Claudia Wiener Proles vaesana Philippi totius malleus orbis Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Michael Erler, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 140 Κ · G · Saur München · Leipzig Proles vaesana Philipp! totius malleus orbis Die Alexandreis des Walter von Châtillon und ihre Neudeutung von Lucans Pharsalia im Sinne des typologischen Geschichtsverständnisses Von Claudia Wiener Κ · G • Saur München · Leipzig 2001 Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Wiener, Claudia: Proles vaesana Philippi totius malleus orbis = Die Alexandreis des Walter von Châtillon und ihre Neudeutung von Lucans Pharsalia im Sinne des typologischen Geschichtsverständnisses / von Claudia Wiener. — München ; Leipzig : Saur, 2001 (Beiträge zur Altertumskunde ; Bd. 140) ISBN 3-598-77689-6 © 2001 by Κ. G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza Den Anstoß für diese Studie gab im Sommersemester 1998 eine „Mittel- lateinische Lektüre" mit einer kleinen Gruppe interessierter Lateinstudenten des Würzburger Instituts für Klassische Philologie, von denen ich nament- lich Susanne Müller und Mario Guerra nennen möchte. Prof. Dr. Ludwig Braun und Dr. Elisabeth Klecker sei für eingehende Lektüre des Textes schon in frühem Stadium gedankt. Ihre ermutigende Reaktion und sachkundige Kritik, dazu ein Brief der Redaktion der Wiener Studien von Prof. Dr. Herbert Bannert mit weiterführenden Hinweisen ließen die überarbeitete Fassung stärker anwachsen als geplant, so daß ich Prof. Dr. Clemens Zintzen und Prof. Dr. Michael Erler sehr dankbar bin, die sich für die Aufnahme in die Reihe der „Beiträge zur Altertumskunde" ausgespro- chen haben. Wichtige Resonanz von altgermanistischer Seite habe ich durch Prof. Dr. Dietrich Huschenbett und Dr. Joachim Hamm erfahren; ihre vielfältigen Hin- weise zu Vorläufern, Parallelen und offenkundiger Rezeption von Walters Alexanderbild und Geschichtsdeutung in der deutschsprachigen Dichtung hätten vielleicht stärkere Berücksichtigung verdient, als es in diesem Rah- men noch möglich war. Für die Herstellung der Druckvorlage danke ich Oliver Wiener M.A. sehr herzlich. Würzburg, im März 2000 INHALT Fragestellungen und Interpretationsansätze der Alexandreis - Forschung 9 I. Sensus historiens Walters Wahl seiner Quellen und sein Umgang mit Curtius Rufus 19 II. Sensus moralis Die Aristoteles-Rede als Fürstenspiegel und Erfolgsrezept ohne absolute Erfolgsgarantie Zu den Thesen von Dennis M. Kratz, Maura Κ. Lafferty und Henriette Harich 33 III. Mundi fatale flagellum Parallelen zu Lucans Pharsalia und die Korrektur des dortigen Geschichtsbilds 45 IV. Typus sub lege Alexanders Eroberungszug in der alttestamentarischen Prophetie und die Fortführung typologischer Bezüge bis ins Zeitalter der Kreuzzüge 58 V Traumvision, Ekphrasis und Allegorie Zu den Interpretationen von Maura Κ. Lafferty und Christine Ratkowitsch 69 VI. Antitypus sub gratia Gibt es einen neuen Alexander am französischen Königshof? 91 Literaturverzeichnis 110 Stellenindex 117 Namenindex 123 Et per hujusmodi visiones sanctorum, ut ait Josephus, deprehenditur error Epicureorum, qui hune mundum sine rectore et sine Dei Providentia casu ferri confir- mant, quia si mundus sine praesule esset, olim deperisset, sicut navis desolata rectore, nec secundum prophetias omnia provenirent. Petrus Comestor, Historia scholastica Dn VII Fragestellungen und Interpretationsansätze der Alexandreis-Forschung Das im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts entstandene Alexander-Epos des Walter von Châtillon hat von seiten seiner Interpreten sehr unterschiedliche Bewertungen erfahren. Während die Orientierung am antiken Epos Mediä- visten und Neuphilologen eher irritiert und etwa für Fritz Peter KNAPP „das Kuriose und Monströse eines Werkes" zutage treten läßt, „das versucht, in einer völlig veränderten Welt in einem tausend oder mehr Jahre alten Ge- wand längst bekannte, ,ehrwürdige' Inhalte aufs neue zu gestalten" fühlen sich Altphilologen auf heimischem Gelände, so daß Otto ZwiERLEIN für „die liebevolle Pflege des Philologen" plädieren kann, die die Alexandreis „als ein solches Zeugnis lebendiger Wirkkraft antiker Literatur" verdiene, „die einer neuen Epoche die Ausdrucksformen für die Darstellung der eigenen Welt- sicht zur Verfügung stellt"^. Nicht nur bei der Beurteilung der formalen Seite dieses Werks, auch bei der Deutung des Protagonisten und der Bewertung seines Verhaltens stehen sich konträre Aussagen gegenüber. Die Ambiguität der Alexander-Gestalt fällt schon in der Antike auf. Die Bewunderung für die Leistungen des jugendlichen Eroberers, seinen Sieg über die Perser, nimmt immer dann zu, wenn die Parther zur Bedrohung wer- den; in die Herrscherpanegyrik findet Alexander schnell Eingang. Umge- kehrt beargwöhnt man gerade im römischen Bereich seine Tendenzen zum östlichen Autokraten, deutet seinen Zug nach Indien, der schon zeitgenös- sisch mit Dionysos assoziiert wurde, negativ aus, indem man die Heimatferne und den Hang zu verweichlichendem Lebensstil und tyrannischem Herr- 1 KNAPP 223. 2 ZWIERLEIN (1987) 87. 10 Fragestellungen und Interpretationsansätze schaftsstil gegen die virtus des alten Römertums ausspielt-'. In der Ethik der kaiserzeitlichen Stoa werden Alexanders Charakterschwächen diagnostiziert und machen ihn zum exemplum des Herrschers, „der alle, nur nicht sich selbst beherrscht" (Sen. epist. 113, 29—30)4. i ¿ mittelalterlichen Litera- n er tur erfährt Alexanders Gestalt dagegen eine überwiegend positive Aufwer- tung, indem der Makedonen-König zum Vorbild für einen christlichen Herr- scher avanciert: Mit wohl unübertreffbarer Konsequenz hat in der mittel- hochdeutschen Literatur Rudolf von Ems seinen Alexander zum Idealbild des Herrschers mit nie versagender saelde geformt und in diesem Punkt den Roman zum staufischen Fürstenspiegel gestaltet^. Weniger eindimensional wirkt das Bild, das Walter von Châtillon von seinem Alexander entwirft. Denn sein Ende scheint dieser Alexander selbst zu pro- vozieren, indem er in seiner Maßlosigkeit Natura beleidigt und sie, die um die Entdeckung ihrer arcana fürchten muß, in Anbetracht seiner schranken- losen Welteroberungspläne zu Gegenmaßnahmen zwingt. Betrachtet man das Epos von diesem Ende aus, kann man zu der Annahme kommen, Walter habe von Beginn an Hinweise auf die wachsende Hybris seines Protago- nisten eingeflochten. Beinahe alle jüngeren Interpretationen gehen von einer impliziten Kritik des Epos-Autors an seinem Protagonisten aus, die sich in herausgehobenen Stellen wie den Ekphrasen oder der Aristoteles-Rede manifestiere. In diesem Sinn interpretiert Christine RATKOWITSCH einge- hend die Ekphrasen des Epos und findet in ihrer detaillierten Aufschlüsse- lung der Beschreibung des Darius-Schilds und des Grabmals der Stateira durch die biblischen Exempel direkte und indirekte Warnungen an Alexan- der ausgesprochen. Sie gewichtet dabei diese Beobachtungen und Ausdeu- 3 Zum Uberblick zu den verschiedenen Tendenzen vgl. WEBER, HEUSS, WIRTH. 4 Während STROUX in harschem Urteil und emotionsgeladen die peripatetische Tradition von der kaiserzeitlichen Stoa absetzt, deren negatives Alexanderbild nur dem rhetorischen Anekdotenschatzkästchen entnommen und „Dohlengeschrei der späteren rhetorischen und pseudophilosophischen Gehässigkeit" (240) sei, analysiert FEARS das Alexanderbild Ciceros und seine Eigenständigkeit bzw. die mögliche Beeinflussung durch Panaitios, dann die Gründe für Senecas und Lucans negatives Alexanderbild. 5 Aus BRACKERTS Analyse (bes. 113-147) wird zudem sichtbar, daß sich in der teleolo- gischen Geschichtskonzeption Rudolf von Ems und Walter von Châtillon sehr nahe- kommen. Während Germanistik und Romanistik bei den volkssprachlichen Alexan- der-Epen Geschichtsdeutung und Adressatenbezug verstärkt für die Interpretation fruchtbar gemacht haben (vgl. EHLERT), fehlt dies für die Alexandreis noch weitge- hend.