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Probleme der Medizin-Soziologie PDF

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ISBN 978-3-663-00938-2 ISBN 978-3-663-02851-2 ( eBook) DOI 10.1007/978-3-663-02851-2 KÖLNER ZEITSCHRIFT FÜR SOZIOLOGIE UND SOZIALPSYCHOLOGIE Herauf;gcgcbcn von: Prof. Dr. Rene König, Universität Köln Unter Mitarbeit von: Prof. Dr. Th. W.Adorno, Frankfurt a. M.; Prof. Dr. A. Berg.'fträsser, Freiburg; Prof. Dr. F. Bülote, Berlin; Prof. Dr. JI. t". Eckhardt f, Heidclberg; Prof. Dr. A. Gehlen, Speyer; Prof. Dr. JJ. Hcydrich, Köln; Prof. Dr. P. R. Hofstätter, \\'ilhefrn..,haven; Prof. Dr. ~'\I, Horkheimer, Frankfurt; Prof. Dr. C. Jantke, Hamburg; Prof. Dr. R. Künig, Köln; Prof. Dr. G. Jiackenroth f, Kiel; Prof. Dr. A. v. iYiartm, München; Prof. Dr. W. E. Jlühlmann, Mainz; Prof. Dr. A. 1\:füller-Armack, Köln; Prof. Dr. K. V. i\Iüller, Nürnberg; Prof. Dr. L. Neundürjer, Frankfurt; Prof. Dr. ll. Plessncr, Göttiogen; Prof. Dr. A. Rüstow, Heidelbcr~; Prof. Dr. H. Schelsky, Hamburg; Prof. Dr. .:.U. Graf Salms, ..\Iarburg; Prof. Dr. Jf. E. Graf Solm$, '\\.'ilhelmshaven; Prof. Dr. 0. Stammer, Berlin; Prof. Dr. A. rr·cberf, Heidelbcrg; Prof. Dr. L. v. rr·iese, Köln; Prof. Dr. G. Wur;;bacher, Kiel Rcdaktionssekretär: Priv .• Doz. Dr. Peter Hcintz, Universität Köln Inhaltsübersicht de,.; 3. Sonderheftes I. .·f II g e m " i n e r T e i l l'rohlrme <Irr 1\Ieuizin-Soziologie. Yon Prof. Dr. Rene Kiinig, l'niversität Köln ....... . ~truktur und Funktion der mouernPn ~le<lizin, eine soziolo;:-isd>e Analyse. \'on Prof. Dr. Tolcolt Parsons, Harvanl University, Camhridge, 1\Iass. (USA) . . . . . . . . . . . . 10 \\';" kann eine Spezial<li•ziplin ,.Soziolo":isrhe Medizin" für eine all":rrneine Medizin lt•i>ten'( Yon Prof. llr. med. T/wre t'Oil Uexl:ü/1, Direktor der 1\Iedizinisehen Poliklinik der .lustus l.irhi~-L'niversität. Giellen.................................................. 58 Eini!(e kulturanthropolo;-':i,dw ßetrachtun~en ülll'r tli<· Medizin. \'on Dr. Wolfgang SciWl'll<', llerlin-Zt•hleiHlorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 I I. S l' ,. z i " ll e r T e i l Strukturwandlungen unserer Gesellschaft und em1ge Auswirkungen auf die Kranken- vt•"icherun":. Von Prof. Dr. Re11t; König, L'nin·rsität Köln ............................ 115 Dir epidt·miolo;;ischc .!\Tethode in der l\Iruizinisd1en Soziologie. Von Dr. med. Man/red l'flanz. "'·dizinisehe Poliklinik der Jusins Liehii!-llniversität, Gießen .................. 134 Sozialp•y,.!Jiatrisehe f:herlt·;.:un;.:rn. Von Dr. med. llan.< Strol=ha. \X"it•n..... 150 /II. T " i I : .( 11 s d " 111 /, '' b e 11 d '' r F o r .< c h 11 11 g Beohachtnll~t·n zur sozialeil Struktur des Krankenhauses. Yon Prof. Dr. F. lf'e.<.<en, \\'ashill!-(IOn l'niHr,ity. St. Louis. Illissouri (USA).................................. 156 Soziale Schichtun!( und psyd>is.·he Erkrankuni-(. Yon Morris L Fried, 1\I. A .. New York. '\.Y. (CSAJ ..................................................................... 185 l:lltf'rsnchun:r<·ll üher den Ei11flul.l sozialer Faktoren in der Tuberkulose-Therapie. Von Dr. Gl'rhanl Baumerl, Fra11kfnrt am !\Jain. und "edizinaldirrktor Dr. m•·tl. Rwlolf Hoppe, Landesversid>rrungsanstalt Rheinprovinz, Dü"eldorf ................................ 219 p,,,.!Jiatrisehc Aspekte zur Farniliensozi~Jio~ie. Yon Dr. med. Allll<'lllllrie Diihrs.<Pn, Zen- tr·alinstitut fiir psycho;.:•·nt· Erkranknn;.:en. ßt·rlin .................................... 235 1-mwrltfaktorf'n mul A!.wehrmrd>ani"'"'n in der llt·halldlnn!! jn:rendlidH•r Patienten. Von I lr. Fdeltrud Seeger, Köln·BraunsfPlll .............................................. 257 I l ·. T <' i I: [, i I <' r a I 11 r b <' r i r h I " 11 11 d D i .< h 11 s s i o 11 e 11 llit• '\T .. tlizinische Soziolo":it• in den Yrreini;rten Staate>>. Ihre Rol!t•n nnd Interessen. Yon llr. Ra\' H. flli11g, Center for Commnnity Studies. ßoston. IITa". (CSA) ................ 2i3 Eini1!'e A-.pPI...t,· zur Entwirklung Piner 'fPdizin-Soziolot~iP und Sozialp~ychologiP in Deutsch land. Yon l>r. tned. llar!!rct Tünnf•smullll. For•·duln!!>·in~titut für So:tial- und Yt•rwaltnn!.!··- wissen•dJaften an der l'llin·f'ität Köln. ~oziolo!!ischt• Ahteihm!(... . ~9·t I. Allgemeiner Teil PROBLEME DER MEDIZIN-SOZIOLOGIE Von Rene König Wir haben es bewußt vermieden, im Titel dieses Sonderheftes die beiden Hauptworte ~durch ein farbloses "und" zu verbinden; denn das hätte nach außen den Anschein erwecken müssen, als sei das Verhältnis von Medizin und Soziologie irgendwie umstritten oder in Frage gestellt. Andererseits kann und soll natürlich auch nicht behauptet werden, daß sich diese Beziehung auf eine einfache For mel bringen lasse, die für alle Beteil>igten unmittelbar akzeptabel wäre. Die Entgegensetzung eines totalen Mangels an gegenseitigen Beziehungen und eines Verhältnisses, das sich in eine einfache Definition pressen läßt, scheint uns überhaupt keine sinnvolle Alternative zu sein. Vielmehr liegt ~die Sache wohl so, daß sich seit geraumer Zeit die Annäherung von Medizin und Soziologie vollzogen hat. Die offenen Fragen stehen also allesamt unter der Voraussetzung, daß es Medizin-Soziologie schon lange faktisch gibt. Die wesentliche Aufgabe liegt heute nur darin, dieses Verhältnis aus seiner Undifferenziertheit zu be freien, seine Voraussetzungen klar herauszuarbeiten und auch entsprechend die Konsequenzen wachsend bewußt zu machen. Wir möchten betonen, d,aß die Situation heute recht günstig ist für die Er füllung der genannten Aufgaben, nachdem sich bestimmte Entwicklungen innerhalb der Soziologie klar durchgesetzt haben. Man darf nicht vergessen, daß der Mediziner sehr präzise Vorstellungen von den wissenschaftlichen Grund lagen seiner Disziplin zu haben pflegt; diese sind im übrigen in keiner Weise isoliert und zusammenhanglos, sondern integrieren sich zu einem komplexen System, dem naturwissenschaftlichen Weltbild. Es liegt auf der Hand, daß der Mediziner die daraus erwachsenden Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit auf alles überträgt, dessen Übernahme ihm zugemutet wird. So mußte er auch zunächst ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Soziologie aus vielen älteren Produktio nen schöpfen, die nicht nur die grundlegendsten Bedingungen des erwähnten Systems nicht erfüllten, sondern es unter Umständen - insbesondere auf Grund der unseligen Scheidung von Natur- und Kultur- oder Geisteswissen schaften - sogar bewußt ablehnten. Nachdem sich nun in der Gegenwart die Situation in dieser Hinsicht geklärt und die Soziologie durchweg den Anschluß 2 Rene König an die allgemeine Wissenschaftslogik gefunden hat, entfällt dieser Stein ·des Anstoßes. Dies geschieht sogar in einem derartigen Ausmaß, daß jetzt umgekehrt die medizinische Forschung von der soziologischen Methodenlehre und ihren Er fahrungen profitiert, so z. B. in der Bewertung der Repräsentativität respek tive Nicht-Repräsentativität bestimmter Erhebungsauswahlen. Der Mediziner ist naturgemäß geneigt, die ihm in einem bestimmten Untersuchungszusammen hang begegnenden "Fälle" als Ausschnitt aus einem Kontinuum anzusehen, so daß er auch meint, von dem Teilausschnitt mehr oder weniger unmittelbar auf das Ganze schließen zu können. Der Soziologe kann ihm ·dagegen zeigen, daß dies nicht immer der Fall sein muß. Die weiteren sozialen Zusammen hänge sind vielmehr aus zahlreichen Einzelgruppen und Untergruppen aufge baut, die jeweils ihr eigenes Sozialsystem entwickeln, so daß also - sozio logisch gesehen - gar kein Kontinuum der erwähnten Art entstehen kann. Die meisten Krankeu-Auswahlen sind dementsprechend im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung in irgendeiner Hinsicht verzerrt. Der Soziologe kann nun dem Mediziner in entscheidender Weise bei der Bewertung des Verzerrungs effektes, dem er zu erliegen droht, helfen und eventuell dazu beitragen, die wirklichen Verhältnisse abzuklären. Falls sich das aus irgendwelchen Gründen nicht erreichen lassen sollte, kann er wenigstens einige Überlegungen darüber anstellen, in welcher Richtung die erhaltenen Ergebnisse modifiziert oder ge wichtet werden müssen, wenn sie ·der Wirklichkeit annähernd entsprechen sollen. Ein gutes Beispiel dafür gibt der Wiener Sozialpsychiater Hans Strotzlw im Rahmen einer Erhebung, welche die ganze Stadt Wien betraf!. Hier hatte der Mediziner zunächst 100 Patienten zur Verfügung, die sich in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung befanden. In einem ersten Arbeitsgang ver glich er nun diese Gruppe nach bestimmten Merkmalen mit l 000 weiteren Pa tienten (2 x 500) des Ambulatoriums, um die Konstanz der ersten Daten zu prüfen. Das hält sich vorläufig noch vollständig innerhalb der Grenzen ·des gewöhnlichen Vorgehens der Medizin. Ein Unterschied tritt erst in dem Augen bliek in Erscheinung, da die so erhaltenen und kontrollierten Ergebnisse ver glichen werden mit einer repräsentativen Auswahl von 4 000 Interviews, die nach einem bestimmten Verfahren gewonnen wurde, das im übrigen hier nicht zur Diskussion steht. Während nun auf Grund der ersten rein medizinischen Erhebung, wie es häufig geschieht, von der gestörten seelischen Gesundheit der Patienten des Ambulatoriums auf eine in der Großstadt gesamthaft gefährdete seelische Gesundheit geschlossen werden könnte, was bei der übrigen Bevöl kerung vielleicht nicht so akut wie bei den Behandlungsfällen, aber doch in vermindertem Maße auftritt, führte die soziologische Kontrolle zu einem v(}llig umgekehrten Ergebnis. Die zugrunde gelegte Hypothese lautete, "daß man Probleme der Medizin-Soziologie 3 typische Unterschiede zwischen den Antworten bei den Neurosen und bei dem Gesamtmaterial finden" könne. Diese Hypothese wurde vollauf bestätigt. Da mit ist nun nicht nur (rein medizinisch) bewiesen, daß Neurotiker empfind licher sind als andere Menschen, sondern außer·dem noch, ·daß ein beträchtlicher Unterschied im Reaktionsverhalten zwischen den Neurotikern und einer größeren Auswahl, die für die ganze Bevölkerung repräsentativ ist, aufgewiesen werden kann. Das heißt dann, daß man "nicht berechtigt (ist), diese ganze Bevölkerung als insgesamt in der sozialen Anpassung und Entwicklung gestört (neurotisiert) zu bezeichnen" (S. 182). Das ist ein allgemein-soziologisch sehr wichtiges Ergebnis, das ohne Beeinflussung der Medizin durch ·die Soziologie niemals hätte gefunden werden können. Die angedeutete Problematik ist allerdings nicht immer so einfach aufzu lösen, wie es in dem obigen Beispiel erscheint, sind doch dabei sehr grund sätzliche Voraussetzungen der beiden beteiligten Wissenschaften Medizin und Soziologie mit im Spiel. Ihrem ganzen Ausgangspunkt nach hat die Medizin zunächst das menschliche Wesen als Individuum der Gattung zum Gegenstand. Da vor der Gattung alle Individuen grundsätzlich gleich sind, wird die Medizin dementsprechend immer dazu neigen, die Vielfalt der Menschen nach Analogie e·ines Kontinuums anzusehen. Für die Soziologie ist dagegen die sozial-kulturelle Person zunächst gewiß auch ein Gattungsindividuum; denn die Soziologie kann nicht über die animalische Natur des Menschseins hinwegspringen. Aber sie weiß zugleich, daß damit nur der irrelevanteste Aspekt der sozial-kulturellen Person erfaßt ist, die sich erst in dem Dreieck Person-Kultur-Gesellschaft aufhaut. Der Medizin ist nun mit der Entwicklung der psychosomatischen (zusätz lich der psychoanalytischen) Betrachtungsweise ganz grundsätzlich der Zugang zur sozial-kulturellen Konditionierung der menschlichen Person eröffnet wor den. Aber dabei ist dann gerade das Verhältnis zwischen dem Gattungsindivi duum Mensch und der sozial-kulturellen Person nicht entsprechend abgeklärt worden, was unter anderem zu den oben erwähnten methodologischen Schwierig keiten geführt hat. Es ist interessant, zu bemerken, daß schon recht früh Soziologen und Sozial psychologen auftreten, die in ihrer Ausbildung Medizin und Soziologie ver einigen, ohne darum zu soziologischen Biologisten zu werden. Bei manchen findet sich diese Konstellation bereits im 19. Jahrhundert, wie etwa bei Gustave Le Bon, dem bekannten Massenpsychologen; allerdings zeigt sich auch die Schwierigkeit, die beiden Ausgangspunkte zu vereinen, in der Feststellung, für die Soziologen sei er ein guter Mediziner, für die Mediziner dagegen ein guter Sozialpsychologe gewesen. War es in diesem Falle vielleicht wirklich zu früh, um eine befriedigende Vereinigung der beiden Gesichtspunkte anzubahnen, so liegt das bei einer ganzen Reihe anderer Persönlichkeiten, wie z. B. Willy ll ell- 4 Rene König pach m Deutschland und vor allem Charles Blonde[ m Frankreich, wesentlich anders. Hellpack griff schon sehr früh das Problem der "geistigen Epidemien" (1906) auf2, das seit der Zeit ein zentraler Gegenstand der Medizin-Soziologie geblieben ist. Blondel ging als Psychiater an die Frage heran und hob den Charakter der Desozialisierung als für manche Formen der geistigen Erkran kungen bezeichnend hervor (seit 1914) 3, während der Genfer ]ean Piaget dem gegenüber die Seele des Kindes in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Sozialisierungsprozesses erfolgreich analysierte 4• Damit war die sozial-kulturelle Person des erwachsenen Menschen eingespannt zwischen den beiden Extremen des noch nicht und des nicht mehr Sozialisiertseins, was besonders deutlich den Entwicklungsraum bezeichnet, innerhalb dessen die Zusammenarbeit von Medizin und Soziologie anzusetzen hat. In den zwanziger Jahren führte das insbesondere in Frankreich zu einer starken Beteiligung von Psychiatern am Ausbau der Sozialpsychologie 5• Wir nennen hier außer Blondel nur noch die Namen von G. Drornard, G. Halberstadt und vor allem Henri Wallon, deren Auswirkungen auf Soziologie und Sozialpsychologie insbesondere von dem leider viel zu früh verstorbenen Daniel Essertier zusammengefaßt wurden 6, nachdem schon Marcel Mauss in seinem Bestreben, den totalen sozialen Menschen zu erfassen, auf die gleiche Problematik gestoßen war. Dabei galt sein Interesse gewissen extremen Phänomenen wie der "Thanatomanie" 7, d. h. der bei Primi tiven häufig beobachteten Erscheinung, daß ein Mensch zum mindesten schwer erkrankt, unter Umständen sogar stirbt, wenn ihm ein gegen ihn gerichteter Todeszauber bekannt wird. Er spricht hier von einer "Suggestion durch das Kollektiv"; von heute aus gesehen würden wir hier von Psychosomatik sprechen, wobei die extreme Wirksamkeit dieser Vorstellungen darin liegt, daß sie nicht individueii sind, sondern dem kollektiven Glaubensbestand einer Kultur als solcher angehören. Die Weiterentwicklung ging vor allem in die Richtung einer zunehmenden Differenzierung dieses Ausgangspunktes auf Grund wachsender Berücksichtigung sozialer Strukturtypen und Kulturhorizonte, die sich nicht da mit abfindet, eine allgemeine "kollektive" Determination der physisch-physio logischen Befindlichkeit des Menschen zu behaupten, sondern diesen Erscheinun gen in spezifischere soziale Systeme und Subsysteme nachgehen. Damit wird gleichzeitig der sehr undifferenzierte Ansatz von Williarn MacDougall und von Lucien Levy-Bruhl überwunden. Dasselbe gilt übrigens auch für Charles Blonde[, der in seiner eigenen Lehre vom Kollektivbewußtsein durchaus bei einer undifferenzierten Betrachtungsweise ,stehenblieb 8• Die Überwindung dieser Situation konnte auch sinnvollerweise nicht von einem Mediziner resp. Psychiater, sondern nur von einem Soziologen angebahnt werden. Ohne den Bereich der allgemeinen Psychologie antasten zu wollen, sprach in diesem Sinne Marcel Mauss 9 von einer "Vereinigung" des physiologischen und des soziologischen Ge- Probleme der Medizin-Soziologie 5 sichtspunktes, wobei die Schicht des individuellen Bewußtseins im Sinne der alten Psychologie außerordentlich "dünn" werde. Damit wäre an und für sich der Schritt in die Medizin-Soz,iologie vollständig vorbereitet gewesen; aber er selbst schließt hier nur die Psychiatrie ein. Dagegen lassen seine mehr programmatischen Aussagen immer wieder deutlich werden, in welchem Maße der totale Mensch durch alle Schichten des Lebens reicht. « En realite, dans notre science, la socio logie, nous ne trouvons guere ou presque jamais meme, sauf en matiere de Iitterature pure, de science pure l'homme divise en faculte·s. Nous avons affaire a a a toujours 1S0ll Corps, sa mentalite tout entiers, donnes Ia fois et tout d'un coup. Au fond, corps, iime, societe, taut ici se mi'de. Ce ne sont plus des faits speciaux de teile ou telle partie de Ia mentalite, ce sont des faits d'un ordre tres complexe, le plus compiexe imaginable, qui nous interessent. Ce sont ce que je propose d'appeler des phenomenes de totalite ou prend part non seule ment le groupe, mais encore, par lui, toutes les personnalites, tous les individus dans leur integrite morale, sociale, mentale, et, surtout, corporelle ou mate· rielle 10• » In seiner Abhandlung über die "Techniken des Körpers" kommt er der Medizin-Soziologie sicher am nächsten, wenn er etwa die Techniken er wähnt, mit deren Hilfe anormale (also krankhafte) Erscheinungen gepflegt werden 11• Allerdings erwähnt er dies nur, ohne weiter .darauf einzugehen. Für uns ist das Vorliegende aber Beweis genug, wie nahe schon die Diskussion der zwanziger Jahre an die Probleme der Medizin-Soziologie herangekommen war, wenn auch das Wort selber noch nicht auftrat, sondern ~die einschlägigen Pro bleme nur in der Auseinandersetzung von Psychologie, Psychophysiologie, Psychiatrie, Psychoanalyse, Soziologie und Sozialpsychologie aufgegriffen wurden. Wir möchten übrigens ergänzend hinzufügen, daß sich diese Entwicklung 'auch im Rahmen der Bevölkerungswissenschaft im weitesten Sinne vollzieht, wo die alte biologistisch begründete "Vitalstatistik" allmählich durch eine mehr sozio logisch und sozialpsychologisch ausgerichtete Statistik ersetzt wor,den ist. Früh schon zeigte Maurice Halbwachs die sozial-kulturell bedingte Verteilung von Alter und Geschlecht in einer Bevölkerung; das gleiche ließ sich auch von der Geburten- und Heil'atshäufigkeü, von der Sterblichkeit und schließlich von der Bevölkerungsvermehrung insgesamt aufweisen. Gerhard Mackenroth schloß im deutschen Sprachbereich an die gleiche Problemstellung an und prägte ·den sehr brauchbaren Ansdruck von der "Bevölkerungsweise", die ein historisch-relatives Strukturgesetz und keine "mit naturaler Notwendigkeit immer und überall ab laufende Kausalfolge" darstellt 12• Wenn wir das mit dem Vorhergehenden ver gleichen, ~so zeigt sich nicht nur eine konver,gente Entwicklung, sondern gleichzeitig ein immer engeres Heranrücken an einen Punkt, wo die naturwissenschaftliche Konzeption des menschlichen (Gattungs-) Individuums ersetzt wird durch den 6 Rene König Begriff der sozial-kulturellen Person. Da er auch im Bereich scheinbar rem "vitaler" Probleme anwendbar ist, wie die Forschung gezeigt hat, verschwinden mehr und mehr die Hemmungen, ihn auch in die Me·dizin zu übernehmen. Diese ganze Entwicklung ist also darum von entscheidender Bedeutung, weil sie neben das biologische Gattungsindividuum die sozial-kulturelle Person gestellt hat, die ja letzten Endes, wie oben angedeutet, das systemaüsche Ver bindungsglied zwischen Me.dizin und Soziologie darstellt, sowie beide sich der sozialen Wirklichkeit zuwenden und alle spekulativen Erörterungen über ihr gegenseitiges Verhältnis zurückstellen. Es ist übrigens erstaunlich zu sehen, daß Theodule Ribot, mit dem in Frankreich diese ganze Diskussion in der Psycholo.gie noch tief im 19. Jahrhundert beginnt, den beschriebenen Weg schon von Anfang an .deutlich vor sich gesehen hat. «Si la psychologie commence avec la biologie et la zoologie, elle a son efflorescence terminale dans la sociologie 13• » Das kann übrigens gleichzeitig im Sinne einer W·arnung gelesen werden, über der sozial kulturellen und psychosomatischen Seite des Problems die rein physiologische nicht zu vergessen. In diesem Sinne wies etwa Blonde[ mit Recht eine etwas übertriebene Annahme von Maurice Halbwachs zurück, die Aphasien seien nicht physiologisch, sondern ausschließlich sozialpsychologisch zu verstehen 14• Natür lich dürfen alle unsere Ausführungen nicht in dem Sinne verstanden werden, als wolle die Sozialpsychologie die physiologische Seite psychischer Erscheinungen weginterpretieren. Gegen eine solche Einstellung wehrte sich der Kliniker Blonde/ völlig zu Recht. Ohne irgendwie in rein medizinische Diskussionen ein greifen zu wollen, möchten wir uns in ·dieser Hinsicht an den programmatischen Titel eines Buches von Heinrich Meng "Psyche und Hormon" 15 anschließen, der - wie gesagt - nicht nur ein Postulat, sondern auch eine Warnung darstellen kann. Einzig in diesem Sinne führt der Weg in die Medizin-Soziologie über die Sozialpsychologie. Insofern diese Disziplin als empirisch-forschende Wissen schaft, wie man seit geraumer Zeit auch in den Vereinigten Staaten erkannt hat 16, ursprünglich in Frankreich entstanden ist, kommen auch die französischen Soziologen ·der Medizin-Soziologie ursprünglich am nächsten. Die weitere Ent wicklung von beiden - Sozialpsychologie und Medizin-Soziologie - verlagert sich dann nach Amerika, von wo seit mehr als drei Jahrzehnten die stärksten Anregungen in der Sozialpsychologie kommen und wo sich auch die Medizin Soziologie neuerdings am intensivsten entfaltet hat. Hierbei kam es dann bald zu einer Differenzierung des Ansatzes ·der Medizin Soziologie in zwei getrennte Zweige, nämlich - nach dem Vorschlag von Robert Straus17 - den der "sociology in medicine" und der "sociology of medicine". Während der in Frankreich erschlossene Weg den ersten Zweig umschreibt, die "sociology in medicine", hat die amerikanische Forschung mit dem zweiten Thema einen völlig neuartigen Weg beschritten, indem sie - nach den Worten Probleme der Medizin-Soziologie 7 von Helmut Schelsky 18 - bewirkt, daß "·die eine Disziplin als ganze zum Gegenstand der anderen wird". So richtig diese Definition ist, so können wir ihm doch darin nicht zustimmen, daß das allein als Soziologie der Medizin verstanden werden könne. Gewiß stellt es einen wesentlichen Teil des komplexen Ganzen unseres Wissenschaftszweiges dar, aber es ist weder der ursprünglichste, noch der wesentlichste Teil dieser Art von Forschung. Über,dies läßt sich mit Leichtigke,it zeigen, daß die gleiche Voraussetzung, wie sie der eigentlichen "sociology in me•dicine" zugrunde liegt, auch hier in Erscheinung tritt. Genau wie Gesundheit und Krankheit des Menschen sich in das Dreieck von Person -Kultur-Ges~ellschaft einfügen, das sich auf der biologischen Gegebenheit Mensch aufbaut, so ent scheidet sich auch die Ausgestaltung der Techniken zur Erhaltung der Gesund heit und zur Bekämpfung der Krankheit sowie die Funktion aller in deren Dienste stehender Personen und Institutionen aus der gleichen Voraussetzung. Wenn nicht auch der Arzt eine sozial-kulturelle Person darstellte, die z. B. an einem ganz bestimmten Ort des sozialen Klassensystems angesiedelt ist, d·ann könnte es nie zum Problem werden, wie er etwa di·e soziale Distanz überwinden soll, die ihn von der Majorität der Kranken trennt, die durchschnittlich aus weit unter ihm stehenden sozialen Klassen stammen. Es gibt also eine "Soziologie des Gesundheitswesens" (H. Schelshy), vor allem d.arum, weil das Gesundheits wesen mit seinen vielen scheinbar rein technisch bedingten Institutionen in Wahrheit den gleichen Gesetzen sozial-kultureller Konditionierung unterliegt wie das Verhalten der Menschen insgesamt in Gesundheit und Krankheit. Deut lich wird dies etwa im Krankenkassenwesen, ·das sich ursprünglich aus rein zweckmäßig bedingten sozialen Techniken entwickelte und mit der Zeit einen außerordentlichen Motivwandel durchmachte, wie weiter unten in diesem Heft gezeigt werden soll19• Jenseits dieser gemeinsamen Hintergründe stellen aber die beiden Zweige der "sociology in medicine" und der "sociology of medicine" in der Tat zwei deutlich voneinander unterschiedene Wissenschafts- und For schungszweige dar. Es muß jedoch zugestanden werden, daß sich diese beiden Zweig·e jeweils sehr verschieden darstellen, wenn ihnen der Soziologe unmittelbar und zum ersten Male begegnet. So wird es zweifellos viel einfacher und problemunbelasteter er scheinen, wenn sich der Soziologe an die Analyse der sozialen Struktur eines Krankenhauses oder des Kassen- und Versicherungswesens macht, weil er dabei der Medizin nicht als Wissenschaft, sondern nur in ihren institutionellen Aus wirkungen begegnet. Selbstverständlich ist es für das Verständnis solcher Er scheinungen wichtig zu wissen, daß es dabei um Gesundheit und Krankheit geht; aber nicht Gesundheit und Krankheit sind der Gegenstand der Untersuchung, sondern einzig die zu ihrem Schutze aufgebauten Institutionen. So möchten wir annehmen, daß in einem solchen Falle die Kompetenzfrage kaum jemals nach-

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