Ulf Bohmann · Stefanie Börner Diana Lindner · Jörg Oberthür André Stiegler Hrsg. Praktiken der Selbstbestimmung Zwischen subjektivem Anspruch und institutionellem Funktionserfordernis Praktiken der Selbstbestimmung Ulf Bohmann · Stefanie Börner Diana Lindner · Jörg Oberthür André Stiegler (Hrsg.) Praktiken der Selbstbestimmung Zwischen subjektivem Anspruch und institutionellem Funktionserfordernis Herausgeber Ulf Bohmann Jörg Oberthür Friedrich-Schiller-Universität Jena Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland Jena, Deutschland Stefanie Börner André Stiegler Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Friedrich-Schiller-Universität Jena Halle (Saale), Deutschland Jena, Deutschland Diana Lindner Friedrich-Schiller-Universität Jena Jena, Deutschland ISBN 978-3-658-14986-4 ISBN 978-3-658-14987-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-14987-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. 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Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Katrin Emmerich Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist Teil von Springer Nature Die eingetragene Gesellschaft ist Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Vorwort von Hartmut Rosa Der Anspruch, über sein Leben und Handeln selbst zu bestimmen, sich Hand- lungsweisen nicht vorschreiben und Entscheidungen nicht einfach abnehmen zu lassen, ist ohne Zweifel ein kulturelles und strukturelles Kernmerkmal moder- ner Gesellschaft. Autonomie im Sinne solcher ‚Selbstbestimmung‘ ist in gleich vierfacher Hinsicht ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der normativen Ver- fassung ebenso wie der institutionellen Funktionsweise der Moderne als sozialer Formation. Zum ersten ist Autonomie ein zentrales theoretisches Konzept, ohne das sich moderne Subjekt- und Bewusstseinstheorien ebenso wenig wie neuzeit- liche Politik- und Gesellschaftsverständnisse begreifen lassen. Zum zweiten aber fundiert Autonomie als historisch konkretisierbarer normativer Anspruch gegen- über politischen und religiösen Autoritäten und ständischen Abhängigkeiten das insbesondere in der europäischen Aufklärung Gestalt annehmende kulturelle Projekt der Moderne, wie es etwa Jürgen Habermas oder Charles Taylor heraus- gearbeitet haben (Habermas 1988; Taylor 1994; Rosa 2010). Zum dritten zeigt sie sich als unmittelbarer lebenspraktischer Anspruch im Alltagshandeln moder- ner Subjekte auf nahezu allen Ebenen sozialer Interaktion – etwa dort, wo Kin- der es ablehnen, die Firma ihrer Eltern zu übernehmen, weil sie über ihr Leben selbst bestimmen wollen, wo die Idee eines Veggie-Days der GRÜNEN vehement zurückgewiesen wird mit dem Argument, die mündige Bürgerin entscheide selbst darüber, was auf den Teller kommt, oder dort, wo Versicherungen und Fast-Food- Ketten Klienten bzw. Kunden mit dem Argument zu werben versuchen, bei ihnen könnten jeder selbst über passende Tarife oder das Dressing zum Salat entschei- den. Darin kommt bereits zum Ausdruck, dass die Fähigkeit zur eigenverant- wortlichen Entscheidung und Handlung nicht einfach nur ein individueller oder politischer Anspruch, sondern viertens eben auch ein institutionelles Funktionser- fordernis ist: Ohne Subjekte, die selbst darüber entscheiden, was sie kaufen wol- len und können, auf welchen Job sie sich bewerben, wie sie wenigstens einige V VI Vorwort von Hartmut Rosa Abläufe ihrer Erwerbstätigkeit strukturieren, welche Partei sie wählen wollen oder welchen Telefontarif sie buchen, können weder Supermärkte noch Arbeits- agenturen oder Bildungsinstitutionen, weder die Einrichtungen der politischen Demokratie noch die des Gesundheitswesens und erst recht nicht die komplexen ökonomischen Produktionssysteme operieren. Sieht man indessen genauer hin, offenbart sich rasch, dass sich zwischen diesen vier Elementen oder Dimensionen des Autonomiegedankens erhebli- che Widersprüche und Spannungen ergeben. Selbstbestimmung wird etwa dann schon konzeptuell zu einem spannungsreichen, ja widersprüchlichen Anspruch, wenn er zwischen individueller und kollektiver Bestimmung der Lebensverhält- nisse einerseits und zwischen enger Wahl- und umfassender Gestaltungsfreiheit andererseits oszilliert. Insbesondere stellt sich dabei die Frage nach dem Ver- hältnis zwischen den subjektiven Ansprüchen auf Autonomie und den institutio- nellen (Funktions-)Anforderungen nach autonomem Handeln und Verantworten. Denn selbstredend ist es keineswegs ausgemacht, dass diese in den institutio- nellen Handlungspraktiken konvergieren oder sich auch nur überlappen. Mit anderen Worten: Es ist leicht denkbar, ja wahrscheinlich, dass die ‚Eigenverant- wortung‘, welche den Subjekten institutionell zugemutet und abverlangt wird, und deren Selbstbestimmungswünsche oder -sehnsüchte auseinanderfallen. Aus dem geteilten Interesse daran, der Bewältigung dieser Spannungen und Wider- sprüche in der alltäglichen Praxis der handelnden Akteure mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung auf den Grund zu gehen, sind am Arbeitsbereich Allgemeine und Theoretische Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena drei getrennte, aber komplementär angelegte empirische Forschungsprojekte entstanden, die aus drei unterschiedlichen Perspektiven den bezeichneten Phäno- menbereich in den Blick nehmen und das Verhältnis von subjektiven Ansprüchen und institutionellen Anforderungen an den kardinalen sozialen Schnittstellen von Arbeit und Wohlfahrt, Wissenschaft und Bildung, Politik und Demokratie unter- suchen. Dabei handelt es sich um das von der DFG geförderte Projekt „Hand- lungsautonomie in der Spätmoderne – subjektiver Anspruch, institutionelle Basis und strukturelle Dynamik einer normativen Leitidee“, um das in Kooperation mit Henning Laux, Universität Bremen, durchgeführte und ebenfalls von der DFG geförderte Projekt „Desynchronisierte Gesellschaft? Politische Herausforderun- gen an den Schnittstellen des Sozialen“, und schließlich um das in Zusammen- arbeit mit Vera King, Universität Hamburg, und Benigna Gerisch, International Psychoanalytic University Berlin, bearbeitete Projekt „Aporien der Perfektionie- rung in der Beschleunigungsgesellschaft“, das von der Volkswagen-Stiftung als eines der Schlüsselthemen in Wissenschaft und Gesellschaft gefördert wird. Forschungsergebnisse und Erkenntnisse aus allen drei Projekten sind in diesen Vorwort von Hartmut Rosa VII Band eingeflossen, um im Verein mit den hier zusätzlich versammelten Bei- trägen aus einer Reihe weiterer Untersuchungen an anderen Universitäten ein möglichst umfassendes Bild vom gegenwärtigen Zustand und den Entwicklungs- tendenzen des ‚Autonomie-Impulses‘ im Kontext institutioneller und subjektiver Selbstbestimmungspraktiken zu zeichnen. Unser Dank gilt an dieser Stelle allen BeiträgerInnen und ebenso natürlich den diese Forschungen ermöglichenden Ins- titutionen, namentlich der DFG und der Volkswagen-Stiftung. Im Ergebnis, so machen die hier versammelten Beiträge deutlich, lassen sich sowohl die institutionellen Konflikte und Entwicklungstendenzen der Gegenwart als auch die Veränderungen in den Selbstkonzepten und Subjektivierungsprakti- ken der Akteure als Resultate des fortwährenden Spannungsverhältnisses zwi- schen institutionellen Autonomieanforderungen an die Subjekte und subjektiven Autonomieansprüchen an die Institutionen deuten. In den jeweils zur Verfügung stehenden Handlungsspielräumen werden die Widersprüche ausgetragen und im besten Falle so bewältigt und verarbeitet, dass daraus funktionierende Instituti- onen und stabile Selbstverhältnisse hervorgehen können. Es zeigt sich freilich auch, dass dieser Ausgleich vielerorts nur (noch) mühsam und manchmal gar nicht (mehr) gelingt, sodass sich durchaus Züge einer ‚Autonomiekrise‘ identifizieren lassen, die sich etwa dort offenbaren, wo die Aufrechterhaltung des Betriebs in den wissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen Institutionen nur mittels des eigensinnigen Agierens der Akteure gegen die Steigerungszumutungen der Organisationen geleistet werden kann und wo das Pochen auf subjektive Selbst- bestimmung tendenziell zu einer Pathologisierung oder Bestrafung der Subjekte durch die institutionellen Akteure führt. Die so beschreibbaren Institutionenkrisen und Legitimitätskrisen lassen sich als die beiden komplementären Facetten einer spätmodernen ‚Autonomiekrise‘ identifizieren. In den sozialtheoretischen Deu- tungen der Spätmoderne wurde sie etwa in Beobachtungen einer fortschreitenden, paradoxen „Befreiung aus der Mündigkeit“ (Honneth 2003) oder einer ebenso paradoxen Synergie zwischen emanzipatorischen feministischen Bewegungen und fortschreitender neoliberaler Ökonomisierung (Fraser 2013) bereits seit geraumer Zeit hypostasiert. In diesem Band aber, so unsere Hoffnung, werden die inhä- rente soziale Dynamik konfligierender Autonomieimpulse und die resultierenden Bewältigungsstrategien zum ersten Mal empirisch und an den konkreten institutio- nellen Handlungsfeldern spätmoderner Gesellschaften sichtbar gemacht. Wir ver- sprechen uns davon, sowohl die theoretische Diskussion als auch die empirische Analyse des Autonomiekonzeptes nachhaltig befruchten zu können. Jena Hartmut Rosa im November 2016 VIII Vorwort von Hartmut Rosa Literatur Fraser, N. (2013): Fortunes of Feminism. From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis, London: Verso. Habermas, J. (1988): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frank- furt am Main: Suhrkamp. Honneth, A. (Hrsg.) (2003): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt am Main und New York: Campus Rosa, H. (2010): Autonomieerwartung und Authentizitätsanspruch. Das Versprechen der Aufklärung und die Orientierungskrise der Gegenwart. In: O. Breidbach, H. Rosa (Hrsg.), Laboratorium Aufklärung (199–215) München: Fink. Taylor, C. (1994): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Inhaltsverzeichnis Teil I Arbeit & Wohlfahrt Sinnvolle Arbeit unter Druck? Markterfordernisse, Widerständigkeit und die Verteidigung von Handlungsautonomie im Gesundheitssektor ............................................. 3 Friedericke Hardering Paradoxien der Selbstbestimmung. Überlegungen zur Analyse zeitgenössischer Subjektivität ............................ 25 Niklas Petersen Relationale Autonomie und Sozialpolitik – eine Soziologie der Kritik .................................................... 57 Claudia Globisch Teil II Demokratie & Politik Demokratie bewältigen. Politische Akteure zwischen Repräsentationsanforderungen und Gestaltungsautonomie .......... 91 Jenni Brichzin Autonomie in der Postdemokratie. Politische Selbstbestimmung unter den Bedingungen der Ökonomisierung ...................... 115 Claudia Ritzi IX X Inhaltsverzeichnis Teil III Wissenschaft & Bildung Leistungsbewertung als Identitätsbedrohung? Wie ProfessorInnen Evaluationen erfahren können .................................. 137 Uwe Schimank Wissenschaft und Autonomie: Wissenschaftliche Identitätspolitik auf dem Prüfstand partizipativer Wissensproduktion ............... 161 Stefan Böschen Erschöpfte Selbst-Bildungen .................................... 189 Robert Wartmann Teil IV Fazit/Ausblick Von Sinnschmarotzern und widerwilligen Wirten: Institutionskrisen und subjektive Anpassungsmuster unter spätmodernen Ökonomisierungsbedingungen ................. 217 Ulf Bohmann und Diana Lindner Autonomie in der Krise? ....................................... 237 Stefanie Börner, Jörg Oberthür und André Stiegler