KARL JASPERS . PSYCHOLOGIE DER WELTANSCHAUUNGEN PSYCHOLOGIE DER WELTANSCHAUUNGEN VON KARLJASPERS O. O. PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT BASEL FONFTE, UNVERÄNDERTE AUFLAGE SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG GMBH ISBN 978-3-662-00739-6 ISBN 978-3-662-00738-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-00738-9 ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN OHNE AUSDRÜCKLICHE GENEHMIGUNG DES VERLAGES IST ES AUCH NICHT GESTATTET, DIESES BUCH ODER TEILE DARAUS AUF PElOTOMECHANISCHEM WEGE (PHOTO KOPIE, MIKROKOPIE) ZU VERVIELFÄLTIGEN (Cl SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG 1960 URSPRÜNGLICH ERSCHIENIN BEI SPRINGER-VERLAG OHG/BERLlN. GÖTTINGEN • HEIDELBERG 1960 SOFTCOVER REPRINT OF THE HARDCOVER 5TH EDITION 1960 GERTRUD JASPERS GEWIDMET VORWORT. Es ist philosophische Aufgabe gewesen, eine Weltanschaung zu gleich als wissenschaftliche Erkenntnis und als Lebenslehre zu ent wickeln. Die rationale Einsicht sollte der Halt sein. Statt dessen wird in diesem Buch der Versuch gemacht, nur zu verstehen, welche letzten Positionen die Seele einnimmt, welche Kräfte sie bewegen. Die faktische Weltanschauung dagegen bleibt Sache des Lebens. Statt einer Mitteilung dessen, worauf es im Leben ankomme, sollen nur Klärungen und Möglichkeiten als Mittel zur Selbstbesinnung gegeben werden. Wer direkte Antwort auf die Frage will, wie er leben solle, sucht sie in diesem Buche vergebens. Das Wesentliche, das in den konkreten Entscheidungen persönlichen Schicksals liegt, bleibt ver schlossen. Das Buch hat nur Sinn für Menschen, die beginnen, sich zu verwundern, auf sich selbst zu reflektieren, Fragwürdigkeiten des Daseins zu sehen, und auch nur Sinn für solche, die das Leben als persönliche, irrationale, durch nichts aufhebbare Verantwortung er fahren. Es appelliert an die freie Geistigkeit und Aktivität des Lebens durch Darbietung von Orientierungsmitteln, aber es versucht nicht, Leben zu schaffen und zu lehren. Heidelberg. Kar! Jaspers. VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE. Dies Buch meiner Jugend aus der Zeit, als ich von der Psychiatrie her zum Philosophieren kam, aus der Zeit des ersten Weltkriegs und der Er schütterung unserer überlieferung, ist das Ergebnis der Selbstbesinnung jener Tage. Es erscheint jetzt, nachdem es fast zwei Jahrzehnte vergriffen war, unverändert in neuer Auflage. Philosophie entspringt einer Grundverfassung. Diese bleibt beim ein zelnen Menschen die gleiche durch ein Leben. Die Wahrheit des ersten Versuchs wird durch spätere Klarheit nicht verdrängt oder ersetzt. Sub stantiell ist der Anfang schon das Ganze. Diese meine erste philosophische Äußerung hat, wie mir scheint, den Vorzug der Unmittelbarkeit in vielen Teilen. Diese aber werden einge schlossen in ungelenke Schemata der Ordnung. Die Sprache des Buches ist, wo sie unabsichtlich gelingt, frisch, und wie der Widerhall zeigte, an sprechend. Weil sie aber als solche überhaupt nicht Gegenstand meiner Aufmerksamkeit war, gelangte sie nicht zur Durchformung, überhaupt zu keiner Form. Vielmehr geriet sie manchmal in entgleitende Wiederholungen, in Häufungen, gelegentlich auch in Leerheiten. Das Buch wurde nieder geschrieben und dann zum Druck gebracht, nicht umgeschrieben, nur wenig korrigiert. Jetzt habe ich den Plan einer Säuberung erwogen. Durch Streichungen, durch Kürzungen von Sätzen, durch Ausjäten gelegentlich überwuchernden Unkrauts (am Maßstab meines gegenwärtigen Urteils) schien eine Verbesserung möglich. Wenn kein neuer Satz hinzukäme, wäre das Buch nicht verändert. Ich habe es unterlassen. Es wäre wahrscheinlich doch nicht gelungen, ohne einen Stil hineinzubringen, der die ursprüngliche Stillosigkeit verschleierte. Es ist jetzt leicht für mich, an meinem früheren Buch Kritik zu üben. Es hat, gemessen an philosophischer Fachlichkeit, etwas Unbekümmertes. Ich lebte noch in der Haltung psychopathologischen Denkens. Wohl hatte ich aus persönlicher Lust seit früher Jugend philosophische Bücher gelesen, aber noch nicht Philosophie studiert. Was ich dachte, erwuchs aus der Anschauung von Menschen und aus der Leidenschaft der Erfahrung in der eigenen Lebensführung. Mein Interesse w;:u- bei den letzten Dingen. Ich erblickte, vergegenwärtigte, sprach aus meiner Betroffenheit, benutzte ohne VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE. IX Bedenken und ohne Wissen aus der Lektüre mir zugeflossene Begriffe und Redewendungen, machte ebenso unbedenklich neue, ohne sie planmäßig zu durchdenken. Zur Charakteristik des Buches darf ich seine Entstehung erzählen. Daß das Buch " Psychologie " der Weltanschauungen heißt, ist äußerlich durch meine damalige akademische Position bedingt. Ich war habilitiert für Psychologie, nicht für Philosophie. Ich begann, gestützt auf den Satz des Aristoteles "die Seele ist gleichsam alles", mit gutem Gewissen unter dem Namen der Psychologie mich mit allem zu beschäftigen, was man wissen kann. Denn es gibt nichts, was nicht in diesem weiten Sinn eine psycho logische Seite hat. Keineswegs nahm ich die damals in dem Heidelberger Kreise (WINDELBAND, RICKERT) herrschende Abgrenzung der Psychologie an. Was ich unter dem Titel "verstehende Psychologie" in einem Kapitel meiner Psychopathologie begonnen hatte, wurde mir nun identisch mit dem, was in der großen überlieferung geisteswissenschaftlichen und philo sophischen Verstehensgetan war. Ich las neben Vorlesungen über Sinnes-, Gedächtnis-, Ermüdungspsychologie vor allem Vorlesungen über Sozial und Völkerpsychologie, Religionspsychologie, Moralpsychologie, Charak terologie. Unter diesen Vorlesungen war eine die mir wichtigste. Unter dem Titel "Psychologip, der Weltanschauungen" habe ich sie 1919 veröffentlicht. Die Arbeit an ihr wurde, mir unbewußt, mein Weg zur Philosophie. Mehrere Motive haben sich ineinander geschlungen. Es sind folgende: Schon in der Zeit meiner klinischen Jahre machte ich eine mich er regende Erfahrung. Im Kampf der wissenschaftlichen Anschauungen und der lebendigen Persönlichkeiten spielte nicht einfach das empirisch und logisch für jedermann gleichermaßen Richtige eine Rolle. Dies zwingend Gültige herauszuarbeiten zeigte sich vielmehr als die schwierige Aufgabe. In der Diskussion war fast immer auch etwas anderes fühlbar. Nicht etwa unser Geltungsbedürfnis, unser Rechthabenwollen war dabei interessant, sondern irgendein Etwas, das nicht faßbar war, obgleich es Schranken zwischen den Menschen aufzurichten schien. Auch bei den öffentlich sprechenden Forscherpersönlichkeiten unter den Psychiatern nahm ich dies wahr, was zwischen ihnen Verwandtschaft oder Feindschaft bewirkte unab hängig von wissenschaftlicher Richtigkeit. So waren damals für mich FREuD und HOClIE, denen ich persönlich nicht begegnet bin, beide einander völlig heterogen, Repräsentanten von Mächten, die zu sehen ich mir nicht ver schloß, die mich zum Studium ihrer Schriften zwangen. Ihnen beiden leistete ich innerlich Widerstand mit Impulsen, die über die Inhalte des von ihnen Erörterten hinausgingen in eine andere Richtung. Sie begleiteten x VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE. meine Jugend gleichsam als meine Feinde, die im Medium der Wissenschaft etwas durchsetzen wollten, was gar nicht Wissenschaft ist, und dies in einer philosophischen Gesinnung, die ich als eine verwerfliche spürte, gegen die ein Denken aus ganz anderem Ursprung zu klären und zu behaupten war. Was das sei, wollte ich nun nicht mehr an ihrem Beispiel, sondern angesichts der Geschichte und der Menschen überhaupt anschaulich vor Augen ge wmnen. Als ich mir die Frage nach den ursprünglichen Weltanschauungen stellte, zeigte sich meinem Suchen die großartige überlieferung der Denker, die solche Psychologie, nicht oder nur zum Teil unter dem Namen Psycho logie, entworfen hatten. HEGELS Phänomenologie des Geistes, dann vor allem KIERKEGAARD,den ich seit 1914 studierte, in zweiter Linie NIETZSCHE, waren wie Offenbarungen. Sie vermochten eine Hellsicht bis in jeden Winkel der menschlichen Seele und bis in ihre Ursprünge mitteilbar zu machen. Ich stellte in meinem Buch KIERKEGAARD und NIETZSCHE neben einander trotz ihrer scheinbaren Fremdheit (Christ und Atheist). Heute ist ihre Zusammengehörigkeit so selbstverständlich geworden, daß der Name des einen an den des anderen denken läßt. Diese Psychologie der Weltanschauungen wolle keine Philosophie bringen, so schrieb ich. Aber in der Tat dachte ich an nichts als an das eigentliche Menschsein. Diese Tendenz verbarg sich vor sich selber zu gunsten eines Anschauens der bloßen Wirklichkeiten. Obgleich ich in meiner vorher entstandenen Psychopathologie die methodische Bewußtheit als unerläßlich begriffen und in diesem Felde gefördert hatte, und obgleich ich in der Psychologie der Weltanschauungen mit methodologischen über legungen begann, blieb ich in bezug auf das Wesentliche damals in einer fruchtbaren Unklarheit. Ich formulierte, Psychologie verstehe betrachtend alle Möglichkeiten der Weltanschauungen, Philosophie aber gebe eine, nämlich die wahre Weltanschauung. Eigentliche Philosophie sei prophetische Philosophie. Damit machte ich eine zu einfache, in dieser Form unhaltbare Gegenüber stellung. Weil ich sie aber gemacht hatte, wurde mir angesichts dessen, was ich in diesem Buch getan hatte, zweierlei klar: erstens die Aufgabe einer Philosophie, die nicht prophetische, verkündende Philosophie ist, zweitens die Aufgabe der Abgrenzung der empirisch forschenden Psy chologie. Das Erste: Was ich damals mit der Unterscheidung der Psychologie von prophetischer Philosophie wollte, ist der Sinn meines Philosophierens bis heute geblieben. Zwar ist dieses Philosophieren keineswegs nur be- VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE. XI trachtend, WIe es schon diese Psychologie der Weltanschauungen in der Tat nicht war. Sie will in allem Darstellen im Grunde vergegenwärtigen, beschwören, appellieren, also sich an die Freiheit wenden. Aber sie will damit die Freiheit des Anderen nicht antasten, der im Philosophieren viel mehr sich selbst finden muß, ohne daß die Philosophie als ein Werk und als ein Ganzes von Gedanken durch ein mitgeteiltes Wissen ihm das ab nehmen könnte. In dem Sinne, wie ich damals distanzierend von propheti scher Philosophie sprach, sind weder PLATO noch KANT Schöpfer propheti scher Philosophie. Diese wäre Religionsersatz. Was aber die eigentliche Philosophie sei, und was sie kann, das wurde mir später und bis heute zum Problem und vor allem zur Aufgabe. Mit meiner Weltanschauungspsycho logie stand ich naiv schon in ihrer Verwirklichung, ohne klar zu wissen, was ich tat. Das zweite war, daß der Name Psychologie für diese Versuche nicht bleiben konnte. Mein Weg von der Psychologie über die verstehende Psy chologie zur Existenzphilosophie machte die alte Aufgabe in neuer Gestalt zu einer dringenden: die Abgrenzung einer wissenschaftlichen Psychologie und des methodischen Wissens um deren Möglichkeiten und Grenzen. Diese Abgrenzung habe ich in der Folge weiter auf den Linien meiner Psychopathologie zu vollziehen versucht. Es handelt sich um die Ab grenzung einer wissenschaftlichen Psychologie, die als einzigen Weg reale Forschungen anerkennt, von einer fälschlichen Psychologie, die selber Philosophie oder vielmehr Philosophieersatz ist. Die verstehende Psycho logie hat in dieser wissenschaftlichen Situation einen zweideutigen Cha rakter. Sie ist wie ein großer, inhaltlich reich erfüllter Raum zwischen Psychologie und Philosophie. Beide treten in ihn ein. Infolgedessen ist die Frage nach der wissenschaftlichen Psychologie heute wohl scharf zu stellen, aber die allgemeingültige, durchgeführte und von allen Forschern anerkannte Antwort ist noch nicht gegeben. Die in meiner Weltanschauungspsychologie ausgesprochene Absicht des unverbindlichen Betrachtens konnte die Auffassung dieses Buches in falsche Richtung lenken. Man hat darin eine Galerie von Weltanschauungen gesehen, die zur Wahl aufgestellt sei. Sie ist aber in der Tat die Vergewisse rung der Möglichkeiten als eigel~cr und die Erhellung des weiten Raums, in dem die existentiellen Entscheidungen fallen, die kein Gedanke, kein System, kein Wissen vorwegnimmt. Diese faktische Verbindlichkeit wird im Mitdenken dem Leser fühlbar. Zwar wird ihm nicht eindeutig gesagt, was wahr ist, aber in ihm erregt, was ihn zu Entscheidungen veranlassen kann. In allem, was in dem Buch XII VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE. anschaulich denkend ausgebreitet wird, liegt daher eine Spannung. Denn in dem Dargestellten ist überall Wahrheit und überall auch Irrtum gesehen: nicht Weltanschauungen zur Wahl, sondern in ihnen die Richtung auf das nirgends greifbare Ganze des Wahrseins im Menschsein ist das Thema. Mein Interesse war keineswegs das bloß psychologische an der Realität von Weltanschauungen, sondern das philosophische an dem Wahrheits charakter dieser Weltanschauungen. Ich entwarf einen Organismus der Möglichkeiten, in allem mich selber wiedererkennend und abstoßend. So stehe ich zu diesem Buche heute unverändert mit Bejahung zu seinem Gehalt und seiner Tendenz. Meine Lehrberechtigung, die mir damals ausdrücklich für Psychologie unter Ausschluß der Philosophie erteilt war, empfand ich nicht als Zwang, sondern als Entlastung von dem mir ungeheuer scheinenden Anspruch, Philosophie zu lehren. Doch mein philosophischer Impuls drängte im Kleide der Psychologie zum Ganzen. Ich wollte keine prophetische Philo sophie und hatte noch keinen Begriff jener anderen, heimlich schon ge suchten Philosophie. Diese hatte mich weder in pseudowissenschaftlichen Nichtigkeiten einer vermeintlichen Fachphilosophie, noch in den anspruchs vollen Verkündigungen einer vermeintlich endgültig erkannten Wahrheit ansprechen können. Der Zwang, Psychologie zu lehren, löste sachliche Notwendigkeiten aus, die ohne jenen Zwang mir kaum klar geworden wären. Da ich unbewußt schon philosophierte, konnte ich dieses Philo sophieren, das man nicht planen kann, sondern aus dem man seine Pläne findet, später besser begreifen. In der Folge meinte ich, meine Motive wiederzuerkennen bei den aus der Geschichte zu uns sprechenden Philo sophen. Vergangene Philosophie zu verstehen, setzt gegenwärtiges Philo sophieren voraus. Dieses aber kommt zu sich selber und steigert sich im Verstehen der Großen. Deren Größe wird um so erstaunlicher, unerreich barer, je tiefer man in sie eindringt. Aber jede Gegenwart hat sich selbst zu verwirklichen. Die Aufgabe, gegenwärtig zu tun, was unter neuen Be dingungen mit anderen Voraussetzungen in neuen Kleidern vom Philo sophieren jederzeit gefordert wird, hatte ich tatsächlich schon ergriffen. Unvergeßlich ist mir die Zeit, in der unter dem Druck und in der Not des ersten Krieges dieses Denken erwuchs. Die Arbeit geschah wesentlich in der Stille des Privaten. Aus dem inneren Schwung jener Jahre blieb der Anspruch für das weitere Leben. Basel, April 1954. Kar! Jaspers.