FACHFORUM A N A LY S E N & KO M M E N TA R E ❘ N° 1 2007 Politik der Teilhabe Ein soziologischer Beipackzettel Peter Bartelheimer A N A L Y S E N K O M M E N T A R E PPRROOJJEEKKTT GESELLSCHAFTLIACRBHEITES PIIANNPIETTR EENGG° 1RR / AA20TT0II7OONN 1 Forum Berlin FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 11 0066..0066..22000077 1144::4488::3311 UUhhrr FACHFORUM A N A LY S E N & KO M M E N TA R E Mit dem Projekt Gesellschaftliche Integration bearbeitet die Friedrich-Ebert- Stiftung die großen politischen Herausforderungen, die im Zuge des gegenwär- tigen Umbruchs in unserer Gesellschaft entstehen. Dazu gehören Fragen des Strukturwandels der Arbeitswelt und der demografi schen Entwicklung oder der Pluralisierung der Lebensformen. Besonders fokussiert wer- den die neuen Spannungsfelder sozialer Ungleichheit, die zu gravierenden Konf- likten führen können und die Gefahr einer dauerhaft „gespaltenen Gesellschaft“ bergen. Im Zentrum steht deshalb die Frage, wie der gesellschaftliche Zusammen- halt gestärkt werden kann und welche Reformimpulse und Handlungsperspektiven dazu erforderlich sind. Das Fachforum als eine tragende Säule des Projekts zielt darauf, die politische und wissenschaftliche Debatte im kritischen Diskurs aufzubereiten und mit neuen Sicht- weisen anzuregen. Auf diese Weise soll auch die Arbeit am Armuts- und Reich- tumsbericht der Bundesrepublik analytisch begleitet werden. Das Fachforum basiert auf zwei Kommunikationsformen: In den Fachgesprächen diskutieren Wissenschaftler/innen und Politiker/innen ausgewählte Fragestellungen und Problemfelder wie Armut und soziale Ausgrenzung. Impressum: In der vorliegenden Publikationsreihe Arbeitspapiere werden profi lierte A na - Herausgegeben von der lysen und Kommentare aus Wissenschaft und Politik zu kontrovers diskutierten Friedrich-Ebert-Stiftung Themen gesellschaftspolitischer Integration vorgestellt: sozialwissenschaftliche Kon- Forum Berlin zepte der Teilhabe, Forschungen zum Phänomen der verdeckten Armut oder zur Franziska Richter ungleichen Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland. Begriffe und Hiroshimastr. 17 unterschiedliche Konzepte sollen geklärt und in einen übergreifenden Zusammen- 10785 Berlin hang eingeordnet werden. Ziel ist die Erarbeitung möglicher Lösungsvorschläge Redaktionelle Bearbeitung: und Handlungsempfehlungen. Dr. Angela Borgwardt Franziska Richter Franziska Richter © Friedrich-Ebert-Stiftung ISBN: 978-3-89892-701-7 Referentin des Projektes „Gesellschaftliche Integration“ 2 ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 22 0066..0066..22000077 1144::4488::3322 UUhhrr Politik der Teilhabe Ein soziologischer Beipackzettel Peter Bartelheimer Inhalt 1. Warum Teilhabe? 5 2. Was bedeutet Teilhabe? 8 3. Teilhabe im sozialpolitischen Diskurs 13 3.1 Grundsicherung als „Ernstfall“ sozialstaatlicher Teilhabe im Umbruch 13 3.2 Risiken und Nebenwirkungen des Teilhabediskurses 17 4. Neue Prekarität und alte Normalität am Arbeitsmarkt 19 4.1 Sichere und unsichere Erwerbsbeteiligung 19 4.2 Von der Arbeitslosenversicherung zur Erwerbsfürsorge 21 4.3 Übergriffe der Arbeit auf andere Teilhabeformen 24 4.4 Das Aktivierungsparadigma: Beschäftigungsfähigkeit als negative Individualisierung 26 5. Schlussbemerkung 27 Literatur 29 ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 3 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 33 0066..0066..22000077 1144::4488::3322 UUhhrr PETER BARTELHEIMER POLITIK DER TEILHABE Abstract Der Begriff der „Teilhabe“ beginnt in den letzten schaftliche Bedingungen (etwa Normen, Infras truk- Jahren zu einem Leitkonzept der wissenschaftlichen turen). Das Ziel sozialstaatlicher Intervention besteht und politischen Verständigung über die Zukunft des hier nicht darin, das Teilhabeergebnis, also indivi- deutschen Sozialmodells aufzusteigen. Er markiert duelle Lebensweisen („functionings“) anzugleichen, die Schwelle, deren Unterschreiten öffentliches Han- sondern Ungleichheit bereits bei den Verwirklichungs- deln und soziale Sicherungsleistungen auslösen soll. chancen zu reduzieren. In diesem Beitrag wird versucht, die rasche Karriere Vier Teilhabeformen können unterschieden wer- dieses Worts nachzuvollziehen und zugleich seiner den: Teilhabe über Erwerbsarbeit; Teilhabe in infor- drohenden Überforderung entgegenzuarbeiten. Zu- mellen sozialen Nahbeziehungen; Teilhabe durch nächst soll der Begriff der Teilhabe theoretisch fun- Rechte; kulturelle Teilhabe. Typische Lebenslagen diert werden: Wie kann aus einem unbestimmten erge ben sich erst durch das Zusammenwirken ver- „guten Wort“ eine sozialstaatliche Handlungspers- schiedener Teilhabeformen. Mit der Entwicklung so- pektive werden, die wissenschaftlicher Überprüfung zialstaatlicher Intervention werden Ansprüche auf zugänglich wäre? Sozialleistungen zu einer eigenständigen Dimension Ein hinreichend bestimmter Teilhabebegriff gesellschaftlicher Teilhabe. zeichnet sich durch fünf Merkmale aus: Er ist histo- Im zweiten Teil des Beitrags werden diese kon- risch relativ, das heißt, Teilhabe ist an die sozioöko- zeptionellen Überlegungen exemplarisch auf das nomischen Möglichkeiten einer gegebenen Gesell- Feld der Arbeitsmarktpolitik angewendet. Wie in schaft gebunden. Er ist mehrdimensional, da sich einem „Beipackzettel“ wird nicht nur der Inhalt des Teilhabe erst durch das Zusammenwirken verschie- Teilhabebegriffs möglichst detailliert ausgewiesen – dener Teilhabeformen ergibt. Es sind verschiedene es werden auch mögliche „Risiken und Nebenwir- Abstufungen sowie erwünschte und inakzeptable kungen“ seiner unsachgemäßen diskursiven Ver- Formen ungleicher Teilhabe zu unterscheiden. Als wendung aufgeführt. dynamisches Konzept ist Teilhabe in zeitlichen Ver- Die aktuelle politische Konjunktur des Teilha- läufen zu betrachten. Schließlich wird Teilhabe bediskurses in der Bundesrepublik Deutschland fällt durch handelnde Subjekte, durch individuelles mit der Notwendigkeit zusammen, Richtungsent- Handeln in sozialen Beziehungen angestrebt und scheidungen über künftige Minimalziele sozialer verwirklicht. Sicherung zu treffen. Gegenwärtig werden die sozia- Vorgestellt wird ein Modell der Teilhabe- und len Sicherungssysteme auf das Ziel ausgerichtet, eine Verwirklichungschancen nach Amartya Sen. Dem- Grundversorgung zu leisten und Mindeststandards nach sind die materiellen Ressourcen und Rechtsan- zu sichern. Der Beitrag zeigt, dass dies kein einfaches, sprüche unverzichtbare Voraussetzungen, eröffnen sondern ein höchst anspruchsvolles Ziel ist und dass aber lediglich die Möglichkeiten von Teilhabe. Diese der Teilhabediskurs Sozialpolitik nicht aus der Ver- Möglichkeiten zu realisieren, mithin Verwirklichungs- antwortung entlässt, für mehr Gleichheit zu sorgen: chancen wahrzunehmen, verlangt zum einen indi- Verwirklichungschancen sind an Wahlmöglichkei- viduelle Fähigkeiten, zum anderen bestimmte gesell- ten und Teilhabeergebnissen zu messen. 4 ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 44 0066..0066..22000077 1144::4488::3333 UUhhrr PETER BARTELHEIMER POLITIK DER TEILHABE 1. Warum Teilhabe? Wenn heute von Teilhabe die Rede ist, so meist beim (cid:129) „Ausgrenzung stellt ein gesellschaftliches Un- Versuch, die „soziale Frage“ für eine Zeit gesellschaft- gleichheitsverhältnis besonderer Art dar. Die Aus- lichen Umbruchs in aktueller Form zu stellen. gegrenzten sind Teil der Gesellschaft, auch wenn Sozialwissenschaftliche Konzepte wie Klasse sie nicht an ihr teilhaben“ (Kronauer 2006: 29). und Schicht scheinen die großen Linien sozialer Un- Teilhabe als sozialstaatliches Leitkonzept bezeichnet gleichheit nicht mehr angemessen erfassen zu kön- dabei die Schwelle, deren Unterschreiten öffentli- nen. Versucht man neue soziale Grenzlinien entlang ches Handeln und soziale Sicherungsleistungen aus- von Kategorien wie Armut, Ausgrenzung oder Pre- lösen soll. In diesem Sinne ist in vielen politischen karität zu verorten (zum Überblick: Bude/Willisch Dokumenten von Teilhabe die Rede, etwa wenn der 2006), so bedarf es hierzu eines positiven normati- Entwurf des neuen SPD-Grundsatzprogramms er- ven Gegenbegriffs. Die Schwelle, jenseits derer so- klärt, zur sozialen Gerechtigkeit gehörten „neben ziale Ungleichheit nicht hinnehmbar ist, lässt sich den rechtlichen auch die materiellen Vorausset- nur bezeichnen, wenn man zu beschreiben vermag, zungen der Freiheit, neben der Gleichheit des Rechts wovon niemand ausgeschlossen werden soll. „Teil- auch die Gleichheit der politischen und ökono- habe“ gehört also zum Gespräch über soziale Un- mischen Teilhabe und der grundlegenden Lebens- gleichheit und Sozialstruktur; so fi ndet sich das Wort chancen“ (Sozialdemokratische Partei Deutschlands typischerweise in Defi nitionen von Armut und Aus- [Parteivorstand] 2007: 11). Die Verfassungsnormen grenzung: der Menschenwürde und der freien Entfaltung der (cid:129) „Armut [...] liegt vor, wenn die Handlungsspiel- Persönlichkeit (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG) räume von Personen in gravierender Weise ein- konkretisieren sich in Teilhabeansprüchen an den geschränkt und gleichberechtigte Teilhabechan- Sozialstaat. So schließt das soziokulturelle Existenz- cen an den Aktivitäten und Lebensbedingungen minimum neben dem materiellen Teilhaberecht ein der Gesellschaft ausgeschlossen sind“ (Bundes- Recht auf „Teilhabe am gesellschaftlich üblichen regierung 2005: 9). Leben“ ein (Bundesregierung 2005: 7; Birk in: Mün- (cid:129) Ähnlich defi niert die Armutsdenkschrift der der/Armbrost u. a. 2005). Sozialhilfeberechtigte ha- Evan gelischen Kirche Armut als „unzureichende ben Anspruch auf Beratung und Unterstützung „zur Teilhabe“; „gerechte Teilhabe“ dagegen bedeute aktiven Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft“ „um fassende Beteiligung aller an Bildung und Aus- (§ 11 SGB XII), behinderte Menschen haben An- bildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen spruch auf Leistungen zur „Teilhabe am Arbeitsle- und solidarischen Prozessen der Gesellschaft“ (Rat ben“ und auf „Teilhabe am Leben in der Gesell- der Evangelischen Kirche in Deutschland 2006). schaft“ (§ 4 SGB IX). (cid:129) „Soziale Ausgrenzung ist ein Prozess, durch den Es liegt auf der Hand, dass dem Wort „Teilhabe“ bestimmte Personen an den Rand der Gesell- im Gespräch über Verhältnisse sozialer Ungleichheit schaft gedrängt und durch ihre Armut bzw. we- eine erhebliche begriffl iche Last zuwächst. Aller- gen unzureichender Grundfertigkeiten oder feh- dings fehlt es nicht allein an einer klaren Defi nition lender Angebote für lebenslanges Lernen oder von Teilhabe, sondern überhaupt an theoretischer aber infolge von Diskriminierung an der vollwer- und begriffl icher Klarheit beim infl ationären Ge- tigen Teilhabe gehindert werden“ (Europäische brauch des veränderten Vokabulars sozialer Ungleich- Kommission 2004: 12). heit (Vogel 2006) jenseits von Klasse und Schicht, ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 5 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 55 0066..0066..22000077 1144::4488::3333 UUhhrr PETER BARTELHEIMER POLITIK DER TEILHABE welches die Sozialwissenschaften heute dem poli- braucht, in dem die EU von „sozialem Zusammen- tischen Diskurs anbieten. halt“ („social cohesion“) spricht, das heißt auf der ge- Weithin gebräuchlich für die Beschreibung sellschaftlichen Systemebene. Um soziale Ungleichh eit neuer Formen sozialer Ungleichheit ist das Begriffs- zu erfassen, muss man aber einer Zone der Integra- paar „Inklusion“ und „Exklusion“. Diese Begriffe tion andere gesellschaftliche Lagen entgegens tellen. sind aber in den deutschen Sozialwissenschaften in Dabei ist „die naive Vorstellung eines linea ren Zu- spezifi scher Weise systemtheoretisch vorgeprägt. Die sammenhangs von Integration und gesellschaftl icher Systemtheorie als deutsche Version strukturfunktio- Stabilität bzw. Zufriedenheit der Ges ell schaftsm it- nalistischer Gesellschaftstheorie grenzt sich gerade glieder“ schon „aufgrund der unterschiedlichen For- von der Vorstellung ab, Integration verlange voll- men gesellschaftlicher Integration aufzugeben“ (Im- ständige Teilhabe von Personen am sozialen Gesche- busch/Rucht 2005: 67). „Hohe Integration innerhalb hen. Für Niklas Luhmann (1981: 19 ff.) verwirklicht von Gruppen kann, wie das Beispiel von Sekten und sich Individualität in „funktional differenzierten“ Parallelgesellschaften zeigt, Schließungstendenzen Gesellschaften gerade dadurch, dass Menschen in nach außen befördern und damit die Integration auf unterschiedlichem Maß an verschiedenen Funktions- höherer Ebene erschweren. Manche Arten und systemen partizipieren. „Die Gesellschaft besteht Mechanismen von Integration sind von Kontrolle, nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikatio- Zwang oder gar Gewalt begleitet. Schwache Formen nen zwischen Menschen. […] Der Mensch lebt als der Integration können dagegen Wahlmöglichkeiten Individuum außerhalb der Funktionssysteme, aber und Freiheitsspielräume erweitern, können aber un- jeder Einzelne muss zu jedem Funktionssystem Zu- terhalb einer bestimmten Schwelle wiederum mehr gang erhalten, wenn und insoweit seine Lebensfüh- Nachteile als Vorteile mit sich bringen“ (ebd.). Zu rung die Inanspruchnahme gesellschaftlicher Funk- gesellschaftlicher Integration gehört nach dem Vor- tionen erfordert.“ Zur (Teil-)Inklusion in die einen schlag eines von Wilhelm Heitmeyer und Peter gehöre als Nebeneffekt die (Teil-)Exklusion aus ande- Imbusch geleiteten Forschungsverbunds „auf der so- ren (wohlgemerkt: nicht aus der Gesellschaft; vgl. zialstrukturellen Ebene das Problem der adäquaten Nassehi 2006: 55 f.). Die Systemtheorie nimmt dabei Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern eine sehr distanzierte Sicht „aus der Vogelperspek- einer Gesellschaft […], auf der institutionellen Ebe- tive“ auf die Funktionsweise von Gesellschaft ein. ne […] ein fairer und gerechter Ausgleich konfl igie- Wegen des großen Einfl usses der Systemtheorie im render Interessen auf der Basis von Gleichwertigkeit“ deutschen sozialwissenschaftlichen (wie übrigens und „auf der personellen Ebene […] die Herstellung auch im politischen) Diskurs muss man die Begriffe emotionaler und expressiver Beziehungen zwischen Exklusion und Inklusion zunächst aufwendig „de- den Menschen“ (ebd.: 61). Doch bis zu einer so kom- konstruieren“ und umdeuten, um überhaupt in die- plexen Theorie gesellschaftlicher Integration sei ser Terminologie über nicht hinnehmbare Formen „noch ein weiter Weg zu gehen“, und dass der Be- des Ausschlusses reden zu können.1 griff der Integration für eine Vielzahl von Debatten Auch der Begriff der Integration wird in den anschlussfähig sei, sorge eben auch „für eine babylo- Sozialwissenschaften vorwiegend in dem Sinne ge- nische Diskussionslage“ (ebd.: 67). 1 So spricht Kronauer (2002: 126 ff.) von „Exklusion II“ und Nassehi (2006) will Ausgrenzungserfahrungen nur in Bezug auf Organisationen gelten lassen, nicht aber in Bezug auf die Gesellschaft. 6 ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 66 0066..0066..22000077 1144::4488::3333 UUhhrr PETER BARTELHEIMER POLITIK DER TEILHABE Schließlich ist noch auf einen problematischen terstellt, also eine Perspektive des Individuums auf normativen Nebensinn des Integrationsbegriffs hin- die Gesellschaft nahe legt. Es vermeidet dabei zwei- zuweisen: In einer „unkritischen Lesart“ kann sich tens bestimmte Probleme, die offenbar mit dem Ge- Integrationspolitik darauf beschränken, gesellschaft- brauch von „Inklusion“ und „Integration“ verbun- liche Randgruppen durch einseitige Anpassung an den sind. Zum Dritten schließlich ist Teilhabe als eine funktionierende Mehrheitsgesellschaft wieder normativer Begriff bereits in die sozialpolitische und „einzugliedern“ (Kronauer 2006: 29).2 Der Blick auf sozialrechtliche Terminologie eingeführt, woran man die gesellschaftlichen Bedingungen individueller anknüpfen kann, will man weitere soziale Teilhabe- Zugehörigkeit und Teilhabe, auf „ausgrenzende sozi- ansprüche normieren. Daher hat sich der Forschungs- ale Verhältnisse“ (ebd.) würde so verstellt. verbund „Berichterstattung zur sozioökonomischen Von Teilhabe zu sprechen, signalisiert zunächst Entwicklung Deutschlands“ (www.soeb.de) dafür ent- einmal, dass man die Systemebene, die „Vogelpers- schieden, den im europäischen und internationalen pektive“ auf Gesellschaft verlässt und auf der Indi- Diskurs gebräuchlichen Begriff „inclusion“ als Teil- vidualebene danach fragt, „wer sich auf welche Wei- habe einzudeutschen (Bartelheimer 2005: 91) und se dem ‚gesellschaftlichen Ganzen‘ zugehörig fühlt“ versucht nun, über ein sozialwissenschaftlich fun- (Bude/Lantermann 2006: 234).3 Für den Versuch, ge- diertes Teilhabekonzept, einen geeigneten norma- rade Teilhabe zum Gegenstand der offenbar notwen- tiven Maßstab für die Bewertung gesellschaftlicher digen „Anstrengung des Begriffs“ bei der B ehandlung Entwicklung aus der Perspektive von Individuen sozialer Ungleichheit zu machen, spricht erst ens, und Haushalten zu gewinnen (Bartelheimer 2006: dass das Wort bereits aktive, handelnde Subjekte un- 77 ff.). 2 In der deutschen Version von Dokumenten der Europäischen Union wird „Inclusion“ meist als „Eingliederung“ übersetzt. Dagegen verwendet die deutsche Übersetzung von Robert Castel (2000b) „Teilhabe“ als Übersetzung für „participation“. 3 Zum Unterschied von gesellschaftlichem Zusammenhalt auf der Systemebene und gesellschaftlicher Zugehörigkeit von Menschen auf der Ebene von Individuen und sozialen Lagen vgl. Bartelheimer (2007b). ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 7 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 77 0066..0066..22000077 1144::4488::3333 UUhhrr PETER BARTELHEIMER POLITIK DER TEILHABE 2. Was bedeutet Teilhabe? Mit dem Begriff der Teilhabe werden zwei Fragen ellen Wohlfahrtspositionen vieler verschiedener verhandelt: Wie wird gesellschaftliche Zugehörigkeit Personen vergleichbar zu machen, und es ist klar hergestellt und erfahren, und wie viel Ungleichheit zu unterscheiden zwischen erwünschter Viel falt akzeptiert die Gesellschaft? Der Ausdruck wird of- von Lebensweisen und inakzeptablen Gefähr- fenbar gebraucht, „damit gesellschaftliche Verhält- dun gen von Teilhabe, die gesellschaftlichen Ein- nisse, damit individuelle Befi ndlichkeiten am Maß- griff erfordern. Nach dem Vorschlag des f ran zösi - stab des Sozialen gemessen werden können“ (Zacher schen Soziologen Robert Castel (2000a, 2000b) 2001: 347). Aus wissenschaftlicher Sicht geht es zu- könnte man, ausgehend von der teilhabenden nächst darum, den Bedeutungsgehalt von Teilhabe gesellschaftlichen „Mitte“, eine Zone der Prekari- begriffl ich so zu präzisieren, dass dieses Konzept der tät oder der sozialen Verwundbarkeit, eine Zone empirischen Überprüfung zugänglich wird. Dagegen der Fürsorge und eine Zone sozialer Ausgrenzung handelt es sich in sozialpolitischer Hinsicht eher bzw. „Entkopplung“ („désaffi liation“) unter- darum, den „unbestimmten Rechtsbegriff“ Teilhabe scheiden. in möglichst vielen Bereichen als praktisch wirksa- 4. Teilhabe ist ein dynamisches Konzept: Ob Teil- men, sozialen Rechtsanspruch zu konkretisieren. habe gelingt, kann nicht allein nach einem Zu- Ein hinreichend bestimmter Teilhabebegriff soll- stand zu einem gegebenen Zeitpunkt, sondern te wenigstens fünf Anforderungen genügen: muss auch nach der Dauer von Zuständen, nach 1. Teilhabe ist nur historisch relativ zu verstehen, der zeitlichen Dynamik von Lebensverläufen das heißt stets als Teilhabe an den sozioökono- und biografi schen Mustern beurteilt werden. mischen Möglichkeiten einer gegebenen Gesell- 5. Teilhabe ist aktiv: Sie wird durch soziales Han- schaft, an wesentlichen Merkmalen ihres Lebens- deln und in sozialen Beziehungen angestrebt standards und ihrer vorherrschenden Lebens- und verwirklicht. Bei der Beurteilung von Teil- weise. Sie bindet die Ränder der Gesellschaft an habe kommt es auf die handelnden Subjekte an, deren „Mitte“. auf ihre Erfahrungen und darauf, wie sie ihre 2. Teilhabe ist mehrdimensional: Sowohl der für ei- soziale Lage bewältigen. ne Gesellschaft insgesamt charakteristische „Teil - Dass Teilhabe als Diskursfi gur Konjunktur hat, hängt habemodus“ wie auch die Stellung bestimmter auch mit einer Begriffsverlagerung bei der wissen- Gruppen im Gefüge sozialer Ungleichheit und schaftlichen und politischen Beobachtung sozialer sozialer Beziehungen ergibt sich erst durch Zu- Ungleichheit zusammen (Böhnke 2006). Armutsquo- sammenwirken verschiedener Teilhabeformen ten und andere Verteilungsmaße messen Teilhabe (etwa von Erwerbsarbeit, Familie und Sozial- indirekt, über ungleich verteilte Ressourcen. Doch staat). In einer Situation gesellschaftlichen Um- bloße Verteilungsinformationen, wie sie die Armuts- bruchs verändert sich gerade dieses Zusammen- forschung zunächst lieferte, besagen noch nicht viel spiel verschiedener Dimensionen gesellschaft- über den veränderten sozialen Zustand einer Gesell- licher Zugehörigkeit. schaft. Mit der Beobachtung benachteiligter Lebens- 3. Teilhabe beschreibt kein einfaches „Drinnen“ lagen versuchen Sozialforschung und Sozialbericht- oder „Draußen“, wie es unkritische Lesarten des erstattung daher direkt zu messen, wie viel Teilhabe Ausgrenzungsdiskurses unterstellen. Es geht Personen oder Gruppen realisiert haben (vgl. Andret- viel mehr darum, Abstufungen ungleicher Teil- ta 1991, Allmendinger/Hinz 1999, Leßmann 2007). habe zu unterscheiden. Dazu sind die individu- Der Begriff der Ausgrenzung (Kronauer 2002) könnte 8 ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 88 0066..0066..22000077 1144::4488::3333 UUhhrr PETER BARTELHEIMER POLITIK DER TEILHABE demgegenüber nach den sozialen Beziehungen fra- Teilhabekonzept der Bundesregierung beabsichtigt gen, die von angemessener Teilhabe ausschließen. ist: „Das Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungs- Als Verwirklichungschancen4 bezeichnet A. Sen chancen bildet […] in Verbindung mit dem Lebensla- (1999; vgl. Volkert 2005b) die individuelle Befähi- genansatz die Grundlage für die Armuts- und Reich- gung zur Teilhabe und entsprechende Handlungs- tumsberichterstattung des Bundes“ (ebd. S. 10). spielräume. Dieses Konzept der „Teilhabe- und Ver- Abbildung 1 stellt den Versuch dar, die verschie- wirklichungschancen“, das heißt der „Möglichkeiten denen Bedingungen gelingender Teilhabe zu einem oder umfassenden Fähigkeiten (‚capabilities‘) von abstrakten Modell zusammenzuführen. Zunächst Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie fragt das Modell nach den materiellen Ressourcen sich mit guten Gründen entscheiden konnten und bzw. nach den Rechtsansprüchen, die Zugang zu Res- das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage sourcen verschaffen. Diese eröffnen jedoch lediglich stellt“ (Bundesregierung 2005: 7), soll künftig den die Möglichkeit von Teilhabe. Diese Möglichkeiten normativen Bezugspunkt der Armuts- und Reichtums- zu realisieren, verlangt zum einen individuelle Fä- berichterstattung des Bundes bilden. higkeiten (in der Terminologie von A. Sen: Umwand- Die Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Un- lungsfaktoren), zum anderen gesellschaftliche Be- gleichheitsforschung bestünde nun darin, diese ver- dingungen (etwa: Normen, Infrastrukturen), welche schiedenen Konzepte und Perspektiven in schlüssi- diese Umwandlung ermöglichen. ger Form zu integrieren, wie dies offenbar für das Abbildung 1: Wie Teilhabe „funktioniert“ – ein Modell frei nach Amartya Sen Gesellschaftliche Handlungs- und Umwandlungsfaktoren Entscheidungsspielraum Wahlmöglichkeit Ressourcen Verwirklichungschancen Teilhabeergebnis Rechte („capabilities“) Lebenslage (-weise) Individuelle persönliche, gesellschaftliche Umwandlungsfaktoren Ziele 4 Leßmann (2007) übersetzt „Verwirklichungsmöglichkeiten“. ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 9 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 99 0066..0066..22000077 1144::4488::3333 UUhhrr PETER BARTELHEIMER POLITIK DER TEILHABE Abbildung 2: Teilhabeformen Teilhabeformen gesellschaftliche Ressourcen und Teilhabeergebnis Umwandlungsfaktoren Erwerbsarbeit Haushalt, Betrieb / Unternehmen Erwerbsbeteiligung (wie sicher?) Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik Erwerbseinkommen (existenzsichernd?) Soziale Nahbeziehungen Haushalt / Familie, Netzwerke, Isolation, informelle Arbeit Betrieb, Quartier empfangene / geleistete andere informelle Arbeit, Unterhalt Bürgerliche, Staat, Parteien, Verbände Bürgerstatus, politische Rechte politische Partizipation Soziale Rechte System sozialer Sicherung Transfereinkommen, soziale Dienstleistungen Bildung, Kultur Bildungssystem Qualifi kation (Kompetenz), Werteorientierung Insbesondere diese gesellschaftlichen Umwandlungs- das Teilhabeergebnis, also individuelle Lebensw eisen faktoren sind daran zu messen, welche Handlungs- („functionings“) anzugleichen, sondern Ungleich- und Entscheidungsspielräume sozioökonomische heit bereits bei den Verwirklichungschancen zu re- Be dingungen und Institutionensystem den Individu- duzieren. en lassen, um entweder ganz persönliche oder von Jean-Michel Bonvin (2006) hat dieses Modell ihnen geteilte, gesellschaftlich üblic he Teil habeziele am p olitisch unverdächtigen Beispiel des Fahrrad- zu verwirklichen. Das Ergebnis all dieser Faktoren ist fahrens illustriert. Wer die Chance haben soll, Rad eine bestimmte Lebenslage oder ein bestimmtes zu fahren, benötigt zunächst ein Rad oder Zugang zu Teilhabeergebnis (in der Terminologie von A. Sen: einem Rad (Ressource). Ferner muss er Rad fahren „ functionings“5). Der Vergleich von Wohlfahrtsposi- können (individueller Umwandlungsfaktor), und es tionen und die Analyse sozialer Ungleichheit setzt muss hierfür eine gesellschaftliche Infrastruktur ge- nach diesem Konzept nicht einfach an den beobach- ben, also Straßen und Wege, und schließlich muss teten Unterschieden der Lebenslage an, sond ern das Radfahren auch erlaubt sein (all dies zählt zu fragt danach, wie weit diese auf ungleiche Verwirkli- den gesellschaftlichen Umwandlungsfaktoren). So chungschancen zurückgehen. Das Ziel sozialstaatli- kann Wahlfreiheit entstehen: Wählt jemand das Rad- cher Intervention bestünde demnach nicht dar in, fahren als ihm angemessene Form der Mobilität oder 5 Volkert (2005a: 11) verzichtet auf eine Eindeutschung des Begriffs: „Functionings sind die Lebensumstände und Aktivitäten, die eine Person schätzt und tatsächlich verwirklicht (‚valuable doings and beings’).“ Leßmann (2007) übersetzt mit „Funktionen“. 10 ARBEITSPAPIER N° 1 / 2007 FFEESS WWoorrkkiinngg PPaappeerr 22000077..iinndddd 1100 0066..0066..22000077 1144::4488::3344 UUhhrr
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