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Politische Soziologie: Ein Studienbuch PDF

494 Pages·2009·3.294 MB·German
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Viktoria Kaina · Andrea Römmele (Hrsg.) Politische Soziologie Viktoria Kaina Andrea Römmele (Hrsg.) Politische Soziologie Ein Studienbuch Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1.Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2009 Lektorat:Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15049-9 Inhaltsverzeichnis Einleitung Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal – Eine kurze Geschichte von Identitätssuche und Selbstbehauptung............................................................................................7 (Andrea Römmele und Viktoria Kaina) Politische Kultur...............................................................................................................................17 (Oscar W. Gabriel) Politische Legitimität........................................................................................................................53 (Daniela Braun und Hermann Schmitt) Ideologien..........................................................................................................................................83 (Kai Arzheimer) Werte- und Wertewandelforschung.............................................................................................109 (Christian Welzel) Politische Partizipation..................................................................................................................141 (Jan van Deth) Soziale Partizipation und Soziales Kapital..................................................................................163 (Siegrid Roßteutscher) Wahlsoziologie................................................................................................................................181 (Harald Schoen) Einführung in das Forschungsfeld der Politischen Kommunikation......................................209 (Sarah Bastgen, Kim Jucknat und Andrea Römmele) 6 Inhaltsverzeichnis Politische Parteien als Gegenstand der Politischen Soziologie.................................................235 (Uwe Jun) Verbändeforschung........................................................................................................................267 (Annette Zimmer und Rudolph Speth) Parlamentssoziologie.....................................................................................................................311 (Werner J. Patzelt) Bürokratieforschung.......................................................................................................................353 (Dieter Grunow) Eliteforschung.................................................................................................................................385 (Viktoria Kaina) Die Datengrundlage der Politischen Soziologie in Forschung und Lehre..............................421 (Silke I. Keil) Methoden zur Datenanalyse.........................................................................................................447 (Manuela Pötschke) Vergleichende Politische Soziologie: Quantitative Analyse- oder qualitative Fallstudiendesigns?........................................................................................................................481 (Bernhard Ebbinghaus) Verzeichnis der Autoren................................................................................................................503 Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal – Eine kurze Geschichte von Identitätssuche und Selbstbe- hauptung Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal Viktoria Kaina und Andrea Römmele 1 Was ist Politische Soziologie und womit beschäftigt sie sich? Politische Soziologie analysiert Politik im Wirkungszusammenhang der Gesellschaft. Das heißt, sie interessiert sich einerseits für die gesellschaftlichen Bedingungen von Politik und an- dererseits für die Wirkungen von Politik auf die Gesellschaft. Diese Vorstellung über den Er- kenntnishorizont der Politischen Soziologie wurde von Theo Schiller (1997: 413) in einem von Arno Mohr herausgegebenen Band über die Grundzüge der Politikwissenschaft formu- liert. Ganz ähnlich sieht Franz Urban Pappi (2002: 396) das Hauptarbeitsgebiet der Politi- schen Soziologie darin, die Beziehungen zwischen Politik und Gesellschaft anhand von drei zentralen Problemstellungen zu untersuchen: (cid:2) als Problem der gesellschaftlichen Bedingungen politischen Verhaltens und politischer Ordnungen, (cid:2) als Problem der Einwirkungen der Politik auf die Gesellschaft und (cid:2) als Problem der Struktur von politischen Institutionen und des Ablaufs politischer Prozesse. Die meisten Forscher, die sich im Lehr- und Forschungsfeld der Politischen Soziologie be- wegen, dürften dieser Begriffsbestimmung kaum widersprechen. Allerdings werden sie – wie wohl übrigens auch Schiller und Pappi selbst – hinzufügen, dass es mit einer so allge- meinen Erklärung keinesfalls getan ist. Der Bedingungs- und Wirkungszusammenhang von Politik und Gesellschaft ist viel zu komplex und vielschichtig, als dass sich mit dieser ersten Annäherung verstehen oder gar vermitteln ließe, womit sich Politische Soziologie beschäf- tigt, zu welchem Zweck und wie sie das tut. Aber wie so oft werden die Dinge umso komplizierter, je mehr wir ihnen auf den Grund gehen wollen. So verhält es sich auch mit dem Versuch, Ort und Gegenstand, The- menkanon und Schlüsselkonzepte der Politischen Soziologie zu bestimmen. Darüber wur- den und werden nicht nur ganze Bücher geschrieben (z.B. Stammer/Weingart 1972; Röhrich 1977; Ebbighausen 1981; Lenk 1982; und jüngeren Datums: Faulks 1999; Böhnisch 2006; Kißler 2007). Zyklisch wiederkehrende Debatten über das Selbstverständnis der Politischen Soziologie als Wissenschaftsdisziplin belegen zudem zweierlei: erstens, das wiederkehrende Bedürfnis nach Identitätsfindung und Selbstvergewisserung in einer sich fortwährend wan- 8 Viktoria Kaina und Andrea Römmele delnden Wissenschaftswelt; und zweitens, die anhaltenden Verständigungsschwierigkeiten und Auffassungsdifferenzen innerhalb einer Disziplin, die sich Soziologen und Politikwis- senschaftler mal in friedlicher Koexistenz teilen, mal in eifersüchtigen Abgrenzungsversu- chen für sich allein zu reklamieren versuchen (u.a. Alemann 1998; Meuser 2003; Bach 2004; Borchert 2004). Die Herausgeberinnen dieses Studienbuches haben ihren akademischen „Heimatha- fen“ in der Politikwissenschaft. Mit den Autoren dieses Bandes, zu denen neben Politikwis- senschaftlern auch Soziologen gehören, teilen sie aber ihre Freude an disziplinären Grenz- gängen und ihr Interesse an Forschungsfragen, die sich einer eindeutigen Zuordnung ent- weder zur Politikwissenschaft oder zur Soziologie entziehen. Die gemeinsame Antriebs- kraft, auf die sich die breite Themenpalette der klassischen und modernen Politischen Sozio- logie zurückführen lässt, bleibt dennoch die Frage nach den gesellschaftlichen Vorausset- zungen und Folgen von Politik, genauer: die Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen und Konsequenzen politischer Herrschaft und Macht „unter den Anforderungen von Demo- kratie“ (Kißler 2007: 15). Politische Soziologie lässt sich daher auch als Demokratiewissenschaft charakterisieren (Stammer/Weingart 1972: 24; Ebbighausen 1981: 9; Bach 2004: 22ff; Borchert 2004: 29; Kißler 2007: 15). Ihr typisch kritisches Potenzial gewinnt sie aus ihrem spezifischen Anliegen, durch wissenschaftliche Erkenntnissuche Widersprüche zwischen dem normati- ven Anspruch von Demokratie und der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Wirk- lichkeit politischen Handelns aufzudecken (Kißler 2007: 35). Die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen demokratischem Anspruch und politischer Realität veranlasste bereits vor mehr als hundert Jahren zu den ersten For- schungsarbeiten, deren Autoren heute zu den Begründern der modernen Politischen Sozio- logie gezählt werden (Ebbighausen 1981: 21f). Dazu gehören Moisei Ostrogorski, der offen- bar der Erfinder der Bezeichnung „Politische Soziologie“ ist (Ebbighausen 1981: 16), und Robert Michels. Ihre Untersuchungen, in denen sie die Oligarchisierung und Bürokratisie- rung der entstehenden Massenparteien einer kritischen Analyse unterzogen, begründeten die Soziologie der politischen Parteien. Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca werden demge- genüber als „Väter“ der Elitensoziologie gewürdigt. Und Max Weber gilt vielen als das Schwergewicht der modernen Politischen Soziologie. Seine Arbeiten inspirieren bis in die Gegenwart den Erkenntnisdrang einer Politischen Soziologie, die sich im Kern als eine Macht- und Herrschaftssoziologie im Spannungsverhältnis zwischen dem demokratischen Gleichheitspostulat auf der einen und den Folgen sozialer Ungleichheit für demokratische Politik- und Interessenvermittlung auf der anderen Seite (Kißler, 2007: 248; ähnlich Borchert 2004: 29) zu definieren versucht. Widersprüche zwischen dem demokratischen Ideal und der politischen Wirklichkeit durch systematische, theoriegeleitete und empirisch fundierte Erkenntnissuche aufzudecken sollte eigentlich ein Dauerbrenner sozialwissenschaftlicher Lehre und Forschung sein. Das hat zum einen damit zu tun, dass wir Ideale brauchen, um Tatsachen in Frage zu stellen und Wirklichkeit kritisch zu beurteilen (Sartori 1997: 77ff). Doch Wirklichkeit und Ideal werden einander stets Widerstand leisten. Deshalb muss die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen (demokratischen) Anspruch und (politischer) Realität immer wieder neu gestellt werden. Zum anderen rückte der Zusammenbruch der realsozialistischen Herrschaftsalter- native mit den Systemumbrüchen in Mittel- und Osteuropa zu Beginn der 1990er Jahre die Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal 9 Defizite, Strukturprobleme und Leistungsschwächen der als etabliert geltenden demokrati- schen politischen Systeme in ein neues Licht der öffentlichen und akademischen Aufmerk- samkeit. Viele Forscher fragen sich seither in verstärktem Maße: Was sind eigentlich „gute“ Demokratien und wodurch unterscheiden sie sich von „schlechten“ demokratischen politi- schen Systemen (z.B. Beetham 1994, 2004; Diamond/Morlino 2004; Lauth 2004, 2006; Mül- ler/Pickel 2007; Bühlmann et al. 2008; Kaina 2008)? Auch diese Erkenntnisperspektive dreht sich im Kern um die konfliktanfällige Beziehung von (demokratischem) Ideal und (politi- scher) Realität, deren inhärente Widersprüche durch neue Herausforderungen wie die Glo- balisierung und Europäisierung weiter zugespitzt werden. Und doch: während alles dafür spricht, dass die zentralen Fragen der Politischen Soziologie niemals „altmodisch“ werden und wir auch nicht damit rechnen sollten, dass dazu irgendwann einmal alles gesagt sein wird, ist der Stellenwert der Politischen Soziologie innerhalb der deutschen Politikwissen- schaft strittig. 2 Auf unsicherem Stand – Politische Soziologie im Themenkanon der Politikwissenschaft in Deutschland Im Wintersemester 2005/2006 studierten an deutschen Universitäten laut Angaben des Sta- tistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2007 insgesamt 29490 junge Frauen und Männer das Fach Politikwissenschaft bei 339 Professorinnen und Professoren (Stand: 2005). Und nach einer Zählung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) finden sich an insgesamt 103 Universitäten in Deutschland 70 Fachbereiche und Untergliederungen, an denen Politikwissenschaft unter einer mal dünneren, mal dickeren Personaldecke gelehrt wird (Schüttemeyer 2007: 169). In Übereinstimmung mit den meisten anderen westeuropäi- schen Ländern und den Empfehlungen europäischer Fachvereinigungen für Politikwissen- schaft werden in Deutschland sieben Sub-Disziplinen als notwendige Komponenten des politikwissenschaftlichen Lehr- und Forschungscurriculums betrachtet (Klingemann 2007: 27f; Klingemann 2008: 374):1 (cid:2) Politische Theorie und Ideengeschichte (cid:2) Politisches System des eigenen Landes und der Europäischen Union (cid:2) Öffentliche Verwaltung und Policy-Analyse (cid:2) Politische Ökonomie und Politische Soziologie (cid:2) Vergleichende Politikwissenschaft (cid:2) Internationale Beziehungen (cid:2) Methoden, einschließlich Statistik2 1 Zu den beiden wichtigsten Fachvereinigungen für Politikwissenschaft auf europäischer Ebene zählen, erstens, das 1970 gegründete ECPR (European Consortium for Political Research) mit gegenwärtig 325 europäischen und assoziier- ten Mitgliedsinstitutionen in über 40 Ländern von Neuseeland bis Japan; und zweitens epsnet (European Political Science Network), das sich vor allem mit Fragen der politikwissenschaftlichen Lehre und universitären Ausbildung befasst und bislang hinter der Bedeutung des ECPR zurückgeblieben ist. 2 In manchen neuaufgelegten Einführungslehrbüchern in die Politikwissenschaft, die den Studierenden als Handrei- chung und Orientierungshilfe dienen sollen, werden auch heute noch lediglich drei Teildisziplinen der Politikwissen- 10 Viktoria Kaina und Andrea Römmele Danach scheint die Politische Soziologie ein unumstrittener Bestandteil politikwissenschaft- licher Forschung und Lehre. Zumindest legt das die jüngste Bestandsaufnahme der Politik- wissenschaft als Wissenschaftsdisziplin in Deutschland und Westeuropa nahe (Klingemann 2007, 2008; Schüttemeyer 2007). Ungeachtet dessen und obwohl sich die Relevanz und Bri- sanz der Politischen Soziologie mühelos begründen lässt, wird man in deutschen Universi- tätsbibliotheken in der Abteilung „Politikwissenschaft“ aktuelle deutschsprachige Lehr- und Einführungsbücher zur Politischen Soziologie vergeblich suchen. Die letzten Werke dieser Art, die von Politikwissenschaftlern verfasst wurden, stammen vom Beginn der 1980er Jah- re, sind inzwischen also mehr als fünfundzwanzig Jahre alt und haben nunmehr antiquari- schen Wert. Will man die Zahl an aktuellen Lehrbüchern als einen Maßstab für Selbstver- ständlichkeit und Selbstbewusstsein einer Wissenschaftsdisziplin gelten lassen, so scheint der vermeintliche Dauerbrenner Politische Soziologie in den vergangenen beiden Jahrzehn- ten an Strahlkraft eingebüßt zu haben und manchen Sozialwissenschaftlern nur noch das „Relikt längst vergangener Zeiten“ (Borchert 2004: 28). Über die Gründe dieses eigentümlichen Widerspruchs lässt sich freilich nur spekulie- ren. Eine Ursache könnte darin zu suchen sein, dass die Politische Soziologie noch immer auf der Suche nach ihrem wissenschaftlichen Standort und ihrem eigenen, unverwechselba- ren Profil ist (Kißler 2007: 247). Noch zu Beginn der 1970er Jahre behauptete Otto Stammer, ein ebenso selbstbewusster wie wichtiger Vertreter der Politischen Soziologie in Deutsch- land, dass sich die Politische Soziologie als eigenständige Disziplin „neben der Politikwis- senschaft“ (!) entwickelt und etabliert hat (Stammer/Weingart 1972: 15). Doch offenbar hat Stammer die Entwicklungsdynamik und Integrationsfähigkeit von Soziologie und Politik- wissenschaft unterschätzt. Vielleicht würde er sich heute sogar verwundert die Augen rei- ben, wenn manche Politikwissenschaftler die Politische Soziologie von der Politikwissen- schaft gewissermaßen einverlebt sehen, weil Erstere für Letztere irgendwie immer und überall eine Rolle spielt und die Politische Soziologie deshalb als selbständiges Themenfeld der Politikwissenschaft „nicht mehr zu retten“ ist (Alemann 1998: 13). Anderen mag diese Auffassung angesichts der wachsenden Spezialisierung, Fragmentierung und Hybridisie- rung (Klingemann 2007: 28) der Sozialwissenschaften zwar etwas weltfremd anmuten. Der Punkt ist aber, dass solche Ansichten wenigstens zum Teil eine Folgeerscheinung anhalten- der Profilsuche und fortdauernder Identitätskämpfe innerhalb einer sich zunehmend ar- beitsteilig organisierenden Fachwissenschaft sind (vgl. auch King/Marian 2008). Die wach- sende Ausdifferenzierung der Politikwissenschaft, deren Sub-Gebiete zum Teil auch immer vehementer um die Anerkennung als eigenständige Disziplin ringen, entwickelt somit zent- rifugale Tendenzen (Klingemann 2007: 18, 2008: 374), die innerhalb der Politikwissenschaft nicht nur zu Anpassungsleistungen in der Identitätskonzeption als Wissenschaftsdisziplin zwingen. Begleiterscheinung dieser Entwicklung sind auch recht handfeste Interessenkon- flikte zwischen Vertretern der Teildisziplinen der Politikwissenschaft. Ein wachsender „Ver- ertungsdruck“ auf die wissenschaftliche Erkenntnissuche (Carrier 2006: 11) nötigt Wissen- schaftler nämlich nicht nur zur fortlaufenden Rechtfertigung der eigenen Forschungspers- schaft benannt, nämlich (Vergleichende) Regierungslehre, Politische Philosophie und Ideengeschichte sowie Internati- onale Beziehungen (z.B. Bellers/Kipke 2006: 18). Diese Darstellung stammt jedoch aus der Mottenkiste der Disziplinge- schichte und ist nicht mehr „up to date“, wie empirisch unterfütterte Bestandsaufnahmen der Politikwissenschaft als Lehr- und Forschungsdisziplin belegen (u.a. Newton/Vallès 1991; Quermonne 1996; Klingemann 2007, 2008) Politische Soziologie und der leere Platz im Buchregal 11 pektiven. Als Folge dessen sind auch längst die disziplinären Schützengräben ausgehoben, um materielle und personelle Ressourcen in den chronisch unterfinanzierten deutschen Hochschulen zu verteidigen. Ein anderer Grund für die schwierige Selbstbehauptung der Politischen Soziologie als Sub-Disziplin der Politikwissenschaft in Deutschland sind wiederkehrende Konjunkturzyk- len für bestimmte Themen und Paradigmenwechsel in der Fachdisziplin. Damit sind in der Regel eine Neuausrichtung in den Erkenntnisperspektiven der Forscher und ein Prioritä- tenwechsel in der universitären Ausbildung im Fach Politikwissenschaft verknüpft. Noch bis Anfang der 1980er Jahre konnte die Politische Soziologie in Deutschland von einem solchen Schwung profitieren, als die Welle des Behaviorismus („Verhaltenswissenschaft“), die in den 1960er und 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten ihren Ausgangspunkt nahm, endgültig nach Europa schwappte. Die traditionell normativ ausgerichtete sowie staats- und institutionenfixierte Politikwissenschaft im Deutschland der Nachkriegszeit wurde nun um eine Erkenntnisperspektive bereichert, die das politische Verhalten (Behaviorismus) von Bürgern und politischen Akteuren, dessen Voraussetzungen und Folgen für demokratische Politik- und Interessenvermittlung sowie für allgemeinverbindliche Entscheidungsfindung ins Zentrum rückte. Damit begann zudem der Siegeszug der quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung, die der Politischen Soziologie als praktisch orientierter Demo- kratiewissenschaft ein wichtiges und heute dominierendes Handwerkszeug für ihren wis- senschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit bereit stellte. Als Nachwehe der neo-institutionalistischen „Wende“ in der Politikwissenschaft seit den 1980er Jahren sieht sich der Behaviorismus seiner zeitweiligen Dominanz inzwischen beraubt (u.a. March/Olsen 1984; Koelble 1995; Hall/Taylor 1996; Immergut 1998; Kaiser 1997, 2001; Peters 1999, 2005). In Deutschland war das mit einem neu erwachenden Interesse an der Funktionstüchtigkeit und Eigenlogik von Institutionen, den Steuerungsfähigkeiten des Staates und den Inhalten von Politik (policy) sowie den veränderten Voraussetzungen und Folgen von Regierungstätigkeit (Stichwort: Governance) verknüpft. Im Zuge dieser Neuori- entierung, die sich zudem auf alte Traditionsbestände in der Entwicklungsgeschichte der Politikwissenschaft in Deutschland stützen konnte, gerieten die Forschungsfragen und Er- kenntnisperspektiven der Politischen Soziologie zumindest vorerst in den Hintergrund. Forciert wird diese Entwicklung auch durch den bereits erwähnten „Verwertungsdruck“ wissenschaftlicher Forschung. Denn damit wird ein „technisches“, vornehmlich an der Lö- sung funktioneller Probleme (des Regierens) ausgerichtetes Erkenntnisinteresse zu Lasten eines „emanzipatorischen“ Erkenntnisinteresses, wie es in den zentralen Forschungsfragen der Politischen Soziologie angelegt ist, tendenziell privilegiert.3 Doch wie die Wissenschaftsgeschichte lehrt, sind Paradigmen bei aller Beharrlichkeit doch vergänglich (Kuhn 1976). Und die Herausforderungen, denen sich die demokratischen politischen Systeme am Übergang zum 21. Jahrhundert gegenüber sehen, lassen eine Re- naissance der Politischen Soziologie und eine Neuaufwertung ihrer Relevanz in der deut- schen Politikwissenschaft erwarten. Dafür sprechen noch zwei weitere Gründe: erstens, die zunehmend globale Vernetzung auch der politikwissenschaftlichen Lehr- und Forschungs- landschaft, in der die Politische Soziologie einen angestammten Platz hat. Zweitens stellt 3 Zu den unterschiedlichen Arten politikwissenschaftlicher Erkenntnissuche siehe Naßmacher (2004: 5).

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