Tasos Zembylas Martin Niederauer Praktiken des Komponierens Soziologische, wissenstheoretische und musikwissenschaftliche Perspektiven Praktiken des Komponierens Tasos Zembylas • Martin Niederauer Praktiken des Komponierens Soziologische, wissenstheoretische und musikwissenschaftliche Perspektiven Tasos Zembylas Martin Niederauer Universität für Musik und Universität für Musik und darstellende Kunst Wien darstellende Kunst Wien Institut für Musiksoziologie Wien Institut für Musiksoziologie Wien Österreich Österreich Die Drucklegung wurde unterstützt vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien sowie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien I SBN 978-3-658-13507-2 IS B N 978-3-658-13508-9 (eBook) D OI 10.1007/978-3-658-13508-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Danksagung Diese Publikation sowie das zugrundeliegende Forschungsprojekt wären ohne die finanzielle Unterstützung des „Jubiläumsfonds der Stadt Wien“ (Projektnr. J 2/12) sowie des „Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ – FWF (Projektnr. P 27211-G22) nicht zu realisieren gewesen. Eine dritte För- derinstanz war die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, denn Andreas Holzer, Annegret Huber, Rosa Reitsamer und Tasos Zembylas sind Universitätsangestellte und erbrachten ihre Arbeitsleistung im Rahmen ihrer Dienstpflichten. Allen drei Organisationen gebührt eine gleichwertige Aner- kennung. Annegret Huber und Rosa Reitsamer konnten aufgrund anderer Ver- pflichtungen keinen Textbeitrag für diese Publikation vorbereiten. Als Mit- glieder des Projektteams haben sie sowohl bei der Methodenentwicklung und Datenerhebung als auch mit Bezug auf interpretative Fragestellungen vieles geleistet. Wir möchten an dieser Stelle unseren Dank für ihre fachliche Hilfe und kollegiale Unterstützung aussprechen. Den vielen KomponistInnen – und ganz besonders denjenigen der Fall- studien – möchten wir für ihr Interesse, den Zeitaufwand und ihr Vertrauen in unsere Arbeit herzlich danken: Helga Arias Parra, Katherine Balch, Marko Ci- ciliani, Renald Deppe, Christof Dienz, Karlheinz Essl, Viola Falb, Clemens Gadenstätter, Bernhard Gander, Matthew Gantt, Michael Kahr, Katharina Kle- ment, Alexandra Karastoyanova-Hermentin, Johannes Kretz, Hans Lassnig, Mikhail Malt, Veronika Mayer, Bertl Mütter, Javier Party, Christof Ressi, Ve- ronika Simor, Emiliano Sampaio, Kristoffer To, Marianna Tscharkwiani, Dan Tramte, Judith Unterpertinger, Nancy van de Vate, Judit Varga, Antoine Vil- ledieu, Joanna Wozny und Bärbel Zindler. Zudem möchten wir uns bei Nico- las Misdariis, Markus Noisternig und Adrien Mamou-Mani vom Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (Ircam) in Paris bedanken, die uns die Zusammenarbeit zwischen SoftwareentwicklerInnen, Komponis- tInnen und ToningenieurInnen näher gebracht haben. Florian Grote gab uns Hinweise über die Entwicklung und Herstellung von elektronischen Instru- menten. 6 Danksagung Zu danken ist auch weiteren KollegInnen, die uns im Rahmen von Work- shops und Gesprächen mit ihrem Rat und ihrer Kompetenz begleitet haben: Fritz Böhle, Sarah Chaker, Nicolas Donin, Michael Huber, Georg Hans Neu- weg, Tanja Paulitz, Katharina Rosenberger, Mihály Szivós, Alfred Smudits und Martin Winter. Ebenso soll an dieser Stelle die Hilfsbereitschaft und Unterstützung des Organisationsteams von „ManiFeste 2015“ am Ircam bei der Ermöglichung des Forschungsaufenthalts von Martin Niederauer Erwähnung finden. Inhaltsverzeichnis 7 Inhaltsverzeichnis Danksagung ..................................................................................................... 5(cid:3) Inhaltsverzeichnis ............................................................................................ 7(cid:3) Abbildungsverzeichnis .................................................................................... 9(cid:3) Einleitung ...................................................................................................... 11(cid:3) 1(cid:3) Topografie von Kompositionsprozessen ............................................... 23(cid:3) 1.1(cid:3) Rahmenbedingungen und Ressourcen .......................................... 26(cid:3) 1.2(cid:3) Peers und Non-Peers .................................................................... 33(cid:3) 1.3(cid:3) Materielle Gegenstände: Musikinstrumente, Computer und Schreibmaterialien ........................................................................ 49(cid:3) 1.4(cid:3) Immaterielle Gegenstände ............................................................ 60(cid:3) 2(cid:3) Die Prozesshaftigkeit des Komponierens .............................................. 75(cid:3) 2.1(cid:3) Erkunden – Verstehen – Werten – Tun ........................................ 79(cid:3) 2.2(cid:3) Die Einheit prozessimmanenter Aktivitäten ................................. 83(cid:3) 2.3(cid:3) Künstlerische Schaffensprozesse als zeitliche Verkettung von Handlungen .................................................................................. 96(cid:3) 3(cid:3) Die Orchestrierung verschiedener Wissensformen.............................. 101(cid:3) 3.1(cid:3) Manifestationsformen des künstlerisch-praktischen Wissens .... 104(cid:3) 3.2(cid:3) Die Zentralität des Lernens ........................................................ 117(cid:3) 3.3(cid:3) Wissensformen im Kompositionsprozess – eine interpretative Ordnung ...................................................................................... 122(cid:3) 4(cid:3) Musikwissenschaftliche Perspektiven auf den Kompositionsprozess . 133(cid:3) 4.1(cid:3) Perspektiven auf den Kompositionsprozess – ein historischer Abriss ......................................................................................... 135(cid:3) 4.2(cid:3) Aktuelle Beobachtungen zu den Konstituenten ............................... kompositorischer Praxis und deren Wechselbeziehungen .......... 150(cid:3) Erratum ......................................................................................................... E1 Literaturverzeichnis .................................................................................... 181 Abbildungsverzeichnis 9 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:(cid:3) Die Topografie von Kompositionsprozessen ....................... 24(cid:3) Abbildung 2:(cid:3) Aus dem Skizzenbuch von Clemens Gadenstätter zu „Le cris des lumières“ (© Clemens Gadenstätter 2014) ...... 59(cid:3) Abbildung 3:(cid:3) Die Verschränkung verschiedener Teilaktivitäten ............... 82(cid:3) Abbildung 4:(cid:3) Künstlerisch-praktische Wissensformen ............................ 123(cid:3) Abbildung 5:(cid:3) Allgemein-propositionale Wissensformen ......................... 123(cid:3) Abbildung 6:(cid:3) Notenbeispiel aus „some remains“, 1. System (© Edition Juliane Klein) ..................................................................... 166(cid:3) Abbildung 7:(cid:3) Aus den Skizzen von Joanna Wozny zu „some remains“ ....... (© Joanna Wozny 2014) .................................................... 168(cid:3) Abbildung 8:(cid:3) Benutzeroberfläche von Karlheinz Essls „Herbecks Versprechen“ (© Karlheinz Essl 2014) .............................. 172(cid:3) Abbildung 9:(cid:3) Abschnitt 1 von Karlheinz Essls „Herbecks Versprechen“ (Atmen – Sprudeln) (© Karlheinz Essl 2014) .................... 173(cid:3) Abbildung 10: Abschnitt 9 von Karlheinz Essls „Herbecks Versprechen“ (Singen – Orgeln) (© Karlheinz Essl 2014) ....................... 173(cid:3) Abbildung 11:(cid:3) Grafische Darstellung der sound files aus Marko ................... Cicilianis „LipsEarsAssNoseBoobs (Gloomy Sunday)“ ......... (© Marko Ciciliani 2014) ................................................... 178(cid:3) Abbildung 12:(cid:3) Beginn von Marko Cicilianis Werk „LipsEarsAssNose Boobs (Gloomy Sunday)“ (© Marko Ciciliani 2014) ........ 179(cid:3) Ausgangslage und Forschungsinteresse 11 Einleitung Zahlreiche zeitgenössische KomponistInnen beschreiben, analysieren und re- flektieren ihre Schaffensprozesse, um so der Öffentlichkeit ihre musikalische Arbeit zu vermitteln. Solche Selbstbetrachtungen sind zweifellos für Musikin- teressierte erhellend und für die Musikforschung wichtig – aber zugleich er- gänzungsbedürftig. Denn jede Selbstbeschreibung ist potenziell irrtumsanfäl- lig. Zudem können Selbstanalysen die Grenzen der eigenen Reflexion nicht überschreiten. „Blinde Flecken“ zeugen jedoch nicht unbedingt von mangeln- der Reflektiertheit, sondern weisen oft auf etwas hin, das unreflektierbar ist: mit anderen Worten auf etwas, das im Tun implizit ist. Der Fachbegriff dafür ist tacit knowing (dt. stummes Wissen oder stumm wissend). Diesem Thema geht vorliegende Publikation nach. Im Vordergrund stehen dabei weder ein- zelne KomponistInnen noch ihre Werke, sondern kompositorische Schaffens- prozesse. Die Selbstbeschreibungen der KomponistInnen beziehungsweise ihre Ich-Perspektiven werden durch eine soziologisch und wissenstheoretisch inspirierte Perspektive erweitert, um Inhalte herauszuarbeiten, die sonst im Hintergrund der situativen Aufmerksamkeit bleiben. Unser Interesse richtet sich weiter auf jene Komponenten und Bedingungen, die künstlerische Hand- lungsfähigkeit (agency) konstituieren. Mit diesem Erkenntnisinteresse wendet sich diese Publikation an interessierte Personen aus Soziologie, Musik- und Kunstwissenschaften, Musik- und Kreativitätspsychologie sowie an Kompo- nistInnen, Lehrende, Studierende wie auch KünstlerInnen allgemein, die künstlerisch-praktisches Wissen nicht bloß als Beiwerk ihrer Arbeit, sondern als genuines Produkt ihrer Praxis auffassen. Unsere Ausführungen verstehen sich über den konkreten empirischen Bereich hinaus auch als Bausteine zur Weiterentwicklung einer Soziologie künstlerischer Praktiken (vgl. Zembylas 1997, 2004, 2013, 2014a; Zembylas/Dürr 2009; Niederauer 2014). © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 T. Zembylas, M. Niederauer, Praktiken des Komponierens, DOI 10.1007/978-3-658-13508-9_1 12 Einleitung Ausgangslage und Forschungsinteresse Empirische Studien über künstlerische Schaffensprozesse sind der Gefahr aus- gesetzt, durch reduktionistische Abstraktionen der Partikularität und Vielfalt künstlerischer Praktiken nicht gerecht zu werden. Denn auf der einen Seite heben individualistische wie auch psychologische Erklärungsansätze persön- lichkeitsbezogene und kognitive Eigenschaften hervor, die ein kreatives Sub- jekt wesensmäßig charakterisieren sollen. Dadurch setzen manche Untersu- chungen das Genie-Narrativ des 18. Jahrhunderts unterschwellig fort. Auf der anderen Seite betonen manche soziologische Erklärungsansätze die zentrale Rolle von musikbetrieblichen Strukturen, von „gatekeeping“, von Traditionen, Diskursen oder Ideologien, um aus ihnen Wertungs- und Anerkennungspro- zesse zu erklären. Der eigentliche Schaffensprozess wird jedoch entweder als „black box“ oder als ein zu vernachlässigender Aspekt betrachtet. In dieser Publikation entwickeln wir einen anderen Zugang zur Erforschung von künst- lerischen Schaffensprozessen. Ausgangspunkt für unser Unternehmen ist folgende Position: Wir be- trachten künstlerische Praktiken im Zusammenhang mit verschiedenen, je- weils sehr konkreten Aufgabenstellungen und spartenspezifischen Herausfor- derungen. Eine Trennung zwischen künstlerischen Fähigkeiten und Zielvor- stellungen einerseits sowie materiellen und betrieblichen Bedingungen ander- seits mag aus analytischen Gründen sinnvoll sein. Aber diese Aspekte müssen stets in ihrem Zusammenwirken und ihrer Wechselbezüglichkeit betrachtet werden. Daher verstehen wir künstlerische Praktiken als sozial generierte und verteilte Handlungsweisen, die gesellschaftlich vorstrukturiert sind und eine praktische Gerichtetheit (um…zu) aufweisen. Zahlreiche partikuläre Hand- lungskontexte, unvorhersehbare Ereignisse und auch personengebundene Komponenten, die in ihrer Gesamtheit kaum fassbar und analysierbar sind, sorgen für die breite phänomenale Vielfalt und ständige Modifikation der künstlerischen Praxis. Somit ist Handlungsfähigkeit in all ihren Zügen sozial bedingt und basiert auf Partizipation und Anerkennung. Partizipation an einem Tätigkeitsfeld ermöglicht praxisgebundene Erfahrungen und praxisrelevantes Wissen. Beides ist für die Formation jener notwendigen Könnerschaft ent- scheidend, die es braucht, um in diesem Tätigkeitsfeld kompetent zu handeln und Anerkennung durch andere zu erlangen. Zugleich – und das muss hier unterstrichen werden – ist Handlungsfähigkeit zwar sozial geteilt, aber nicht unpersönlich oder anonym. Sie ist vielmehr an jene Personen gebunden, die