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Proklos, "Tria opuscula" Textkritisch kommentierte Retroversion der Übersetzung Wilhelms von Moerbeke PDF

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Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ................................................... 1 1.1 Anliegen und Anlage dieser Arbeit .......................... 3 1.2 VorstellungundBewertungderfürdieRekonstruktiondesProklos- TextszurVerfügungstehendenlateinischenundgriechischenQuellen 11 1.2.1 Wilhelms lateinische Übersetzung .................. 11 1.2.1.1 Die ‚Worttreue‘ der Übersetzung ................... 11 1.2.1.2 ‚Grenzen der Worttreue des lateinischen Textes‘ ...... 14 1.2.1.3 ZurÜberwindungder‚GrenzenderWorttreuedeslatei- nischen Textes‘ .................................. 26 1.2.1.4 ‚Editorische‘ Fragen .............................. 27 1.2.1.5 ZumVerhältniszwischenderRekonstruktiondesProklos- Textes und der Konstitution des Textes der lateinischen Übersetzung ..................................... 29 1.2.2 Die griechischen Quellen ......................... 30 1.2.2.1 Die indirekte griechische Tradition der Tria opuscula 31 1.2.2.1.1 DiegriechischenMarginalienzuWilhelmsÜbersetzung der Tria opuscula im Vat. lat. 4568 (=V) ............. 31 1.2.2.1.1.1 Der Ursprung der Marginalien ..................... 31 1.2.2.1.1.2 Besonderheiten der Marginalien im Vergleich mit den- jenigendesOttobonianuslat.1850einerseits,denjenigen des Ambrosianus A 167 sup. andererseits ............ 35 1.2.2.1.2 AusdenTriaopusculageschöpftegriechischeParaphrasen, Exzerpte und Zitate bei spätantiken und byzantinischen Autoren ........................................ 37 1.2.2.1.2.1 Die Paraphrasen des Isaak Sebastokrator ............ 37 1.2.2.1.2.2 Paraphrasen, Zitate und Exzerpte in anderen Werken 43 1.2.2.1.2.3 ZurIdentifikationdergenanntenParaphrasen,Exzerpte und Zitate ...................................... 44 1.2.2.2 Texte,dieProklosselbstindenTriaopusculazitiertoder paraphrasiert .................................... 45 1.3 Zur fragmentarischen Retroversion in Boeses Edition .......... 46 1.4 Zur Konstitution des Texts von Wilhelms Übersetzung ......... 48 Brought to you by | Florida Atlantic University Authenticated Download Date | 7/10/15 10:09 AM viii Inhaltsverzeichnis 1.5 Anhang: Auf Grundlage von Boeses Edition erstelltes, mit Korrek- turen versehenes Verzeichnis der Fehler, die von jeweils zwei oder jeweils drei der primären Handschriften A, O, S, V geteilt werden 59 2. Kommentar .................................................. 65 2.1 Verzeichnis der im Kommentar verwendeten Abkürzungen ..... 67 2.1.1 Quellen für die Rekonstruktion des Originaltexts der Tria opuscula ............................................ 67 2.1.2 Forschungsliteratur ................................... 68 2.1.3 Personennamen ...................................... 75 2.2 Hinweise zu Zweck und Gestaltung des Kommentars .......... 76 2.3 De decem dubitationibus circa providentiam .................. 83 2.3.1 Übersicht über die relevanten Stellen der indirekten griechi- schen Tradition ...................................... 83 2.3.2 Stellenkommentar .................................... 83 2.3.3 Appendix: Griechische Retroversion .................... 376 2.4 De providentia et fato et eo quod in nobis ad Theodorum mecha- nicum ................................................... 416 2.4.1 Übersicht über die relevanten Stellen der indirekten griechi- schen Tradition ...................................... 416 2.4.2 Stellenkommentar .................................... 416 2.4.3 Appendix: Griechische Retroversion .................... 660 2.5 De malorum subsistentia ................................... 689 2.5.1 Übersicht über die relevanten Stellen der indirekten griechi- schen Tradition ...................................... 689 2.5.2 Stellenkommentar .................................... 690 2.5.3 Appendix: Griechische Retroversion .................... 936 3. Verzeichnis der für den Kommentar herangezogenen Textausgaben .. 979 Brought to you by | Florida Atlantic University Authenticated Download Date | 7/10/15 10:09 AM 1.1 Anliegen und Anlage dieser Arbeit Wilhelm von Moerbeke1 arbeitete Anfang 1280 eine lateinische Übersetzung von drei Abhandlungen des Neuplatonikers Proklos aus,2 die, ähnlich wie der SchlußteildessiebtenBuchsvonProklos’Parmenides-Kommentar,nichthand- schriftlich überliefert sind. Die Übersetzung des ersten Traktats ist betitelt mit Dedecemdubitationibuscircaprovidentiam(imfolgenden:D.),diedeszweiten mit De providentia et fato et eo quod in nobis ad Theodorum mechanicum (im folgenden: P.), die des dritten mit De malorum subsistentia (im folgenden: M.). Alle drei Übersetzungen liegen seit 1960 in einer kritischen Edition vor, der in vielerlei Hinsicht grundlegenden und die unkritischen (Teil-)Editionen des 18. und 19.Jahrhunderts3 überholenden Ausgabe Helmut Boeses.4 1 ZurEinführunginWilhelmsLebenundÜbersetzertätigkeitsieheW.Vanhamel,Biobibliographie deGuillaumedeMoerbeke,in:J.Brams/W.Vanhamel(Hgg.),GuillaumedeMoerbeke.Recueil d’e´tudesa` l’occasiondu700eanniversairedesamort(1286),Leuven1989(=AncientandMedi- evalPhilosophy.DeWulf-MansionCentre.SeriesI,Vol.VII),301–383. 2 Die Datierung basiert auf den Angaben der Subskriptionen zu den Übersetzungen der drei Abhandlungen: Ihnen zufolge vollendete Wilhelm die Übersetzung der ersten Abhandlung am 4.Februar1280,diederzweitenam14.Februar1280unddiederdrittenam21.Februar1280. H.Boese zieht aus diesen Angaben den Schluß: „translator [...] intra tres fere septimanas [...] totumopusabsolvit“(H.Boese,ProcliDiadochitriaopuscula(Deprovidentia,libertate,malo) Latine Guilelmo de Moerbeka vertente et Graece ex Isaacii Sebastocratoris aliorumque scriptis collecta, Berlin 1960 [=Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 1], xi). Diese Fol- gerung ist naheliegend, jedoch nicht zwingend, da nicht ausgeschlossen werden kann, daß Wil- helmschonlängereZeitvorderAusarbeitungdermitdenSubskriptionenversehenenVersionen seiner Übersetzungen Vorarbeiten zu einer Übersetzung der Tria opuscula leistete und bei der AusarbeitungderendgültigenVersionenaufdieseVorarbeitenzurückgriff. 3 P. erschien im Druck erstmals 1717, im achten Band von Johann Albert Fabricius’ Bibliotheca Graeca,ergänztdurchExzerpteausundParaphrasenvonD.undM.:I.A.Fabricius,Bibliothecae GraecaeVolumenOctavum,Hamburg1717,464–507.DieÜbersetzungallerdreiAbhandlungen wurdeerstmals1820vonVictorCousinpubliziert:V.Cousin,ProcliphilosophiPlatonicioperae codd. mss. Biblioth. Reg. Parisiensis, tum primum edidit, lectionis varietate, versione Latina, commentariisillustravitVictorCousin.Tomusprimuscontinenstriaopusculadelibertate,pro- videntia et malo, Paris 1820. Dieser Edition ließ Cousin 1864 eine zweite folgen, in der, dank Berücksichtigung weiterer Handschriften, Lücken der ersten Edition aufgefüllt und Fehler be- richtigtsind:V.Cousin,ProcliphilosophiPlatonicioperaineditaquaeprimusolimecodd.mss. ParisinisItalicisquevulgaveratnuncsecundiscurisemendavitetauxitVictorCousin.Parsprima continensProclitriaopusculadeprovidentia,libertateetmalointerpreteGuillelmodeMorbeka, Paris 1864. Zur handschriftlichen Grundlage der genannten Editionen siehe Boese, Procli Dia- dochitriaopuscula,a.a.O.(Anm.2),xv–xvi. 4 Boese,ProcliDiadochitriaopuscula,a.a.O.(Anm.2).DieTriaopusculawurdeninWilhelms Übersetzung später nochmals von D.Isaac in der „Collection Bude´“ jeweils separatim mit französischer Übersetzung und Annotationes ediert: D.Isaac, Proclus: Trois e´tudes sur la providence: I.Dix proble`mes concernant la providence, Paris 1977; D.Isaac, Proclus: Trois e´tudes sur la providence: II. Providence, fatalite´, liberte´, Paris 1979; D.Isaac, Proclus: Trois e´tudessurlaprovidence:III.Del’existencedumal,Paris1982.DieseEditionenstellenjedochim VergleichmitBoesesAusgabeinsgesamtkeinenFortschritt,sonderneinenRückfalldar.Vgl.zu FragenderKonstitutiondeslateinischenTextesunten1.4. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 2/17/15 10:35 AM 4 Einleitung WilhelmsÜbersetzungistzwarnichtunsereeinzigeQuellefürdieAuslegung der in der modernen Literatur als Tria opuscula5 bezeichneten Abhandlungen – ihr zur Seite tritt eine vornehmlich von Boese erschlossene fragmentarische indirekte griechische Tradition in Form von Paraphrasen, Exzerpten, Zitaten und Marginalnotizen (vgl. dazu unten 1.2.2.1) –; sie ist jedoch die Hauptquelle und wird dies auch so lange bleiben, wie nicht früher oder später eine heute nicht greifbare Abschrift des griechischen Textes ans Licht treten sollte. DieÜbersetzungderTriaopusculagehörtzudenspätestenderunsbekannten Übersetzungen Wilhelms. Als er sie anfertigte, konnte Wilhelm bereits auf eine jahrzehntelange Übersetzertätigkeit zurückblicken und aus der daraus gewon- nenen Erfahrung im Umgang mit den griechischen Texten schöpfen. Im Laufe dieser Tätigkeit entwickelte er eine Technik,6 mit der er immer stärker darauf zielte, den griechischen Wortlaut der von ihm verwendeten Vorlage(n) so exakt wie möglich in lateinischer Sprache abzubilden.7 Dieses Ziel verfolgt Wilhelm auch in der Übersetzung der Tria opuscula. Der Preis der angestrebten Genau- igkeit ist, daß die Übersetzung nicht nur inculta ... et tantum non barbara8 wirkt, sondern den Leser auch vor Verständnisprobleme von der Art stellt, wie sie Thomas Taylor dazu veranlaßten, in seiner Übersetzung des ersten Traktats eine längere Passage einfach wegzulassen: „Morbeka’s version of the remaining part of this seventh question is, unfortunately, so barbarous, that I found it impossible to translate it“.9 5 DieBezeichnungTriaopusculagehtwederaufWilhelmzurück,nochhatsieeinEntsprechungs- stückinderindirektengriechischenTraditionderdreiAbhandlungen.Geprägtwurdesiejedoch nicht erst von Cousin (dessen beide oben in Anm.3 genannten Editionen die Bezeichnung im Titel führen), sondern schon früher: Sie findet sich, in umgekehrter Wortfolge (opuscula tria), bereitsaufdemTitelblattdesVat.Reg.lat.1246(=R),derteilsvonLucasHolsteniusselbst,teils unter seiner Ägide verfertigten und zugleich von Holstenius redigierten Abschrift (vgl. zu R Boese,ProcliDiadochitriaopuscula,a.a.O.[Anm.2],xv). 6 Zur Einführung in Wilhelms Übersetzungstechnik empfiehlt sich noch immer die Lektüre der ebensokonzisenwieumsichtigenDarstellunginG.Rudberg,TextstudienzurTiergeschichtedes Aristoteles, Upsala 1908 (Diss.), 27–50. Vieles, was Rudberg hier zu Wilhelms Übersetzungs- methode am Beispiel der frühen Übersetzung der Historia Animalium sagt, trifft auch auf die späterenÜbersetzungenzu.UnterneuerenStudienseibesondersdiegründlicheundmaterialrei- chevonC.Lunagenannt:C.Luna,L’utilizzazionediunatraduzionegreco-latinamedievaleper lacostituzionedeltestogreco:latraduzionediGuglielmodiMoerbekedelcommentodiProclo In Parmenidem. Parte II, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 21 (2010), 475–555.SieistamBeispielderÜbersetzungdesParmenides-Kommentarsdurchgeführt,welche derÜbersetzungderTriaopusculainvielenHinsichtensehrnahesteht. 7 „Particularlyinhislastworks,WilhelmhadashisonlyambitiontorendertheGreekasliterally and accurately as possible, in an artificial Latin, without any stylistic pretention“ (C. Steel, Preface,in:C.Steel/F.Rumbach,TheFinalSectionofProclus’CommentaryontheParmenides. AGreekRetroversionoftheLatinTranslation,withanEnglishTranslationbyD.G.MacIsaac, in:Documentiestudisullatradizionefilosoficamedievale8[1997],211–267,hier212). 8 Vgl.Fabricius,BibliothecaeGraecaeVolumenOctavum,a.a.O.(Anm.3),464. 9 Th. Taylor, Two Treatises of Proclus, the Platonic Successor; the Former Consisting of Ten Doubts Concerning Providence, and a Solution of those Doubts; and the Latter Containing a DevelopmentoftheNatureofEvil,London1833,61Anm.a. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 2/17/15 10:35 AM Anliegen und Anlage dieser Arbeit 5 ManchedieserProblemegründeninVerderbnissendervonWilhelmverwen- deten Vorlage, andere in Verlesungen oder Mißverständnissen des Übersetzers und wieder andere – ohne Zweifel die meisten – in mangelnder Kenntnis seiner Übersetzungsmethode.DieProblemelassensich,wennüberhaupt,dannnurso lösen, daß man – mit peculiari quadam scientia rationis artisque vertendi ipsius Guilelmi10 – zu klären versucht, welchen griechischen Text Wilhelm jeweils zu übersetzen intendiert, und dabei auch Verlesungen oder Mißverständnisse des ÜbersetzersoderKorruptelenseinerVorlagezubereinigenversucht–kurz:daß man versucht, den griechischen Originaltext zu rekonstruieren. MansiehtsichindieserÜberzeugungbestätigt,wennmandiebishererschie- nenen Übersetzungen in moderne Sprachen zu Rate zieht:11 In ihnen begegnen zahlreiche Stellen, an denen der Versuch, Wilhelms Latein direkt in eine mo- derne Sprache zu übertragen, gescheitert ist: entweder weil er zu einer bloßen Reproduktion des Unverständlichen in einer anderen Sprache oder zu einer beliebigen Interpretation ad sensum geführt hat (etliche Beispiele findet man unten im Kommentar, so daß ich hier auf eine Präsentation von Beispielen verzichte). Zwar gilt nicht uneingeschränkt, daß – wie H.D. Saffrey vor vielen JahrenzuWilhelmsÜbersetzungdesSchlußteilsdessiebtenBuchsvonProklos’ 10 Vgl.Boese,ProcliDiadochitriaopuscula,a.a.O.(Anm.2),v:„Itaquepeculiariquadamscientia rationis artisque vertendi ipsius Guilelmi, quae diuturna tantum industria et studio comparari potest,opusest,priusquamhitextusedipossint,sialiquoquidemmodomultasquaeinistissunt difficultatessuperarevelis“. 11 Th.Taylor,TheSixBooksofProclus,thePlatonicSuccessor,ontheTheologyofPlato,translated fromtheGreek[...].TowhichareaddedatranslationofthetreatiseofProclus,OnProvidence andFate;atranslationofextractsfromhisTreatise,entitled,TenDoubtsConcerningProvidence; and a Translation of extracts from his Treatise On the Subsistence of Evil; as preserved in the BibliothecaGr.ofFabricius,Vol.II,London1816,442–517;Taylor,TwoTreatisesofProclus, a.a.O. (Anm.9); Th. Borger, Proklos Diadochos: Über die Vorsehung, das Schicksal und den freien Willen an Theodoros, den Ingenieur (Mechaniker), §§1–32, Köln 1971 (Diss.); K.Feld- busch, Proklos Diadochos: Zehn Aporien über die Vorsehung, Frage 1–5, §§1–31, Köln 1972 (Diss.);I.Böhme,ProklosDiadochos.ZehnAporienüberdieVorsehung.Frage6–10,§§32–66, Köln1975(Diss.);Isaac,Proclus:Troise´tudessurlaprovidence:I.Dixproble`mesconcernantla providence, a.a.O.(Anm.4);M.Erler, ProklosDiadochos:ÜberdieExistenz desBösen,Mei- senheimamGlan1978(=BeiträgezurklassischenPhilologie102);Isaac,Proclus:Troise´tudessur la providence: II. Providence, fatalite´, liberte´, a.a.O. (Anm.4); M.Erler/Th. Borger, Proklos Diadochos:ÜberdieVorsehung,dasSchicksalunddenfreienWillenanTheodoros,denInge- nieur(Mechaniker),MeisenheimamGlan1980(=BeiträgezurklassischenPhilologie121);Isaac, Proclus:Troise´tudessurlaprovidence:III.Del’existencedumal,a.a.O.(Anm.4);L.Montoneri, Proclo:Laprovvidenzaelaliberta` dell’uomo,Rom/Bari1986(=UniversaleLaterza689);F.D. Paparella,Proclo:Triaopuscula.Provvidenza,liberta`,male,Mailand2004.–DieÜbersetzungen: J.Opsomer/C.Steel,Proclus:OntheExistenceofEvils,London2003(=TheGreekCommen- tatorsonAristotle49);C.Steel,Proclus:OnProvidence,London2007(=TheGreekCommen- tators on Aristotle 71); J.Opsomer/C.Steel, Proclus: Ten Problems Concerning Providence, London 2012 (=The Greek Commentators on Aristotle 96) stellen eine Ausnahme dar, da die AutoreneinhohesBewußtseindermitderRetroversionverbundenenProblemeerkennenlassen, wiedieihrenÜbersetzungenbeigefügten„Philologicalappendices“zeigen. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 2/17/15 10:35 AM 6 Einleitung Parmenides-Kommentar bemerkte – „eine Übersetzung des Lateinischen von WilhelminsGriechischesehrvielpräziserundverständlicherseinwürdealseine Übersetzung in eine moderne Sprache“;12 aber jede Übersetzung in eine mo- derne Sprache, die nicht auf einer sorgfältigen Untersuchung der Frage beruht, welchen griechischen Text Wilhelm wiedergibt und wie dieser tatsächlich zu verstehen, gegebenenfalls auch zu korrigieren ist, muß in der Tat unverständli- cher bleiben als eine Übersetzung, die auf einer solchen Untersuchung beruht. Und nicht nur dies: Jeder Versuch, auf der Grundlage von Wilhelms Über- setzungineinermodernenSprachewiederzugeben,wasProklosgeschriebenhat, erhebt den Anspruch, daß die gewählte Wiedergabe mit dem von Proklos verfaßten Text übereinstimmt. Ob dieser Anspruch mit Recht erhoben wird, läßtsichnursoüberprüfen,daßmansicheinBildvomOriginaltextzumachen versucht. Dem Bedürfnis nach einer Rekonstruktion des griechischen Originaltexts ist bereits in Boeses Edition Rechnung getragen, jedoch mit einer signifikanten Einschränkung:BoeseschlägtinseinerEditioneineRekonstruktionfastnurfür diejenigen Passagen vor, die in die indirekte griechische Tradition (vor allem in die Paraphrasen des Isaak Sebastokrator) eingegangen sind oder in denen Pro- klos selbst aus überlieferten griechischen Werken anderer Autoren (etwa Pla- tons, Plotins, Plutarchs) schöpft. Diese Passagen machen zwar einen nicht un- erheblichenTeilderTriaopusculaaus;gleichwohlbleibtBoesesRekonstruktion aufgrunddergenanntenSelbstbeschränkungnihilaliudquamcollectiofragmen- torum.13SeitBoesesVersuchsindeinigeweitereVorschlägezurRekonstruktion kleinererAusschnittederTriaopusculaerschienen,diebeiBoesenichtodermit einer anderen Rekonstruktion versehen sind;14 längere Passagen – insbesondere aus dem zweiten opusculum – sind in einer 2010 publizierten Dissertation von Jean-PierreSchneidermiteiner(knappannotierten)Rekonstruktionversehen.15 12 H.D.Saffrey,Besprechungvon:R.Klibansky/L.Labowsky,ProcliCommentariuminParme- nidem. Pars ultima adhuc inedita interprete Guillelmo de Moerbeka, Plato latinus, Vol. III, London1953,in:DeutscheLiteraturzeitung,Jg.81,Heft7/8,1960,621–629,hier626. 13 Vgl.Boese,ProcliDiadochitriaopuscula,a.a.O.(Anm.2),xxvii. 14 Vgl. insbesondere W.Spoerri, Kritisch-exegetische Bemerkungen, in: F.Brunner/W.Spoerri, Proclus:Dedecemdubitationibuscircaprovidentiam,q.3,11–14,in:FreiburgerZeitschriftfür PhilosophieundTheologie24(1977),112–164,hier127–164;W.Spoerri,Observationscritiques surleprologuedel’«OpusculeI»deProclus,in:MuseumHelveticum44(1987),211–222;J.-P. Schneider,Unemention(cache´e)d’Epicte`techezProclus(Procl.Deprov.55,5–18[Boese]),in: InterpretationundArgument,hg.vonH.Linneweber-LammerskittenundG.Mohr,Würzburg 2002,121–128;Opsomer/Steel,Proclus:OntheExistenceofEvils,a.a.O.(Anm.11),133–145; C.Luna/A.-Ph.Segonds,Proclus:CommentairesurleParme´nidedePlaton.TomeI,1repartie: Introductionge´ne´rale.2epartie:LivreI,Paris2007,lxix–xcviii;Steel,Proclus:OnProvidence, a.a.O.(Anm.11),93–109. 15 J.-P.Schneider,Re´troversion(partielle)desTriaopusculadeProclus,in:Ders.,Laliberte´dansla philosophiedeProclus.The`sepre´sente´ea` laFaculte´ deslettresetscienceshumaines,Institutde philosophie,Universite´deNeuchaˆtel,Neuchaˆtel2010,314–394.DieDissertationistonlinezugäng- lichunterderAdressehttp://doc.rero.ch/record/20578/files/00002164.pdf(Stand26.07.2014). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 2/17/15 10:35 AM Anliegen und Anlage dieser Arbeit 7 (AufdieseBeiträgegeheichinderEinleitungnichtausführlicherein,wohlaber unten im Kommentar.) Ein Grund für Boeses – nicht ganz strikt durchgehaltene – Zurückhaltung, auch diejenigen Stellen der lateinischen Übersetzung mit einer Rekonstruktion des griechischen Originaltexts zu versehen, die sich nicht in griechischen Quel- len wiedererkennen lassen, war ohne Zweifel auch die Annahme, daß eine Re- konstruktion an diesen Stellen zu spekulativ bleiben müßte, als daß es wissen- schaftlich redlich wäre, sie an der Seite des lateinischen Texts abzudrucken. WenigerzurückhaltendalsBoeseistCarlosSteelimFallvonWilhelmsÜber- setzung des ebenfalls nicht handschriftlich überlieferten Schlußteils des siebten Buchs von Proklos’ Parmenides-Kommentars verfahren. Ausgehend von der zutreffenden Feststellung, daß „[a] full understanding of this final section of Proclus’commentaryisnotpossiblewithoutfirstreconstructingthelostGreek starting from the Latin translation“,16 hat sich Steel dafür entschieden, in seiner gemeinsam mit LeenVan Campe 2009 publizierten Edition der Bücher VI und VIIdesParmenides-KommentarsWilhelmslateinischeÜbersetzungdesSchluß- teils des siebten Buchs zusammen mit einem Vorschlag zur Rekonstruktion des Originaltexts abzudrucken.17 Dieser Vorschlag stellt, wie ich bereits an früherer Stelle bemerkt habe, „ein wertvolles, ja unverzichtbares Hilfsmittel zum Ver- ständnis der lateinischen Übersetzung“18 dar, das wesentlich zur Klärung vieler dunklerStellenvonWilhelmsLateinbeiträgt.AllerdingsenthebtunsdieseFest- stellungnichtderheiklenFrage,welcheGlaubwürdigkeitderRekonstruktionin toto zuzubilligen ist. Steel bemerkt dazu im Vorwort zu seiner Edition: „[...] it now seems as if we are reading again the original text of Proclus, though un- certainties remain about the order of words, the use of some particles or the choice of some Greek equivalents“.19 Steel macht hier keinen Hehl daraus, daß 16 C.Steel,Preface,in:L.VanCampe/C.Steel,ProcliinPlatonisParmenidemCommentaria.To- musIIIlibrosVI–VIIetindicescontinens,Oxford2009,v–viii,hiervi.SieheauchschonSteel, Preface,a.a.O.(Anm.7),211–214,hier211–212:„Itseemedthatforatrueunderstandingofthe text,andacorrecttranslation,itwouldbeinevitabletofirstretranslatetheLatintextintothelost Greekoriginal“. 17 Vgl. C.Steel, Libri septimi Finis ex Interpretatione Guillelmi graece redditus, in: Van Campe/ Steel,ProcliinPlatonisParmenidemCommentaria.TomusIII,a.a.O.(Anm.16),279–355.Dieser VorschlagstellteinestarkrevidierteFassungdesfrüherenVorschlagsdar,denSteel1997aufder Basis eines Entwurfs von F.Rumbach publizierte (vgl. Steel/Rumbach, The Final Section of Proclus’ Commentary on the Parmenides, a.a.O. [Anm.7], hier 216–266). Für die Revision fandenu.a.einigederKorrekturenBerücksichtigung,dieichunterdessenineinemAufsatz(vgl. B.Strobel,EinigeVorschlägezurWiederherstellungdesgriechischenTextsdesSchlussteilsvon Proklos’ Parmenides-Kommentar, in: M.Perkams/R.M. Piccione [Hgg.], Proklos. Methode, Seelenlehre,Metaphysik.AktenderKonferenzinJenaam18.–20.September2003,Leiden/Bos- ton2006,98–113)sowieinprivaterKommunikationmitC.Steelvorgeschlagenhatte.Ichnütze dies als Gelegenheit, C.Steel für die betreffenden Diskussionen zu danken, die letztlich den Anstoßdazugaben,dasProjektzudenTriaopusculainAngriffzunehmen. 18 Vgl.meineRezension,in:Gnomon83(2011),485–492,hier492. 19 Vgl.Steel,Preface,a.a.O.(Anm.16),vi. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 2/17/15 10:35 AM 8 Einleitung in verschiedenen Hinsichten Unsicherheiten verbleiben (müssen); andererseits suggeriert die Bemerkung, daß es sich bei den Unsicherheiten um eine quantite´ ne´gligeable handele und es im Großen und Ganzen gelungen sei, den Original- text wiederherzustellen. Da Steel aus Platzgründen auf „a full scholarly justifi- cation“20 seiner Rekonstruktion verzichten mußte und auch die gravierenderen Unsicherheiten nicht als solche gekennzeichnet werden, bleibt es für den Leser, der weder die Rechtfertigung noch die Unsicherheiten kennt, schwer, sich ein Urteil über die Glaubwürdigkeit der Rekonstruktion zu bilden, das seinerseits erforderlich wäre, um Steels Zuversicht teilen zu können. Damit bleibt auch der fundamentale Einwand gegen den Rekonstruktions- vorschlag im Raum stehen, der Einwand, daß der Vorschlag mit zu großen Unsicherheiten behaftet sei, als daß es wissenschaftlich redlich wäre, ihn an der Seite der lateinischen Übersetzung abzudrucken. DieserEinwandistjedochoffensichtlichnichtminderrechtfertigungsbedürf- tig als die Behauptung, mit einer bestimmten Rekonstruktion im Großen und GanzendieverbaProcliwiedergefundenzuhaben;undesistauchklar,daßsich dieRechtfertigungdereinenwiederanderenPositionnurauseinergründlichen Untersuchung der Frage ergeben kann, welche Rückschlüsse Wilhelms Über- setzung auf den Originaltext erlaubt. Das Bedürfnis nach einer Rekonstruktion desOriginaltexts,dasdurchdieProbleme,WilhelmsÜbersetzungzuverstehen, hervorgerufen wird, ruft also seinerseits ein anderes und noch grundlegenderes Bedürfnis hervor: das Bedürfnis zu untersuchen, ob und, wenn ja, wie sich der Originaltext überhaupt aus Wilhelms Übersetzung erschließen läßt. Es ist primär dieses zweite, in Wahrheit aber erste Bedürfnis, dem in diesem Buch–fürdieTriaopuscula–Genügegetanwerdensoll.DasZielistalsonicht sosehrdies,einebestimmteRekonstruktiondesOriginaltextsderTriaopuscula vorzuschlagen, als vielmehr dies, die Fragen zu untersuchen, die die Rekon- struktion des Originaltexts der Tria opuscula aufwirft. Dem entspricht die Anlage des Buchs: Sein Hauptteil ist ein Stellenkommen- tar,indemebendieseFragenerörtertwerden.Eingenerelles–undsicherwenig überraschendes – Ergebnis der Untersuchung ist, daß die Frage, welche Rück- schlüsse Wilhelms Übersetzung auf die verba Procli zuläßt, von Stelle zu Stelle differenziert zu beantworten ist und die verba Procli zuweilen mit größerer, zu- weilen mit geringerer Sicherheit aus Wilhelms Übersetzung erschlossen werden können.Warumdiessoist,werdeichaufallgemeineWeiseimanschließendenTeil derEinleitungerläutern,indemichmichderFragezuwende,dieGunnarRudberg mitBlickaufWilhelmsÜbersetzungderHistoriaAnimaliumals„dieFragenach den Grenzen der Worttreue des lateinischen Textes“ bezeichnet hat.21 20 Vgl.Steel,Preface,a.a.O.(Anm.16),vii. 21 Rudberg,TextstudienzurTiergeschichtedesAristoteles,a.a.O.(Anm.6),28. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 2/17/15 10:35 AM Anliegen und Anlage dieser Arbeit 9 Was das andere Bedürfnis, das Bedürfnis nach einer Rekonstruktion des Ori- ginaltextsderTriaopuscula,angeht,denkeich,daßdiesesnurbedingtbefriedigt werdenkann–wasebendaranliegt,daßWilhelmsÜbersetzungzwaraneinigen Stellen, aber durchaus nicht immer erlaubt, sichere Rückschlüsse auf den Ori- ginaltext zu ziehen. Dennoch habe ich mich dafür entschieden, als Anhang zu dem Kommentar einen zusammenhängenden Vorschlag zur Gesamtrekonstruktion des Original- textsabzudrucken,jedochausdrücklichmitdemVorbehalt,daßmitdemVorschlag keineswegs beansprucht wird, durchweg die verba Procli wiedergefunden zu ha- ben. Die Entscheidung, ihn dem Kommentar beizugeben, ist vor allem in der Absicht erfolgt, die im Kommentar vorgestellten und diskutierten Rekonstruk- tions‚fragmente‘inihremZusammenhangzupräsentieren.Solangeklarist,daßdie vorgeschlagene Gesamtrekonstruktion mit all den Einschränkungen und Frage- zeichen zu nehmen ist, die im Kommentar formuliert werden, kann sie keinen Schadenanrichten,sondernimGegenteilnützlicheInformationenliefern,diesich inderzerlegend-analytischenFormdesKommentarsentwedergarnichtodernur mit großem Formulierungsaufwand vermitteln lassen, insbesondere Informa- tionen zur syntaktischen Gliederung in Form entsprechender Interpunktion. Den im Anhang beigefügten Vorschlag zur Gesamtrekonstruktion nenne ich, ähnlich wie C.Steel und andere, „Retroversion“ und beschreibe ihn damit als einen Text, der durch das gleichnamige Verfahren, die Rückübersetzung des Lateinischen ins Griechische, hergestellt worden ist. Diese Beschreibung ist nicht unzutreffend, allerdings erläuterungsbedürftig. Denn unter dem griechi- schen Text, den Wilhelm übersetzt und in den Wilhelms Übersetzung zurück- übersetzt wird, läßt sich Verschiedenes verstehen: der ‚Text‘, der Wilhelm beim Niederschreiben seiner Übersetzung vor dem geistigen Auge stand; der ‚Text‘, den er in seiner Vorlage zu lesen glaubte; der Text, der tatsächlich in seiner Vorlage stand; schließlich der Originaltext. Entsprechend läßt sich auch unter einem Text, der durch Rückübersetzung von Wilhelms Latein ins Griechische hergestellt worden ist, Verschiedenes verstehen (abhängig davon, wie eng oder weit man den Sinn des Ausdrucks „Rückübersetzung“ faßt): A eine Rückübersetzung, mit der, der Wortfolge von Wilhelms Übersetzung folgend, rekonstruiert werden soll, von welchen griechischen Ausdrücken Wilhelm jeweils glaubte, er gebe sie mit den entsprechenden lateinischen Ausdrücken wieder; B eine Rückübersetzung, mit der rekonstruiert werden soll, welchen griechi- schen Text Wilhelm in seiner Vorlage zu lesen glaubte; C eine Rückübersetzung, mit der rekonstruiert werden soll, welcher griechi- sche Text tatsächlich in Wilhelms Vorlage stand; D eine Rückübersetzung, mit der der griechische Originaltext rekonstruiert werden soll. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 2/17/15 10:35 AM

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