menschliche Vergleichsbasis unter dem Titel des mensch lichen Charakters und der mensch'lichen Personlichkeit. Wie allgemein bekannt, hat sich der psychiairische Scharfsinn schon lange damit befaBt, das Pathologische an den "psychoparhiseh.en Charakteren" oder das Abnorme an den "abnormen Personlich keiten" psychologisch, d. h. auf Grund der naiven oder natiirlichen Menschenerfahrung und ihrer Sprache oder theoretisch auf Grund psychologischer oder psychopathologi scher Theorien herauszuarbeiten, wogegen unser Autor seinen - phanomenologisch daseinsanalytischen - Standpunkt immer wieder abzuheben unternimmt. (In dieser Hafner, Psychopathen 2 Geleitwort (L. Binswanger) Abhebung braucht weder yom Autor noch yom Schreiber dieser Zeilen eine Gering schatzung jener immensen Ar'beit erblickt zu werden, vielmehr nur ein Mittel zur deutlichen Herausbildung des eigenen phanomenologisch-daseinsanalytischen Stand punktes.) Abgesehen davon, daB sowohl hinsicht'lich der Definition der Begriffe des Charakters, der Personlichkeit oder der Person und ihres Verhaltnisses zueinander keine Einigkeit erzielt werden konnte, haben wir einzusehen, daB von der Erzielung einer solchen Einigkeit und der Moglichkeit einer wissenscha!ftlichen Definition jener Begriffe keine Rede sein kann, so lange sie lediglich auf Grund einer psychologisch wissenscha'ftlichen Theorie - und sei es auch eine Personlichkeits-, person-wissen schaftliche oder gestalt-psychologische Theorie - konstruiert sind und jeder phano menologischen Erfahrungsgrundlage und jeder apriorisch-ontologischen Interpretation entbehren. Es ist nun interessant zu sehen, wie unser Autor diese doppdte Aufgabe, die der empirisch-pihanomenologischen Erfahrungsmethode und die der ontologischen Inter pretation im Hin'blick auf das Sach- oder Gegenstandsgebiet der "Pathocharaktero logie" oder der "psychopathischen Abnormitat" ins Werk setzt. (Wir schicken gleich voraus, daB dabei die Erledigung def ersten Aufgabe nach der eigenen Absicht des Autors bei weitem iiberwiegt.) DaB HAFNER trotz dieser Beschrankung mit seiner Aufga'be recht eigendich ringt, sehr weitlaufig verfahrt und sich otft wiederholt, immer im Bestreben, dem Leser sein Anliegen recht deutlich zu machen, darf uns angesichts des Neulandes, das er mit seiner Untersuchung betritt, nicht in Erstaunen versetzen. Der "Vorwurf" der Weitlaufigkeit richtet sich aber keineswegs auf seine "Mammut krarrkengeschichten", wie sie der Autor selber einmal nennt, bilden sie doch die eigent liche Erfahrungsgrundlage seines ganzen Unternehmens und kann diese Grundlage nicht griindlich genug vor unseren Augen ausgebreitet werden. Denn was hier ent scheidend ist, clas ist, im Gegensatz vor allem zur phanomenologischen Daseinsanalyse der Manie und Melancholie und in weitgehender Obereinstimmung mit der der Schizophrenie, wie der Autor so klar zeigt, die Geschichtlichkeit des Daseins, einzig und allein in Erscheinung tretend und interpretierbar am Verlauf der je eigenen Lebens- und Krankheitsgeschichte. In deren Darstellung und Interpretation liegt denn auch das Schwergewicht der vorliegenden Arbeit. In weiser Beschrankung begniigt sich unser Autor mit der Analyse von drei "Fal len", dem Fall eines "hochstaplerischen Betriigers", eines "psychopathischen Hypo chonders" und eines "stimmungslabilen Psychopathen". Dabei steht ihm das Wissen um die bisherigen Errungenschaiften der gesamten psychiatrischen Daseinsanalyse, und damit das freie Verfiigenkonnen iiber dieselben, sowie die Kenntnis weiter Gebiete der Literatur cler klinischen Psychoparhie-Forschung zur Verfiigung, alles bezeugt in sehr ausfiihrlichen Literaturangaben. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung der phanomenologischen Gestalt, des phanomenologischen Wesens oder Eidos des jeweiligen Daseinsverlaufs, aufgezeigt, wie bereits erwahnt, schon an der kindlichen Welt und der Obereinstimmung der Gestalt derselben mit derjenigen der Erwach senenwelt. Am ii'berraschendsten und eindringlichsten wird diese 'Obereinstimmung sichtbar im ersten Fall, dem Fall des hochstaplerischen Betriigers Daniel Fiirst. Dabei weist cler Autor ausdriicklich darauf hin, daB es sich hier, wie natiirlich auch in den anderen, ebenfalls sehr klar interpretierten Entfa!tungen der Lebensgeschichte, nicht etwa um die heute so weit gediehene gegensrandlich-historisc'he Erforschung von Ein fliissen der Eltern auf die Kinder handelt (S. 61), noch auch um eine N otwendigkeit Geleitwort (L. Binswanger) 3 der lebensgeschichtlichen Entfaltung (S. 100) (im Sinne eines "Ereignis- und Wirkungs zusammenhanges"). Gerade hier scheiden sich die Methoden des gegensrandlichen Be greifens und Erklarens und des phanomenologischen Sehens oder Schauens der "Ge stalt eines Daseinsganges". Haben wir somit eine Basis der Vergleichbarkeit der Lebenswelten des gesunden und des klinisch als psychopathisch bezeichneten Menschen, so kommt nun alles darauf an, zu zeigen, worin die betreffenden Welten sich unterscheiden. Da aber Welt nur ist in der Weise des existierenden Daseins, das als In-der-Welt-sein faktisch ist (HEID EGGER), muB bei jener Unterscheidung nicht nur gezeigt werden, wie die Weltlichkeit der jeweiligen Welten, sondern auch wie die Gestalten des gesamten Daseins und die Strukturen des Daseinsverlaufs bei den von der Klinik als psychoparhisch bezeichne ten Menschen sich von derjenigen des als gesund bezeichneten Menschen abheben lassen. Und zwar darf es sich dabei, wie ii:berall in der daseinsanalytischen Psychiatrie, keineswegs nur urn das Anschaulichmachen eines "Minus", einer Einschrankung oder Reduktion des Daseins auf gewisse Seinsmogl1ichkeiten handeln, vielmenr kommt alles darauf an, die Weise des jeweiligen Andersseins der Struktur des jeweiligen Daseins und seines Ganges oder seiner Verlaufsgestalt "positiv", d. h. in seiner Eigenart, zur Anschauung zu bringen. Die Losung dieser Aufgabe gelingt unserem Verfasser aus gezeichnet. Die Kriterien, mittels derer er diese Aufgabe lOst, sind also diejenigen der Heideggerschen Existenzialen des Daseins iiberhaupt, zunachst der Existenz, als der M oglichkeit des Freiseins fiir das eigenste Seinkonnen, des Ergreifens und Verfehlens dieser Moglichkeit, m. a. W. des Gliickens oder MiBgluckens des Daseins, von HAFNER zusammengefaBt als "existenzielles Gewissen", das er sorgfaltig von dem "autorira ren" und vor allem von dem ethischen Gewissen ahhebt. Das MiBgliicken des Daseins, anschaubar gemacht an der Gestalt oder dem Strukturgefiige des Daseinsganges, nam lich seines "Stillstandes", seiner Ausweglosigkeit oder "starren" Konsequenz, wird von HAFNER mit Fug und Recht in aHererster Linie aufgewiesen an dem MiBgliicken des Daseins als Mitsein und Miteinandersein, m. a. W. an deren Einschrankung auf ganz bestimmte, die Struktur und den Gang des ganzen Daseins bestimmende und insofern in der Tat "schicksalbestimmende" Mitseinsweisen. Auch hieran sieht man, daB hier die Geschichtlichkeit des Daseins im Mittelpunkt der phanomenologischen Interpretation steht. Hat doch HEIDEGGER mit aller nur wunschenswerten Klarheit gezeigt, daB Geschichtlichkeit gleich urspriinglich ist nicht nur mit Zeitlichkeit, Welt, Geschichte und Schicksal, sondern erst recht auch mit Mitsein und Gemeinschaft. Im ersten Fall gelingt es dem Autor in hervorragendem MaBe, die fur den betref fend en Menschen entscheidende oder "maBgebende" Weise des Mitseins von der Kind heit bis zum Tode aufzuzeigen. Es ist die Weise der "freundlichen 'Obereinstimmung" im Sinne der "Illusion des unbeschrankten Aufgenommenseins" als des eigentlichen "Aufenthaltes" des Daseins, in welchem "Aufenthalt" es im Verein mit dem leicht fertig-spielerisch-optimistischen In-sein in der Welt "kein Zuriickgehen auf die Wahr haftigkeit", sondern nur ein "Dberspielen der Wahrheit" im Sinne des gesamten "betriigerisch-hochsta plerischen" In-der-Welt-seins gibt. Im zweiten Fall, dem des "psychopathischen Hypochonders" Peter Krumm, ist die Weise des Mitseins gekennzeichnet durch das "Ausweichen vor Druck, Bedrangnis, Harte und Kalte (Vater) und das Suchen nach Warme (Mutter), aIle diese Ausdriicke sowohl in der geistigen und seelischen ais erst recht in der leiblichen Bedeutungsrichtung gemeint. Aus dieser Universalitat der Bedeutungsrichtungen wird erst verstandlich, 1* 4 Geleitwort (L. Binswanger) inwiefern hier "der Leib" als der eigentliche "Aufenthalt" der Existenz gesehen und bezeichnet werden kann und inwiefern die Existenz hier am und im "Leib" scheitern oder zum Stillstand kommen muK Was uns im ersten Fall das Angewiesensein des Daseins auf /reundliche Uberein stimmung mit der Mitwelt urn jeden Preis, auch urn den Preis des hochstaplerischen Bramarbasierens vor Augen stellt, im zweiten Fall das Angewiesensein auf mitwelt liche und auf eigenweltlich-Ieibliche Warme, das ist im dritten Fall des "stimmungs labilen Psychopathen" Emil Barth das Angewiesensein des Daseins - ebenfalls von Kindheit an - auf die "Zu-Stimmung" der Mitwelt, die hier aber nicht erreicht wird durch hochstaplerisches Bramarbasieren, sondern durch Flucht in die "Stimmung", die phantasiegetragene Verherrlichung der Mitwelt. War der "Aufenthalt der Existenz" im erst en FaIle die leichtfertig-spielerisch-"optimistische" Daseinsfreude, im zweiten der Leib, so ist sie im dritten die Stimmung im Sinne "schwarmerischen Gefuhlsuber schwangs", "suBer MelanchoIie", "suBer Traurigkeit", unendlichen "Tranenmeers". HAFNER zeigt sehr klar, wie und inwiefern Emil Barth seinen Aufenthalt von Kindheit an uber Bedrangnis, Bedruckung und Versagung hinweg in Stimmung und Phantasie gefunden hat, genauer: in einer stimmungsgetragenen, illusionaren :Vbereinstimmung mit Welt und Mitwelt, einer phantasiegetragenen "Uberhohung" der bedruckenden Tiefe der Welt, wie sie sich auch in Sprache, Gebaren und Stil nachweisen laBt. Mit dem hier nur kurz angedeuteten Aufweis der existenziellen ("Dberbriickungs"-)Rolle einer solchen "Gestimmtheit" hat HAFNER ein neues Licht auf eine mogliche Rolle der Gestimmtheit im Dasein geworfen. Alle diese Aufenthalte bedeuten wie gesagt notwendigerweise einen Stillstand oder ein Aneinendegelangen der Existenz als einer ausweglosen, verfehlten oder miB gluckten. Mit all dem nahern wir uns dem, was HAFNER in bezug auf seine FaIle die "Ver laufsstruktur des ganzen Daseinsganges" (z. B. S. 99 ff.) nennt. Wenn wir auch nicht zu ausfuhrlich werden wollen, miissen wir doch noch einmal des zentralen Wesensmerkmals im Daseinsverlauf psychopathischer Menschen geden ken, in dessen Herausarbeitung unter dem Titel der Fassade die Kunst der Inter pretation bei unserem Autor sich in ganz besonderem MaBe zeigt. HAFNER begnugt sich, wie wir sahen, nicht damit, aufzuzeigen, in welchen Weisen miBgliickten Daseins die Daseinsverlaufe bei seinen Psychopathen in Erscheinung treten, vielmehr geht er iiber die (negative) Feststellung der Verfehlung der eigensten existenziellen Moglich keiten hinaus zu der (positiven) Feststellung, daB es auch hier dem Dasein urn sein Ganz-sein-konnen geht und daB es auch da, wo dies durch einen "Bruch seiner Ent faltungsmoglichkeiten" gefahrdet ist, die Einheitlichkeit der Welt "auf einem anderen Wege wieder herzustellen sucht" (S. 62). Damit kommen wir auf den wichtigen Be griff der Fassade. HAFNER knup£t hier an das "Auseinanderbrechen der Konsequenz der naturlichen Erfahrung" bei Schizophrenen an, sowie an die Verdeckung unver sohnlicher Alternativen durch "verstiegene Idealbildung". In dieser Verdeckung sieht er eine Extremform dessen, was er hier beim Daseinsverlauf seiner Psychopathen auf zeigt, und was er, wie gesagt, die Fassade nennt. Fassade ist der Ausdruck fur aIle jene uns bereits bekannten "Verdeckungen des unverwirklichten Seinkonnens", mittels wel cher das Dasein sich bei psychopathischen Menschen gerade nicht in "antinomischen Spannungen", wie bei Schizophrenen, sondern in jener uneigentlichen, den Bruch ver deckenden Einheitlichkeit austragt, die seine Welt kennzeichnet. Oder: Unter dem Geleitwort (L. Binswanger) 5 Begriif der Fassade wird der jeweils gelebte Entwurf verstanden, der die "existenzielle Dissoziation" (leider ein nicht sehr gllicklicher Ausdruck!) verdeckt. In diesem Entwurf kommen die eigentlichen verschlitteten Daseinsanliegen "auf abgewandelte Weise" in Welt und Mitwelt zum Austrag: 50 werden z. B. Enge und 5chwere bei Daniel Flirst (Fall I) "in der illusionaren Unbegrenzrheit eines leichtfertigen Optimis mus" liberspielt, wird bei Peter Krumm (Fall II) das zum Warmebedlirfnis abgewan delte mitmenschliche Anliegen "in der physikalischen Warmezufwhr ausgetragen" (5. 145 f.) oder kommt es bei Emil Barth (Fall III) zu einer stimmungs- und phantasie getragenen Dberhohung der Wirklichkeit". Die "Fassade" ist es, "die ein Gllicken des Daseins vor einem Horizont abgewandelter oder uneigentlicher 5einsmoglichkeiten verheiih". In einer sol chen Fassade flihrt das Auft au chen der unerflillten Anliegen, des verfehlten 5einkonnens, zur "Verfestigung des gelebten Entwurfs". "Auf dies em Wege kommt es zu einer fortschreitenden Institutionalisierung des abgewandelten Gewissens", was .zugleich "eine wachsende Erstarrung des gelebten Entwurfs und des Daseinsgeschehens liberhaupt bedeutet." Damit, und das 'ist hier das Wichtigste, "schrumpft die Moglichkeit einer Umkehr, ein Zurlickkommen des Daseins auf sein verfehltes 5einkonnen und auf ein entschlossenes Ergreifen der ihm liberantworteten Moglichkeiten" (5.105 if.). Damit hangt zusammen die "pathologische Bestandigkeit", ja "Monotonie", die wir in den Lebenslaufen vieler Psychopathen antre!ffen. Aus all dem sollte klar geworden sein, mit welchem Recht der Autor als das Ziel seiner Untersuchungen die "methodische existenzielle Fundierung der klinischen Psy chopathie-Diagnostik in Gestalt objektiver, (namlich transzendental-objektiver) Ent wurfs- und Verlaufscharaktere" bezeichnet (5.208). Dabei ist er sich bewuEt, daE wir yom eigentlichen Ziel, die psychopathische Daseinsweise zu ergrlinden, geschweige denn die Flille ihrer Erscheinungen zu libersehen, noch weit entfernt sind. 5icherlich behaup tet er aber eher zu wenig als zu viel, wenn er erklart: "Unser Bemlihen galt dem Frei legen einiger Zugangswege zum Verstandnis der Psychopathen" (5.213). II. Was schlieElich den tiefgreifenden Unterschied zwischen daseinsanalytischer und klinischer Psychiatrie und das Fundierungsverhaltnis beider Methoden betriffi, so ist beides in clieser 5chri,ft so ausgiebig und grundsatzlich dargelegt worden, daE es nur noch weniger Worte bedarf. 5icherlich geht es der Daseinsanalyse urn nichts weniger als urn formelhafte Endergebnisse, sicherlich liegt ihr nichts Ferner als eine Erstarrung in Formeln und ein Po chen auf formelha!fte Ergebnisse, und nichts Ferner als cler Glaube, damit je an ein Ende zu gelangen. Andererseits muE auch sie, wie jede wissen schaftliche Methode, imstande sein, ihr wissenschaftliches Anliegen, ihre Methode, deren wissenschaftliches Fundament, und ihre wissenschaftlichen Befunde formulieren zu kon nen. Von all dem gibt unsere 5chrift sowohl im allgemeinen als im Hinblick auf ihr spezielles Thema einwandfrei Kunde. Es handelt sich bei der Daseinsanalyse urn mehr und anderes als urn eine "Sinn"-ErschlieEung, namlich urn eine bestimmte Art der Erfahrung, und zwar urn die Erfahrung eines in der Geschichtlichkeit des Daseins grlindenden Geschehens und Geschehenszusammenhanges, Freilich vollig verschieden von einem kausalen, genetischen oder Wirkungszusammenhang liberhaupt. Diesen Unterschied bis aufs Letzte klarzumachen, ist nicht 5ache einer daseinsanalytischen