Martin Stempfhuber Elke Wagner Hrsg. Praktiken der Überwachten Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0 Praktiken der Überwachten Martin Stempfhuber · Elke Wagner (Hrsg.) Praktiken der Überwachten Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0 Hrsg. Martin Stempfhuber Elke Wagner Universität Würzburg Universität Würzburg Würzburg, Deutschland Würzburg, Deutschland ISBN 978-3-658-11718-4 ISBN 978-3-658-11719-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-11719-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. 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Verantwortlich im Verlag: Katrin Emmerich Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhaltsverzeichnis Einleitung .................................................... 1 Martin Stempfhuber und Elke Wagner Teil I Genealogie des Web 2.0 Indizieren – Die Politik der Unsichtbarkeit ........................ 17 Urs Stäheli The Virtual Sphere. The Internet as a Public Sphere ................ 43 Zizi Papacharissi Teil II Transformationen des Privaten Die Zurichtung des Privaten .................................... 63 Armin Nassehi Überwachung und die Digitalisierung der Lebensführung ........... 79 Jochen Steinbicker Autonomie und Kontrolle nach dem Ende der Privatsphäre .............................................. 97 Felix Stalder Verhaltenslehren der Kälte – private Kommunikation auf Facebook. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Niklas Barth Selfies als Prosopopeia des Bildes. Zur Praxis der Subjektkritik in Sozialen Medien ............................. 141 Ramón Reichert V VI Inhaltsverzeichnis Neue Trends im Strukturwandel der Privatheit ..................... 157 Martin Stempfhuber Teil III Transformationen des Öffentlichen Publicly Private and Privately Public: Social Networking on YouTube .................................. 183 Patricia G. Lange Kopierte Kommunikation ...................................... 207 Christian Schweyer Inverse Pathosformeln. Über Internet-Meme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Wolfgang Ullrich Intimisierte Öffentlichkeiten. Zur Erzeugung von Publika auf Facebook ...................................... 243 Elke Wagner Einleitung Martin Stempfhuber und Elke Wagner Die Internetrevolution hat den Alltag, das Wissen und den Umgang mit Daten von „Privatpersonen“ auf nicht vorhersehbare Weise verändert. Nicht nur wissen wir alles, was wir über die Gesellschaft wissen, über die Massenmedien; was die Gesellschaft über uns wissen kann, findet sie scheinbar mühelos im Web 2.0. Eine frühere Phase des Umgangs mit Wissen und Daten im Internet hat ein berühmter Cartoon im New Yorker treffend auf den Punkt gebracht: „On the Internet, nobody knows you’re a dog“ (1993). Spätestens seit Edward Snowdens Veröffent- lichung der scheinbar grenzenlosen staatlichen Möglichkeiten der Sammlung von privaten Daten und Überwachung von privaten Kommunikationen, die das Web 2.0 überhaupt erst konstituieren, hat sich die Debatte zum Internet aber grund- legend verschoben. Wie gehen staatliche Institutionen und kommerzielle Akteure, wie Google, Facebook und Co. mit privaten Daten um? Diese Frage stand und steht im Mittelpunkt zahlloser Diskussionen um die staatliche und kommerzielle Nutzung privater Daten und die Konsequenzen der Auswertungen von Big Data. So berechtigt und wichtig diese Diskussionen sind – sie scheinen in weiten Teilen dennoch vorbei zu blicken an den individuellen Nutzungspraktiken der User. Auffällig bei diesen Diskussionen ist, dass sie häufig aus der Perspektive der bedrohten privaten User argumentieren, seltener aber die Frage stellen, wie die User empirisch diese Debatten beobachten und auf sie reagieren. Diese Frage wiederum mag zunächst naiv erscheinen angesichts der Macht der Überwachungs-Maschinerie. M. Stempfhuber (*) · E. Wagner Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Wagner E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 1 M. Stempfhuber und E. Wagner (Hrsg.), Praktiken der Überwachten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-11719-1_1 2 M. Stempfhuber und E. Wagner Eine von den Cultural Studies inspirierte Herangehensweise würde zu schnell Gefahr laufen, die Kreativität und Widerspenstigkeit der Nutzer zu entdecken und überzu- betonen. Was im Folgenden aber versucht wird, ist, diese beiden Diskurs-Positionen nicht dichotomisch gegeneinander auszuspielen; die folgenden Aufsätze ver- suchen, den Fokus auf die Nutzerpraktiken zu legen, ohne eine starke Dichotomie zu konstruieren, die die Macht der Medien der Kreativität der Nutzer gegenüber- stellt. Bei der Beobachtung und empirischen Analyse konkreter Nutzer-Praktiken müsste man beides in den Blick nehmen: einerseits die medialen Affordanzen, andererseits die womöglich durchaus widerspenstigen Nutzungspraktiken der User. Unsere Vermutung ist, dass sich empirisch zeigen lassen muss, wie sich Praktiken und mediale Affordanzen vermitteln. Uns geht es also nicht darum, allein von einem starken Medienbegriff und einem medialen a priori auszugehen; und uns geht es auch nicht darum, die emanzipatorischen Nutzungspraktiken von Usern zu feiern. Worum es uns geht, ist die konkrete Beobachtung von medialen Vermittlungsverhältnissen. Dies soll bereits der Titel des Bandes verdeutlichen: Die Praktiken der Überwachten. Es wird der Versuch unternommen, die Über- wachten nicht vor-empirisch als Cultural Dopes oder widerspenstige, subversive Akteure zu designieren. Ohne Diagnosen des Strukturwandels von Öffentlich- keit und Privatheit, Beobachtungen, der neuen Qualität von Big Data, der Omni- präsenz digitaler Speichermedien und neuer Überwachungsmöglichkeiten zu leugnen, müssen sich deren Effekte in den Praktiken der Überwachten selbst ablesen lassen. Trotz der Notwendigkeit der datenschutzrechtlichen und persönlichkeitsrecht- lichen Diskussion muss die Frage also auch soziologisch-empirisch gewendet wenden: Wie gehen die individuellen User praktisch mit den medialen und kom- merziell geprägten Vorgaben des Web 2.0 um? Wie gehen konkrete User empi- risch damit um, dass sie wissen können, dass sie in ihrer Kommunikation im Web 2.0 Daten produzieren, die wiederum Wissen über sie selbst produzieren? Der vorliegende Sammelband möchte diese Fragestellung aus unterschiedlichen empi- rischen Perspektiven näher beleuchten. Die forschungsleitende These des Sammelbandes ist, dass die Genese von Öffentlichkeit und Privatheit sich spezifischen, empirisch nachvollziehbaren Herstellungspraktiken verdankt, die jeweils an mediale Bedingungen gekoppelt sind. Diese Ausgangsthese schließt einerseits an eine soziologisch fundierte Tradition in der Erforschung der Hervorbringung von öffentlichen und priva- ten Räumen an und erprobt andererseits ihre in historischen Analysen bewährte Überzeugungskraft für eine empirische Rekonstruktion gegenwärtiger Medien- kontexte. Betrachtet man Habermas Öffentlichkeitskonzept, so ist die Entstehung Einleitung 3 bürgerlicher Publika nicht nur an die Privatheit der bürgerlichen Kleinfamilie gebunden, sondern auch an Medien – und zwar gerade nicht nur an Zeitungen, sondern auch an Romane, Briefe und Tagebücher, die im 18. Jahrhundert eine veränderte Plausibilität der (öffentlichen) Rede vermitteln. Über den Austausch von Gelesenem im privaten Salon entsteht eine vernünftige Rede, die sich an Argumenten und dem Austausch von besser begründeten Meinungen orientiert und schließlich nicht nur die private Leseerfahrung, sondern auch das Politische nach seinen Gründen befragt. Über die Verschriftlichung von Gefühlen in B riefen für den räumlich entfernten Leser werden zudem Semantiken für das Emotionale ausgebildet und eine spezifische Gefühlslage eingeübt: die bürgerliche Empfind- samkeit (Koschorke 1999), die zur Formulierung jenes Wertes dient, der die Zivilgesellschaft begründen soll – der einer allgemein gültigen Humanität (vgl. Habermas 1962/1990). Man kann hieraus ablesen, dass sich die Konstellation von Öffentlichkeit und Privatheit auch über Medien herstellt, die zur Erzeugung von Öffentlichkeit genutzt werden. Dieser Zusammenhang von medialen Bedingungen und der Genese und Transformation von Öffentlichkeit und Privat- heit, den Jürgen Habermas und Albrecht Koschorke für die bürgerliche Gesell- schaft formuliert haben, nimmt der Sammelband für die Analyse der aktuellen Herstellung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit im Internet auf. Die Forschungsperspektive des Sammelbandes möchte diese Hinweise auf die Veränderung von Inhalten durch neue mediale Formen insofern ernst nehmen, als sie nach den medialen Einschreibungen in die aktuellen Veränderungen von Öffentlichkeit und Privatheit fragt. Medien werden dabei nicht allein im Hinblick auf Medien-Institutionen begriffen. Sie werden vielmehr in einem kulturwissen- schaftlichen Sinn als symbolischer und technischer Generator zur Herstellung von Bedeutungsgehalten verstanden. Aus Marshall McLuhans Zuspitzung, dass das Medium die Message ist (McLuhan 1964/1994, S. 9) lässt sich für die Sozio- logie zumindest die Fragestellung ableiten, ob und wenn ja wie mediale Über- tragungsverhältnisse etwas produzieren können, dass es so vorher noch nicht gegeben hat: Ändert sich tatsächlich etwas an der Praxis des Öffentlichen und des Privaten durch den Einsatz von Medien, lässt sich anhand einer empirischen Perspektive fragen. Lässt man sich auf diese Perspektive ein, so kann es nicht um „Ö ffentlichkeit“ und „Privatheit“ als ontologische Seins-Bereiche gehen, sondern um die H erstellung von Öffentlichkeit, die Herstellung von Privatheit und die Herstellung der Unterscheidung/Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit. Ist es die Macht der Medien? Sind es die kreativen Nutzer? Wie wird die Konstellation von Öffentlich- keit und Privatheit empirisch-praktisch erzeugt? Einige Autoren dieses Bandes haben ihre Befunde in Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 4 M. Stempfhuber und E. Wagner geförderten Forschungsprojektes „Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0“ (WA 3374/2-1 und STE 2244/2-1) genau auf diese Frage hin erzielt. Das Forschungs- projekt erprobte eben diesen Fokus auf die Herstellung von Öffentlichkeit und Privatheit als programmatischen Zugang zur Erforschung von Nutzerpraktiken im Web 2.0. Seine Ausgangsfrage zielte darauf ab, wie sich am Beispiel der derzeit in der Nutzung zentralen Social Networking Sites (SNSs) wie Facebook, Gayromeo.de und Patientenfragen.net die praktische Herstellung von Öffentlichkeit und Privat- heit unter veränderten medialen Bedingungen transformiert. Der Schwerpunkt des Projektes richtete sich auf grundsätzlich drei Themenfelder. Erstens wurde eine empirische Analyse von Schreibpraktiken in Social Network Sites unternommen: welche Schreibpraktiken werden sichtbar und wie stellt sich dadurch eine neue Form der Herstellung von Publika ein? Zweitens wurden die hierbei erzielten empirischen Befunde nicht isoliert betrachtet, sondern zeitdiagnostisch eingebettet und an den soziologischen Diskurs angeschlossen: Inwiefern tragen veränderte mediale Bedingungen zu einer neuartigen Fassung von Öffentlichkeit und Privat- heit bei? Was folgt aus der empirischen Analyse des Projektes für die Soziologie der Öffentlichkeit und der Privatheit? Und schließlich ging es darum, einen Beitrag für die vorwiegend kulturwissenschaftlich verankerte Medientheorie zu leisten und diese durch empirische Befunde zu hinterfragen. Unser Projekt startete als eine ethnografische Analyse des Forschungsfeldes. Heuristisch wurde der Feldzugang dabei zunächst in zwei Richtungen unter- nommen. In einer Richtung wurde die Erzeugung von Öffentlichkeit in Rahmun- gen, die traditionell eher als privat oder privatistisch gedeutet wurden, in den Blick genommen. In einer ethnografischen Immersion in die Kommunikations- kontexte von Facebook (siehe den Beitrag von Wagner in diesem Band) und Planetromeo (ehemals: Gayromeo) und in Interviews mit darüber akquirierten Informanten wurde gezielt nach möglichen Politisierungen von privater Nut- zung von SNSs oder auffälligen Veröffentlichungsstrategien gesucht. In einer entgegengesetzten Richtung haben wir uns der Herstellung von Privatheit in einem (wiederum: traditionell) eher öffentlich gefassten Rahmen gewidmet. Hier wurde zunächst die Intensivierung und Intimisierung von Beziehungen – von Paarbeziehungen auf Dating-Seiten (Planetromeo und Grindr), aber auch von Beziehungen und Freundschaften auf Facebook (siehe den Beitrag von Barth in diesem Band) – fokussiert, die durch die Darstellung der eigenen Person und durch Kommunikation vor einem zunächst noch unbestimmten Publikum erfolgte. Unser Forschungsplan ging von der Vermutung aus, dass es ergiebig sein könnte, diese beiden Teilbereiche ständig aufeinander zu beziehen und sich gegen- seitig erhellen zu lassen. Diese Intention hat sich im Verlauf der Datenerhebung
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