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Politische Soziologie PDF

137 Pages·1981·3.072 MB·German
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Tom Bottomore Politische Soziologie Aus dem Englischen von Hendrik Muller und Michael Schmitt-Rousselle Verlag W. Kohlhammer Stuttgart Berlin Koln Mainz CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bottomore, Thomas Burton: Politische Soziologie / Tom Bottomore. Aus d. Eng!. von Hendrik Muller u. Michael Schmitt-Rousselle. - Stuttgart; Berlin; K61n ; Mainz : Kohlhammer, 1981. Einheitssacht.: Political sociology (dt.) ISBN-13: 978-3-531-11452-1 e-ISBN-13: 978-3-322-85084-3 DOl: 10.1007/978-3-322-85084-3 Die englische Originalausgabe erschien 1979 im Verlag Hutchinson & Co. (Publishers) Ltd, London unter dem Titel "Political Sociology« Alle Rechte vorbehalten © 1979 Tom Bottomore fur die deutsche Ausgabe: © 1981 Verlag W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Berlin K61n Mainz Verlagsort: Stuttgart Umschlag: hace Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH +Co. Stuttgart Inhalt Einleitung ............ . 7 Demokratie und soziale Klassen 19 2 Soziale Bewegungen, Parteien und politisches Handeln 37 3 TypenpolitischerSysteme ....... . 53 4 Politische Veranderungen und Konflikte 71 5 Die Entstehung neuer Nationen: Nationalismus und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 89 6 Weltpolitikim zwanzigsten Ja hrhundert 103 Anmerkungen 119 Bibliographie 133 Personen-und Sachregister 138 Einleitung Die Politische Soziologie befaBt sich mit der Macht in ihrem sozialen Kontext. Unter »Macht« wird hier die Fahigkeit eines Individuums oder einer sozialen Gruppe verstanden, eine bestimmte Handlungsweise (Ent scheidungen zu treffen und auszufiihren oder, allgemeiner formuliert, den Ablauf der Entscheidungsfindung zu bestimmen) wenn notig auch gegen die Interessen und sogar gegen die Opposition anderer Individuen und Gruppen zu verfolgen. Diese Bestimmung beabsichtigt jedoch nicht, eine vollstandige und zureichende Definition des Machtbegriffs zu geben, son dem bedeutet nur die vorlaufige Abgrenzung eines Forschungsgebietes. Innerhalb einzelner politischer Theorien gibt es verschiedene Begriffe von Macht1*, und deshalb sollen im Verlauf dieses Buches einige der begriffli chen Hauptschwierigkeiten bei der Konstruktion solcher Theorien einge hender untersucht werden. Zusatzlich zu den Fragen, die sich beziiglich des zentralen Begriffs der »Macht« ergeben konnen, stellen sich noch weitere hinsichtlich solcher verwandter Begriffe wie »Autoritat«, »Ein fluB«, »Zwang« und »Gewalt«, welche ebenfalls im Kontext einzelner theoretischer Entwiirfe befragt werden miissen. Da Macht in dem von mir angezeigten weiteren Sinne offensichtlich ein wesentliches Element in den meisten, wenn nicht allen sozialen Beziehun gen - der Familie, religiosen Vereinigungen, Universitaten, Gewerkschaf ten usw. - bildet, ist es wichtig, diese umfassendere Betrachtungsweise des Feldes politischer Untersuchungen im Auge zu behalten. Hauptgegen stande der Politischen Soziologie jedoch waren und sollten sein: das Pha nomen der Macht auf der Ebene der geschlossenen Gesellschaft (mag sie nun einen Stamm, einen Nationalstaat, ein Weltreich oder ein anderes System darstellen), die Beziehungen zwischen solchen Gesellschaften und femer die sozialen Bewegungen, Organisationen und Institutionen, die direkt an der Bestimmung dieser Macht beteiligt sind. In diesem Bereich namlich erscheint Macht in ihrer reinsten, ausgepragtesten Form, und nur von diesem iibergeordneten Gesichtspunkt aus konnen ihre Manifesta tionen in anderen Bereichen und Formen erst richtig verstanden werden. Es ist meiner Ansicht nach unmoglich, zwischen Politischer Soziologie unci I'oIitikwlssensdi.aft irgendeine theoretisclie Onterscheidung zu tref fen, die von Bedeutung ware. Bestenfalls diirften sich dabei Verschieden heiten ergeben, die entweder aus traditionellen Vorgegebenheiten oder aus einer zweckdienlichen Arbeitsteilung resultieren. Ais Beispiel dafiir sei das besondere Interesse erwahnt, das Politologen an dem bekundet haben, " Die Anrnerkungen zu jedern Kapitel find en sich auf den Seiten 119 ff. 7 was man als »Regierungsmaschinerie« bezeichnen konnte, deren Prozesse der Gesetzgebung und Rechtssprechung und deren Verwaltungsapparate von ihnen bis zu einem gewissen Grad vom sozialen Kontext isoliert betrachtet und hauptsachlich auf deskriptive Art und Weise behandelt wurden. Was aber dagegen gehalten werden konnte ist die T atsache, daB die moderne Politikwissenschaft (d. h. etwas von der Politischen Soziolo gie nicht zu Unterscheidendes) ihre charakteristische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert der Einfiihrung einer klaren Unterscheidung zwi schen dem »Politischen« und dem »Sozialen«, der Konstitution von »Ge sellschaft« als Gegenstand systematischer Untersuchung und der konse quenten Reflexion auf die Beziehung zwischen dem politischen und sozia len Leben verdankt.2 Urspriinglich kam diese Unterscheidung durch die Gegeniiberstellung von »biirgerlicher Gesellschaft« und "Staat« zustande und erfuhr dann in den Werken von Saint-Simon und denen der Enzyklopadisten, in den Arbeiten der schottischen Philosophen und Historiker, insbesondere in Adam Fergusons »Essay on the History of Civil Society«, und Hegels Schriften zur Rechts- und Staatsphilosophie ihre verschiedenen Auspra gungen. Ihren klassischen Ausdruck fand sie dann schlieBlich in Marxens Aussage iiber das seiner Gesellschaftstheorie zugrunde liegende Prinzip:3 Meine Untersuchung miindete in dem Ergebnis, daB Rechtsverhaltnisse wie Staats formen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemei nen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhaltnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Englander und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen »biirgerliche Gesellschaft« zusammenfaBt, daB aber die Anatomie der biirgerlichen Gesellschaft in der politis chen Okonomie zu suchen sei. Diese neue Konzeption von Politik entwickelte sich zusammen mit dem Auftreten eines neuen Typs der Gesellschaft, namlich dem des modernen Kapitalismus, in dem das Produktionssystem eine weitaus groBere Macht und Unabhangigkeit als in anderen Gesellschaften erlangte. So wurde die partielle Gleichsetzung von »biirgerlicher Gesellschaft« und »Bourgeoi sie« moglich, erkannte man die fundamentale Bedeutung der politis chen Okonomie als einer »politischen« Wissenschaft und ertaBte a[s zentrales Problem der damaligen Zeit die Beziehung zwischen l'roduktionssphare, Eigentum und Arbeitskraften auf der einen und organisierter poIltischer nacht - dem Staat - auf der anderen Seite. Diese Vorgegebenheiten und der Kontext, in dem sie auftraten, wurden von Hegel in seiner Rechtsphi losophie klar zum Ausdruck gebracht, wenn er an einer Stelle sagt, daB »die Schopfung der biirgerlichen Gesellschaft der modernen WeIt ange hort« (§ 182 Anm.), und an einer anderen die biirgerliche Gesellschaft hinsichtlich des okonomischen Modells eines freien Marktes definiert, in welchem die Verbindung ihrer Mitglieder »durch ihre Bediirfnisse und durch die Rechtsverfassung als Mittel der Sicherheit der Personen und des 8 Eigentums und durch eine auBerliche Ordnung fur ihre besonderen und gemeinsamen Interessen« (§ 157) zustande kommt.4 Aus der Sicht Hegels wirft die burgerliche GeseHschaft eine Reihe von Problemen auf, die der Staat zu losen hat; vor aHem das Problem des Zusammenhangs des Wachs turns von Wohlstand und Armut und die Probleme der sozialen Polarisa tion und des sozialen Konflikts, die ersteres hervorrufen. Es ist nun leicht zu verstehen, wie bedeutsam diese VorsteIlungen fur die Entwicklung der Marxschen Theorie waren. Die Hegelschen Gedanken transformierend lehnt Marx namlich gerade jene Idee ab, der Staat sei ein ubergeordnetes Allgemeines, in dem die Widerspriiche der biirgerlichen Gesellschaft aufgehoben werden konnten. Marx vertritt demgegeniiber genau umgekehrt eine Abhangigkeit des Staates von jenen Widerspriichen innerhalb der kapitalistischen i>roduktionsweise, d. h. etne Abhangig,keit vom Konflikt der beiden Klassen der Bourgeoisie und des Proletanats, welche jene widerspruchIlchen Aspekte der Gesellschah verkorpern. Der Staat wird dementsprechend als ein abhangiges Element In einem umfas senden Gesellschaftsprozefi verstanden, dessen hauptsachlichste Beweg krafte aus einer besonderen Produktionsweise entspringen. Es gibt jedoch noch eine weitere Variante politischen Denkens, die das Verhaltnis zwischen biirgerlicher Gesellschaft und Staat von einer neuen Perspektive aus betrachtet und demzufolge eine andersgeartete Version der Politischen Soziologie darstellt. Einen ersten Ausdruck dieses alterna tiven Ansatzes findet man in Tocqueville's »Neuer Wissenschaft der Poli tik fiir eine neue Welt«5, einer WissenschaIt. die sicn mit cler Entwicklun,g der Demokratie und der Entstehun~ einer (im Kontrast zum ancien regi me) »modernen« GeseIlschaft in Frankreich, England und Amerika be schaftigte. Das spezifische Merkmal von TocqueviIle's Konzeption ITegt in etwa darin, dafi er, anders als Marx, bei der Beobachtung der beiden revolutionaren Tendenzen des 18. Jahrhunderts, die eine »neue Welt« hervorbrachten, - der demokratischen und der industriellen Revolution -, mehr Aufmerksamkeit der ersteren schenkte und ihr bei der Gestaltung der modernen Gesellschaften eine grofiere Bedeutung zumafi. Denn unge achtet aller Urspriinge der demokratischen Bewegung schienen ihm ihre Folgen klar: Ihre Haupttendenz wiirde sein, soziale Gleichheit durch die Abschaffung erblicher Standesunterschiede herzusteIlen und aIle Berufe, Vergiitungen und Ehren jedem Mitglied der GeseIlschaft zuganglich zu machen. Diese Entwicklungsrichtung fiihrte seiner Ansicht nach sowohl positive als auch negative Aspekte mit sich. Eine demokratische Regie rung wiirde wahrscheinlich ihre Aktivitaten auf das Wohlergehen der grofitmoglichen AnzahI von Biirgern konzentrieren und eine liberale, ge mafiigte und wohlgeordnete Gesellschaft etablieren. Andererseits konnte das Streben nach sozialer Gleichheit, Tocqueville zufoIge »ein unstillbares Verlangen«, mit der Freiheit des Einzelnen in Konflikt geraten. Ersteres wiirde wahrscheinlich in diesem Widerstreit die Oberhand gewinnen und im Extremfall zu einer »Gleichheit in Ketten« tendieren. 9 Tocqueville iibersah zwar nicht die Beziehungen zwischen demokratischer Bewegung und industriellem Kapitalismus, wie man besonders an seiner Analyse der Revolutionen von 1848 sehen kann6, schrieb jedoch - da er vor allem an einem Vergleich zwischen Amerika und Frankreich interessiert war - einer demokratischen Regierungsform, die von geographischen Ver haltnissen, Gesetzen und Traditionen beeinfluBt wird und deshalb in ver schiedenen Gesellschaften unterschiedliche Entwicklungsstadien durch lauft, eine eigenstandige Wirksamkeit bei der Bestimmung des allgemeinen Zustandes des sozialen Lebens zu. Spater wurde dieser Gedanke von der Autonomie der Politik - dann jedoch schon in bewuBterem Gegensatz zum Marxismus - von vielen Denkern weiter ausgearbeitet und entwickelte sich allmahlich zu einem der Hauptpole der politischen Theorie am Ende des 19. Jahrhunderts. In einer seiner Auspragungen stellt dieser Gedanke einen charakteristischen Zug der PoIitischelL5oziologie von Max Weber dar, was besonders bei seiner Beschreibung der Konzentration von Admi nistrationsmitteln oHenkundig wird, die er der Konzentration von Pro duktionsmitteTn an die Seite stellt und aIs zumindest genauso bedeutsam betrachtet. Des weiteren ganz allgemein bei seiner Hauptbeschaftigung mIt der Rolle des Nationalstaates und dem unabhangigen EinfluB der verschiedensten politischen Richtungen - insbesondere der sozialistischen Bewegung - auf die nationale Politik. Wie Robert Nisbet bemerkt hat, liegt bei Weber »eine Tocqueville sehr verwandte Geistesart«7 vor. Haupt sachlich aber ein ahnlicher, vielleicht noch entschiedenerer Pessimismus bei seiner Einschatzung der Zukunftschancen der individuellen Freiheit in Gesellschaften, die nicht so sehr von einem Verlangen nach Gleichheit (obwohl dies ebenfalls eine Rolle spielt), sondern vor allem von Rationali sierungszwangen beherrscht werden. Die Bedeutung eigenstandiger politischer Krafte wurde jedoch auch in anderen Theorien, die eine direktere Konfrontation mit dem Marxismus darstellen, namlich in den von Mosca und noch kompromiBloser von Pareto formulierten Elitetheorien betont. Mosca stellt fest:8 U nter den bestandigen Tatsachen und Tendenzen des Staatslebens liegt eine auf der Hand: In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den fortgeschrittensten und machtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrsch~_ wrd. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht aile politischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genieBt deren Vorteile, wahrend die zweite, zahlreichere Klasse von der ersten befehligt und geleitet wird. Diese Leitung ist mehr oder weniger gesetzlich, mehr oder weniger willkiirlich oder gewaltsam ... Pareto entwickelte eine Version dieser Theorie, in der die Herrschaft von Eliten als ein universales, unwandelbares und unabanderliches Faktum des gesellschaftlichen Lebens dargestellt wurde und dessen Bestehen auf psy chologischen Differenzen zwischen den einzelnen Menschen beruhen sollte.9 Mosca dagegen schrankte seine anfanglichen Auffassungen durch das Zugestandnis ein, daB sich moglicherweise unter dem EinfluB ver- 10 schiedener »gesellschaftlicher Krafte«, welche die groBe Anzahl von un terschiedlichen Interessen in der Gesellschaft verkorpern sollten1o, ge schichtliche Veranderungen im Aufbau von Eliten und im Verhaltnis zwi schen Herrschenden und Beherrschten ergeben konnten. Jedes dieser beiden von mir hier kurz skizzierten Denkschemata laBt sich auch in einer extremen Form darstellen, worum sich, nebenbei gesagt, auch viele Kritiker bemiiht haben. Es wird dann der Versuch unternom men, daraus entweder die These einermehr oder weniger totalen Autono mie der Politik oder die These ihrer mehr oder weniger vollstandigen Abhangigkeit von anderen gesellschaftlichen Kraften, insbesondere von solchen aus der okonomischen Sphare, abzuleiten. Dementsprechend ar gumentiert Karl Popper in seinem Buch >Die offene Gesellschaft und ihre Feinde<, die marxistische Gesellschaftstheorie impliziere das »Unvermo gen einer jeglichen Politik«, da das politische System einer bestimmten Gesellschaft und seine Transformation durch nicht-politische Faktoren determiniert sei. In spateren Publikationen wurde dann diese Ansicht immer wieder in den verschiedensten Formen wiederholt. Auf der ande ren Seite wurden die Elitetheorien dahingehend interpretiert, als wiirden sie die Behauptung aufstellen, es gabe - unbeeinfluBt von der Verschieden heit der okonomischen und sozialen Umstande - eine fundamentale Ahn lichkeit zwischen den politischen Systemen aller Gesellschaften, die ent weder aus der universell vorhandenen Ungleichheit der Lage einer organi sierten Minderheit und einer unorganisierten Mehrheit oder aus einer generellen Gleichformigkeit der menschlichen Natur und der ungleichma Bigen Verteilung geistiger Anlagen resultiert. Zum groBten Teil jedoch wurden diese Ansichten auf beiden Seiten trotz vieler Einschrankungen und Modifikationen weitervertreten, was dazu fiihren muBte, das fundamentale Problem der Relation zwischen dem »Politischen« und dem »Sozialen« auf eine umfassendere Art und Weise anzugehen, mdem man wechselseitige Einfliisse und historische Abwei chungen mit in die Betrachtung einbezog. Trotzdem bleibt diese Relation emer der Brennpunkte der Auseinandersetzung, in der die marxistische Theorie (ungeachtet ihrer inneren Vielgestaltigkeit und der unlangst von einigen ihrer Theoretiker vorgenommenen Neubewertungen der Rolle des Staates) allgemein solchen Theorien gegeniibersteht, die sich mehr mit den reinen Auswirkungen politischer Institutionen - mit Parteiensystemen oder Regierungs- bzw. Verwaltungsformen - befassen oder das politische Leben mehr im Hinblick auf nationale Gemeinschaften als auf gesell schaftliche Klassen untersuchen. Dies ist aber nicht der einzige Hauptpunkt, der AnlaB zu entgegengesetzten theoretischen Entwiirfen gegeben hat. In der Politischen Soziologie der letzten Jahrzehnte bestand ein allgemeiner Gegensatz zwischen denjenigen Wissenschaftlern, die ihr Augenmerk hauptsachlich auf die Funktionsme chanismen von bestehenden politischen Institutionen richteten, indem sie diese als eines der Elemente in einem Gesellschaftssystem betrachteten, 11 welche zu einem Gleichgewichtszustand hin tendieren, und denjenigen Wissenschaftlern, die sich vor allem auf die Kdifte konzentrierten, die dazu tendieren, Instabilitat und Veranderungsmoglichkeiten hervorzurufen. Die erste Konzeption steht mit der funktion:ilistischen Theorie in engstem Zusammenhang, die in der sozi010gie besonders wahrend der SOer Jahre sehr einfluBreich war und ein Bild der Gesellschaft als eines integrierten Systems vertnittelte, das durch die komplementaren Beziehungen seiner verschiedenen EIemente oder Subsysteme untereinander aufrecht erhalten wird, und letztlich auf einer Reihe gemeinsamer Wertvorstellungen ba siert. Innerhalb dieser Modellvorstellung kam dann der Begriff der »stabi len Demokratien« auf, und es war ebenfalls dieses allgemeine Modell, welches zu einem groBen Teil die Diskussion iiber »Entwicklung« und »Modernisierung« pragte, unter denen weithin ein ProzeB verstanden wurde, in dem Agrargesellschaften sich schrittweise den Lebensbedingun gen, Wertsystemen und Institutionen der heutigen Industriegesellschaften angleichen wiirden. Dieser Standpunkt wird z. B. nachdriicklich von Sa muel P. Huntington in seinem Buch >Political Order in Changing Socie ties< vertreten. Er geht von der Annahme aus, daB »der wichtigste politi sche Unterschied zwischen verschiedenen Staaten ... ihre Regierungsver haltnisse betrifft« und gelangt zu einer Unterscheidung zwischen Staa ten, »deren politische Verfassung Konsensus, Gemeinschaftlichkeit, Legi timitat, Organisation und Stabilitat beinhaltet«, und Landern, denen diese Eigenschaften fehlen, anstelle davon jedoch Merkmale wie intensive Ras sen- und Klassenkonflikte, Aufruhren, Massengewalt und eine Parteien zersplitterung aufweisen. Auf diese Weise wird Stabilitat zum hochsten politischen Wert hochstilisiert, wovon die von den demokratischen Indu striegesellschaften verfolgte Politik ein augenfalliges Beispielliefert. Diese politischen Leitvorstellungen haben jedoch seit dem Wiederaufle ben akuter politischer Konflikte in den Industriegesellschaften wahrend der 60er Jahre und seit den beginnenden Anzeichen okonomischer und politischer Krisen, die noch immer kein Ende erkennen lassen, viel von ihrer Oberzeugungskraft eingebiiBt. Als Folge davon gab es eine markante Erneuerung des Interesses an einem vor allem yom Marxismus inspirier ten Alternativmodell. Es geht davon aus, daB gewisse Spannungen, Wider spriiche und Konflikte in allen Gesellschaftssystemen existieren, und es betrachtet die Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilitat nur als eine partielle und temporare (wenn auch in historischer Hinsicht nicht not wendigerweise kurzlebige) Losung der verschiedenen Antagonismen. Ein wei teres Charakteristikum dieses Modells ist, daB es bei der Schaffung und Umgestaltung einer besonderen Gesellschaftsform der Anwendung von Gewalt einen groBeren Stellenwert einraumt als der Verpflichtung gegeniiber »allgemeinen Wertvorstellungen«. Diese und das kulturelle Sy stem, dem sie sich mitteilen, konnen namlich in diesem Rahmen groBten teils so betrachtet werden, als seien sie durch die Ausiibung »symbolischer Gewalt« 11, nicht aber durch einen ungezwungenen geistigen Verstandi- 12

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