Marcus Deufert Prolegomena zur Editio Teubneriana des Lukrez Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Marcus Deufert, Heinz-Günther Nesselrath und Peter Scholz Band 124 Marcus Deufert Prolegomena zur Editio Teubneriana des Lukrez ISBN 978-3-11-054998-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055205-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055034-4 ISSN 1862-1112 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com Vorwort und Danksagungen From an edition so conceived I have come to expect five things: a survey of the available witnesses, reasons for using some rather than others, accurate collation, guidance on the dif- ference between the best text that can be extracted from the witnesses and what the author seems likely to have written, and substantial progress in at least one of these four. M. D. Reeve And what if one misses a jewel lurking among the later manuscripts? Well, definitiveness is an illusion, and why be so mean as to deny the next scholar who comes along some of the excitement one has enjoyed oneself? L. D. Reynolds His ibi me rebus quaedam diuina uoluptas percipit atque horror: Im Spätsommer des Jahres 1991 nahm ich an einer von Reinhard Düchting geleiteten Exkursion Würzburger und Heidelberger Mittel- und Neulatein-Studenten nach Leiden teil, wo wir auch die Universitätsbibliothek besichtigten und uns der damalige, inzwi- schen verstorbene Direktor der Handschriftensammlung, Pieter Obbema, Schätze aus seiner Sammlung zeigte. Im Anschluss an seine Führung fragte ich ihn, ob ich die beiden Lukrezhandschriften einsehen dürfe. Ich wollte das Proömium des dritten Buches kollationieren, über das ich im kommenden Wintersemester ein Referat in einem Bonner Hauptseminar bei Otto Zwierlein halten sollte. Der Wunsch wurde mir erfüllt. Die Kollation gegen Baileys OCT, den einzigen Lukrez- text, den ich damals besaß, habe ich noch heute. Lust und Schauder waren aber noch größer, als ich fünfundzwanzig Jahre später im Frühjahr 2016 den Codex Quadratus und den (in der Zwischenzeit neu in feste Eichenholzdeckel gebun- denen) Codex Oblongus – die kostbaren Hauptzeugen des heidnisch-römischen Weltgedichts und zugleich stolze Dokumente der geistigen Offenheit des christ- lichen Europas – ein zweites Mal in Händen hielt, um die Kollationen für meine editio Teubneriana des Lukrez abzuschließen und letzte offene Fragen, insbeson- dere bei der Unterscheidung einzelner Korrekturhände, so gut es ging, zu klären. Die Praefatio dieser kurz vor dem Abschluss stehenden Neuausgabe soll durch die hier vorgelegten Prolegomena entlastet werden. Sie führen insbeson- dere die handschriftliche Grundlage vor Augen, auf der die Edition basiert, und begründen die Gestaltung des textkritischen Apparats. Dieser beansprucht, das Attribut „kritisch“ wirklich zu verdienen. Zu seiner Konstitution ist die gesamte handschriftliche Tradition in Betracht gezogen worden, aber nur ein Bruchteil des überlieferten Variantenmaterials ist in ihn eingeflossen. Es war mein in dieser Untersuchung begründetes Ziel, die karolingische Überlieferung auf die nicht als Sonderfehler der erhaltenen Handschriften eliminierbaren Varianten zu reduzie- https://doi.org/10.1515/9783110552058-202 VI Vorwort und Danksagungen ren und aus der (aus dem Oblongus abgeleiteten) humanistischen Überlieferung lediglich die richtigen oder zumindest brauchbaren Konjekturen herauszuziehen und ihren ursprünglichen Quellen zuzuweisen. Der karolingischen und der humanistischen Lukrezüberlieferung sind die beiden Hauptkapitel dieses Buches gewidmet. Ihnen folgen zwei kürzere über die Paratexte der Lukrezüberlieferung und die Gestaltung der Orthographie meines Lukreztextes. In Kapitel 3 begründe ich meine Entscheidung, die Paratexte in einer vom eigentlichen Gedichtstext abgesonderten Edition darzubieten und ihren Text zwar konservativ zu behandeln, aber meine Zweifel an der Richtig- keit der Überlieferung in einem umfangreichen kritischen Apparat festzuhalten. In Kapitel 4 spreche ich mich dafür aus, das in den karolingischen Handschrif- ten dokumentierte Nebeneinander älterer und neuerer Schreibungen als typisch für die Epoche des Lukrez zu betrachten und daher beizubehalten; gleichzeitig dokumentiere ich, welche überlieferten Schreibungen ich als spätantik oder mit- telalterlich erachte und dementsprechend zugunsten einer spätrepublikanischen bzw. klassischen Orthographie verwerfe. Der Untersuchung vorangestellt habe ich einen „Conspectus siglorum“, also ein Verzeichnis der Handschriftensiglen, die im Laufe dieser Untersuchung eingeführt und begründet werden. Er dient insbesondere dazu, dort für eine rasche Orientierung zu sorgen, wo in Zusam- menstellungen von Lesarten aus meinem Apparat oder meinen Kollationen eine bislang unerwähnte Sigle auftaucht. Der Wert der hier vorgelegten Untersuchungen steht und fällt mit der Zuver- lässigkeit der Handschriftenkollationen. Zu ihnen daher vorab ein kurzes Wort: Ich habe die karolingischen Textzeugen O Q und GVU vollständig kollationiert: O Q VU zunächst gegen Mikrofilme, die mir die Universitätsbibliothek Leiden und die Österreichische Nationalbibliothek in Wien in dankenswerter Weise zur Ver- fügung gestellt haben; G gegen die im Internet bereits seit langer Zeit frei zugäng- lichen Digital-Farbfotos der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Schwer zu lesende Stellen in VU habe ich in Wien während eines dreitägigen Aufenthaltes im November 2012 im Original geprüft, in OQ zunächst immer wieder anhand der beiden Schwarz-Weiß-Facsimilia von Chatelain (1908 bzw. 1913), außerdem bei einem vierzehntägigen Aufenthalt in Leiden im März 2016 anhand digitaler Farb- fotografien und der Originalhandschriften selbst, in die mir der Leiter der Hand- schriftensammlung, Dr. André Bouman, großzügig Einsicht gewährte, wofür ich ihm herzlich danke. Dagegen habe ich die italienischen Humanistenhandschriften, die (wie ich zeigen werde) aus dem Codex Oblongus abgeleitet sind, nicht vollständig kolla- tioniert, sondern allein nach Konjekturen abgesucht. Ich habe sie also nur an solchen Stellen eingesehen, wo der Text der karolingischen Handschriften ver- dorben oder fragwürdig ist. Alle Angaben, die ich in diesen Untersuchungen über Vorwort und Danksagungen VII sie mache, beruhen auf Autopsie, außer wo ich meine Abhängigkeit von anderen Kollationen (namentlich bei einem Teil der handschriftlichen Quellen für die Konjekturen des Marullus) ausdrücklich hervorhebe. Kollationiert habe ich in der Regel Schwarz-Weiß-Mikrofilme, die mir die einzelnen Bibliotheken in groß- zügiger Weise zur Verfügung gestellt haben. Bei den Handschriften der Biblioteca Medicea Laurenziana habe ich die im Internet zugänglichen digitalen Farbfotos benutzt, ebenso bei Madrid, Bibl. Nac. 2885. Im Original gesehen habe ich das in der Biblioteca Laurenziana befindliche Exemplar der editio princeps (die in diesem Exemplar fehlenden Seiten mit den Versen 6, 914–1056 hat John Briscoe in dem Exemplar der John Rylands Library in Manchester für mich nach Konjek- turen abgesucht, wofür ich ihm herzlich danke) und jene beiden Exemplare der editio Veneta von 1495 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, in die Petrus Victorius die Konjekturen von Pontanus und Marullus eingetragen hat. Ein weiteres Exemplar dieser Ausgabe mit von Hand eingetragenen Konjekturen des Pontanus befindet sich in der British Library in London, die mir dankenswerter- weise eine Schwarz-Weiß-Fotokopie dieses Druckes zur Verfügung gestellt hat. Bei meiner Arbeit an den Prolegomena und der Edition habe ich sehr von der Hilfe zahlreicher Freunde und Kollegen profitiert, insbesondere von Kennern der lateinischen Paläographie und der Textgeschichte der lateinischen Literatur, mit denen ich über schwierige handschriftliche Lesungen und das Scheiden und Datieren von Korrekturhänden diskutiert habe. Für Hilfe mit den Handschriften- fragmenten in Wien danke ich Lukas Dorfbauer. Bei der Kollation der beiden Vos- siani in Leiden unterstützten mich vor Ort Mariken Teeuwen, Evina Steinová und, woran ich mich besonders dankbar und wehmütig erinnere, J. P. Gumbert, der – damals schon schwer krank – wenige Monate später, am 18. August 2016, gestor- ben ist. In Leipzig habe ich auf der Grundlage der Facsimilia schwierige Stellen in O und Q mehrfach mit Christoph Mackert, Almuth Märker, Silvia Ottaviano und Katrin Sturm diskutiert. Ein grundsätzlich wichtiges und klärendes Gespräch über die Unterscheidung verschiedener Korrekturschichten habe ich in Pisa mit Giulia Ammannati geführt; Vincenzo Fera und Daniela Gionta halfen mir bei der Identifizierung der Anmerkungen von Poliziano im Laurentianus 35. 29. Stephen Heyworth hat mir einen Abschnitt aus seiner ungedruckten Cambridger Disser- tation zugeschickt, in dem er seine Vermutung begründet, dass der Dichter des Hermaphroditus, Antonio Beccadelli, verantwortlich ist für den einflussreichen α-Text der italienischen Lukreztradition. Für Nachfragen unterschiedlichster Art hatte David Ganz stets ein offenes Ohr und gewährte mir in bekannter Großzügig- keit Rat und Hilfe. Ihnen allen gebührt mein großer Dank. Danken möchte ich des Weiteren der Deutschen Forschungsgemeinschaft und ihren Gutachtern für die Gewährung eines Forschungsfreisemesters im Win- tersemester 2015/2016, in dem ich diese Prolegomena zum Abschluss bringen VIII Vorwort und Danksagungen konnte. In Leipzig haben mich bei der Kollation der Humanistenhandschriften und der Korrektur dieses Buches meine studentischen Mitarbeiter nach Kräften unterstützt. An erster Stelle nenne ich Stephan Jödicke, des Weiteren Gudrun Lehmann, Eva Wöckener-Gade, Burkhard Krieger, Sylvia Kurowsky, Michael Mazurkiewicz, Kevin Protze, Erik Pulz und Vincent Graf. Ihnen allen danke ich sehr. Den größten Dank schulde ich schließlich jenen Freunden und Kollegen, die – allesamt selbst Editoren antiker Texte und mit den hier verhandelten Pro- blemen aus der eigenen Arbeit unmittelbar vertraut – das gesamte Manuskript kritisch durchgelesen und mit zahlreichen wichtigen Hinweisen versehen haben: Lukas Dorfbauer, Heinz-Günther Nesselrath, Thomas Riesenweber und Michael D. Reeve. Der zuletzt Genannte hat meine Arbeiten zu Lukrez von Anbeginn mit großem kritischen Scharfsinn und schier grenzenloser Hilfsbereitschaft beglei- tet. Die in diesem Buch im Vordergrund stehenden überlieferungsgeschichtli- chen Untersuchungen verdanken ihm und seinen Schriften unbeschreiblich viel. Voller Dankbarkeit widme ich ihm diesen Band. Ebenso wie diese Prolegomena wird auch ein kritischer Kommentar, der die Textkonstitution in den schwierigen Stellen begründet, der Edition vorausgehen. Auf diesen Band, der in Kürze erscheinen wird, ist in den Prolegomena bereits mehrfach verwiesen. Leipzig, im Frühjahr 2017, sechshundert Jahre nach der Wiederentdeckung des Lukrez durch Poggio Marcus Deufert Inhaltsverzeichnis Vorwort und Danksagungen V Conspectus siglorum XV I Die karolingische Überlieferung und ihre Darbietung in der Edition 1 1 Die Zeugen und ihr Verwandtschaftsverhältnis 1 2 Die Darbietung der karolingischen Tradition in den Ausgaben seit Lachmann 9 3 Die Darbietung der karolingischen Tradition in der neuen Teubneriana 17 3.1 Eliminatio lectionum singularium und die Verwendung der Sigla Γ und Ω 18 3.2 Die Korrekturen im Codex Oblongus und ihre Darbietung im kritischen Apparat 21 3.2.1 Übereinstimmung zwischen den Korrektoren des Oblongus und Γ (bzw. Q) 27 3.2.1.1 Übereinstimmung im Richtigen gegen einen Fehler von O1 27 3.2.1.2 Übereinstimmung im Falschen gegen eine richtige Lesart von O1 31 3.2.1.3 Übereinstimmung im Falschen gegen eine andere falsche Lesart von O1 34 3.2.2 Übereinstimmung zwischen O1 und Γ (bzw. Q) gegen die korrigierte Lesart des Oblongus 38 3.2.2.1 Übereinstimmung im Richtigen 38 3.2.2.2 Übereinstimmung im Falschen/Zweifelhaften 39 3.2.3 Verschiedene Lesarten in O1, dem Korrektor des Oblongus und Γ (bzw. Q) 41 3.2.4 Die Behandlung nicht mehr entzifferbarer Lesarten von O1 im kritischen Apparat 42 3.2.4.1 Der Korrektor des Oblongus und Γ (bzw. Q) stimmen im Richtigen überein 42 3.2.4.2 Der Korrektor des Oblongus und Γ (bzw. Q) stimmen nicht überein 42 3.3 Die Korrekturen der Γ-Handschriften und ihre Darbietung in der neuen Teubneriana 43 3.3.1 Die Korrekturen in GVU 44 X Inhaltsverzeichnis 3.3.2 Die Korrekturen im Codex Quadratus und ihre Unterscheidung in der Lukrezphilologie seit Lachmann und in der neuen Teubneriana 45 3.3.2.1 Die Korrekturen von Qa und ihre Behandlung im kritischen Apparat 53 3.3.2.2 Die Korrekturen von Q2 und ihre Behandlung im kritischen Apparat 59 3.3.2.3 Der erste Benutzer des Quadratus in seinem korrigierten Zustand: Hieronymus Avancius? 63 II Die humanistische Tradition und ihre Darbietung in der Edition 66 1 Der Poggianus, seine Zeugen und seine Stellung im Stemma der Lukrezüberlieferung 66 1.1 Die Zeugnisse über den Poggianus 66 1.2 Die Rekonstruktion des Poggianus aus der italienischen Lukrezüberlieferung 68 1.3 Der Poggianus: ein Codex descriptus des Oblongus 74 1.3.1 Der Beweis von Konrad Müller 74 1.3.2 Ein weiterer Beweis 77 1.4 Eine verlorene Zwischenstufe zwischen dem Oblongus und dem Poggianus? 79 2 Editorische Konsequenzen: Abtragen der humanistischen Korrekturschichten aus der italienischen Überlieferung 90 3 Die älteste Korrekturschicht: Die Korrekturen in ξ 93 3.1 Alter und Charakter dieser Korrekturschicht 93 3.2 Die Rekonstruktion der ξ-Konjekturen und ihre Präsentation im kritischen Apparat 101 3.2.1 beim Konsens aller ξ-Handschriften 101 3.2.1.1 Fazit (1) für den Charakter von ξ: Die attraktiven Lesarten in ξ beruhen auf Konjektur 104 3.2.1.2 Fazit (2) für den Charakter von ξ: Die Handschrift ξ besaß Varianten 105 3.2.2 bei einem Konsens mehrerer ξ-Handschriften 106 3.2.3 beim Konsens von allen ξ-Handschriften bis auf eine 107 3.2.3.1 Fazit (3) für den Charakter von ξ: Die Zahl der in ξ vorgenommenen Konjekturen wächst mit der Zeit; ξ ist eine unstabile Quelle. Die älteste ξ-Handschrift ist μ 111 3.2.4 bei einem Konsens von zwei ξ-Handschriften bis 3, 646 und von drei ξ-Handschriften ab 3, 647 112