Bauwelt Fundamente 68 Herausgegeben von Ulrich Conrads unter Mitarbeit von Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hansmartin Bruckmann Lucius Burckhardt Gerhard Fehl Herbert Hubner Julius Posener Thomas Sieverts Christoph Hackelsberger PUidoyer ffir eine Befreiung des Wohnens aus den Zwangen sinnloser Perfektion Friedr. Vieweg & Sohn Braunschweig/Wiesbaden CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hackelsberger, Christoph: Pliidoyer fiir eine Befreiung des Wohnens aus den Zwangen sinnloser Perfektion/Christoph Hackelsberger. - Braunschweig; Wiesbaden: Vieweg, 1983. (Bauwelt Fundamente; 68) ISBN-13: 978-3-528-08768-5 e-ISBN-13: 978-3-322-88868-6 DOl: 10.1007/978-3-322-88868-6 NE:GT © Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig 1983 Umschlagentwurf: Helmut Lortz Umschlagseite1: Foto: Andreas Hempel, Vordach iiber Haustiir in Gaedekaret/Danemark Umschlagseite 4: Foto: Ralph und Doris Thut, Wohnhaus fiir sechs Familien in Miinchen-Perlach, Blick auf die Terrasse Satz: C. W.Niemeyer, Hameln Inhalt Einige Gedanken zu Beginn 7 Ein Blick zuriick 11 2 Hindernisse, Ungereimtheiten sowie gesellschaftliche Fehlleistungen und deren politische und planerische Folgen 37 3 Ein recht alltagliches Beispiellandlaufiger Planungshandhabung auf polit-okonomischer Grundlage sowie einige ganzlich zivile Uberlegungen zu Angemessenheit und Verniinftigkeit im planerischen Bereich 45 4 Gedanken zur Lebensferne des Rechts- und Verordnungsstaates 55 5 Selbstbau als wirtschaftliche Moglichkeit und Gelegenheit zu kreativer Selbstverwirklichung 103 6 Wo bleibt die Architektur? 113 Ausgewahlte Literaturhinweise 117 5 Foto: Erika Sulzer-Kleinemeyer 6 Einige Gedanken zu Beginn Eine iiberaus merkwiirdige Konstellation bringt uns heute dazu, intensiv iiber die Wohnverhaltnisse des Menschen unserer Uberflu6gesellschaft nachzudenken. Es gibt zwar viele wohlformulierte Uberlegungen zum Wohnen insgesamt und zur gegenwartigen Wohnsituation insbesondere; sie haben indes den Nachteil, niemals radikal zu sein, sondern sich immer nur in Detailbereichen zu bewegen. Seit Sokrates aber ist Infragestellung die einzige Moglichkeit, die Grenzen des Nichtwissens, Nichterkennens zu verschieben. Dies Buch soll, getreu dem V orbild dieses oft mi6deuteten Meisters des europaischen Denkens, dazu ermutigen, all das, was als gesichert und fest erscheint, in Frage zu stellen. Hier wird nicht "hinterfragt", sondern gera deaus gefragt - eine ehrliche Methode zur Gewinnung der jeweils relativen Wahrheit, wie ich meine. Wir alle sollten es - urn beim Sokratischen Beispiel zu bleiben - vorziehen, den Schierlingsbecher zu trinken, statt uns mit den aus Gedankenfaulheit, Verantwortungslosigkeit und Eitelkeit so geworde nen Verhaltnissen unter Anbringung von Detailretuschen abzufinden. "Vita militare", das Leben ist ein Kampf, sagte mir - ich war damals dreizehn, und der Zweite Weltkrieg ging sichtlich seinem Ende entgegen - ein gescheiter Mann, der mit den Machtigen jener Jahre gar nichts im Sinn hatte, und er hatte recht. Auch fiir solche Architekten, die sich nicht als eingefiigte und angepa6te Geschaftsleute verstehen, bedeutet ihre Tatigkeit standigen Kampf urn Verbesserung menschlicher Bedingungen. Architekten sind keine Intellektuellen. Sie arbeiten praktisch, von Fall zu Fall fehlbar. Das sollte sie aber nicht daran hindern, jeden einzelnen Schritt zu iiberlegen, in Frage zu stellen und nur dann voranzuschreiten, wenn sie davon iiberzeugt sein konnen, dam it ihren Nachsten zu dienen. Architekten 7 haben viele Nachste, das sollten sie sich klarmachen, und das bedeutet - fernab all ihrer wohltonenden Satzungen und Programme - eine sehr ernsthafte Bindung. Das christliche "Liebe deinen Nachsten wie dich selbst!" heiBt fUr Architekten, frei ubersetzt, nichts anderes als "Mute dem, der in deinen Werken leben muB, der dir beinahe ausgeliefert ist, nichts zu, was du nicht selbst fur dich akzeptieren wurdest, wenn du all den ideolo gischen Unsinn abgelegt hast, mit dem du deine Arbeiten immer wieder garnierst, urn yom Einzelnen ins Allgemeine zu kommen". 1st Bauen eine Angelegenheit des gesunden Menschenverstandes? GewiB auch, aber auch eine des Nachdenkens uber die Bedingungen anderer, des Erspurens ihrer Neigungen, Traume und vor allem ihrer Angste. 1st so mit etwa klar, wie sich ein Architekt, Verhaltnisse in Frage stellend, fur seine Mitmenschen einsetzen sollte, so ware nun einiges uber die Ungereimtheit unserer heutigen Verhaltnisse, was das Wohnen anlangt, zu sagen. Wir stehen gerade hier in der Bundesrepublik vor dem Phanomen, daB unsere Gesellschaft, eine der produktivsten und UberfluB erzeugenden der Welt, es nicht fertigbringt, in den Bereichen des W ohnens UberfluB oder auch nur Mangelfreiheit zu erzeugen. Dies hat einige wesentliche, in unseren Anschauungen und Verhaltensweisen begrundete Ursachen. Wir legen in steigendem MaBe ein Konsumverhalten an den Tag, dem wir unsere wirt schaftlichen Fortschritte uberhaupt erst verdanken. Der Produktions Konsumtions-Zyklus ist zwar bei genauer Betrachtung keineswegs ein geschlossenes System; er bedarf standiger Zufuhr und nutzt relativ ruck sichtslos das Gefalle zwischen un serer und anderen, weniger beguterten bzw. einseitig orientierten Volkswirtschaften aus. Fur uns hier funktioniert die ganze Maschinerie aber, oberflachlich betrachtet, vorerst gut und ver breitet Uberfulle sowie, trotz gewisser Einbruche, hinreichende Beschafti gung. Der VerschleiB ist programmiert; Wechsel, Obsoleszenz sind einge plant und systemerhaltend. Eine Ausnahme in diesem Wohlstand verbrei tenden Regelkreis bildet die Errichtung von Wohnmoglichkeiten. Einfa milienhauser und Wohnungen sind bei uns keine Konsumguter, sondern nach wie vor Investitionsguter. Hier geplanten Verschleill und Veralterung einzufuhren, ist aus verschiedenen Grunden bislang nicht gelungen. Wir den ken nach alten, bewahrten Mustern, vor allem als Investoren. Wir sind noch gepragt von den groBen Eindrucken der Wanderungen und Landnah men. Die letzte "Volkerwanderung" (nach 1945) hat diesen Orang zur dauerhaften SeBhaftigkeit nur verstarkt. Unsere Errungenschaft ist die feste Investition des Hauses, der Wohnung. Wir denken in Kategorien der Dauer, die Bauwerke uns gewahrleisten, so als wurden wir noch, wie dies in 8 gewisser Weise die uberwiegend bauerliche Bevolkerung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts tat, durch un sere Hauser und in ihnen fortexistieren. Hier liegt einer der konservativsten Bereiche unserer Gesellschaft. Zwar hat in die Wohnbereiche, was Moblierungsmoden, Heimtextilien usw. angeht, der Konsum Einzug gehalten; das Haus, der W ohnraum an sich, ist aber davon nicht betroffen. Dem allgemeinen Wandel, den wir in vielen Bereichen akzeptiert haben, obwohl er uns taglich unheimlicher wird, stellen wir die Kontinuitat unserer Wohnfeldvorstellungen entgegen. Mit dem Rucken zur festen (uns uberlebenden) Wand meinen wir, den fur uns unbegreifbar und unbeherrschbar gewordenen Wechsel besser uberleben zu konnen. Diese Vorliebe bringt es mit sich, daB die Langzeitinvestition "Wohnbauj Wohnen" nicht recht in den ublichen Konsumzyklus passen will, was dazu fuhrt, daB hier immer wieder Zwange und Fehlstellen auftreten und daB wir - gemessen an unserem allgemeinen Reichtum - merkwurdige, beinahe unverstandliche Schwierigkeiten haben. Treten aber bei uns und in anderen Gesellschaften derartige Engstellen und Fehlstellen auf, dann neigt man dazu, umfanglich zu regulieren und einzugreifen. Dies geschieht, urn Rechts gleichheit zu garantieren, meist zentral, also sehr fern von den Anlassen, was dann bald zu zwar im Prinzip vernunftigen, in der Praxis aber unsinnigen und unbrauchbaren Ergebnissen fuhrt. So stellen sich Hemmnisse ein, und jeder Eingriff perfektioniert nur die Systeme, unter denen Hemmnisse entstehen. Die Verallgemeinerung der Abhilfemittel ist ein Gerinnungsstoff, dem weder Kommunikation noch Organisation gewachsen sind. 1m Klar text: Da Wohnen unserem konsumptiven Verhalten und Wirtschaften nicht angepaBt ist, sondern sich unter investiven, herkommlichen Gesichtspunk ten vollzieht, wurde geregelt und noch einmal geregelt, urn Synchronisation samt egalitarer Rechtsgleichheit wenigstens theoretisch zu erzielen. Allum fassende Regelung fuhrt aber zu Starre und Handlungsunfahigkeit. Angesichts dieser, fur eine hochproduktive Gesellschaft eher beschamenden Erstarrung und Unterversorgung soli hier alles, was mit Wohnen zusam menhangt, in Frage gestellt werden, urn Wege aufzuzeigen, die ausreichende Wohnversorgung wirtschaftlich ermoglichen. Beginnt man erst einmal zu fragen, so gehort auch das Bezweifeln jenes Marchens dazu, daB heute allen alles zustunde, von Rechts wegen und automatisch. Wir haben die Lektion geliefert bekommen, die wir in der nachsten Zeit sicher werden lernen mussen: Jeglicher Akt menschlichen Handelns, auch der Konsum, hat umfassende Konsequenzen. Dies wird uns zwingen, uns okonomisch zu verhalten. Unser derzeitiger Konsum beruht ja sichtlich auf dem Ruin 9 anderer. Nur vordergrundig gesehen, ist er auch gleichzeitig die Quelle unserer Hilfsmoglichkeit. Auch unser Wohnen, ein Lebensbereich, in welchem wir uns erfreulicher weise noch immer eher investiv verhalten - noch strauben wir uns gegen die Spekulation auf raschen VerschleiB und schnellen Umsatz -, findet eigentlich oberhalb unserer Moglichkeiten statt. Dies laBt sich deutlich daran ablesen, daB es uns nicht gelingt, die durch gesellschaftliche Veranderungen hervorgerufenen W ohnbedurfnisse zu befriedigen. Der zu beschreitende Weg scheint jener der gesellschaftsinternen Entwick lungshilfe zu sein. Wir mussen yom Konsum so viel durch Verzicht abzwei gen, daB wir ausreichende Mittel zu okonomischer Investition erhalten. Dabei bin ich bei dem Begriff angelangt, den ich mit "asthetischer Oko nomie" bezeichnen mochte. Dies bedeutet nichts anderes, als mit hochstem Einsatz von Intelligenz, Einfuhlungsvermogen und Wissen und unter ge rings tern Einsatz von materiellen Ressourcen ein Optimum an physischem und psychischem Nutzen zu erreichen. Werden also Wohnungen oder Hauser unter dem Gesichtspunkt "astheti scher Okonomie" errichtet, so heiBt dies nichts anderes, als mit gering stem Aufwand den weitesten Raum fur menschliche Selbstverwirklichung zur Freiheit des Individuums hin zu schaffen. Dies bedarf genauer Durchdrin gung, Disziplin und SelbstentauBerung. Gerade auf solche Weise ist aber ein Teilbeitrag zu einer fur alle nutzlichen Stabilisierung und Humanisierung der Gesellschaft zu leisten. Bauen heute dient, mindestens in den Bereichen des Wohnens, nicht archi tektonischer Signifikanz oder asthetischer Pragnanz. Seine wesentliche Auf gabe besteht darin, raumliche Bedingungen zu schaffen, die ein hohes MaB an Selbstverwirklichung und individueller Freiheit zulassen. Diese Forde rung entspringt keiner pathetischen "Oh-Mensch-Haltung", sondern der sehr realistischen Einschatzung, daB die ganz kleine Freiheit des Individu urns ausgepragt und wiederum pragend am Anfang stehen muB, wenn nicht Zwang und Unmenschlichkeit den einzelnen zunichte machen sollen. Zur Sicherung dieser klein en Freiheiten gehort in erster Linie die Ermoglichung geeigneten Wohnens. Ohne Revision vieler eingefahrener Brauche wird aber das Wohnen nicht frei. Die Mangelsituation wird andauern, verstarkt durch weitere, festschreibende Perfektion, die - im Grunde von allen ungewollt - nur der Absicherung all jener dient, die sich Verantwortung angemaBt haben und nun nicht damit fertig werden. 10 1 Ein Blick zuriick Vom Wohnen der wenigen und Hausen der Massen bis hin zu den Versuchen, dem Recht auf individuelles Wohnen Geltung zu verschaffen Es ware sicherlich vermessen, hier eine Geschichte des W ohnens entwickeln zu wollen. Trotzdem laBt sich zeigen, daB wir sehr schnell geniigend Beispiele finden, urn die Ubedegungen zum "einfachen Haus" zu erharten. Die Motive, die friiher zur Suche nach Einfachlosungen gefiihrt haben, waren indes von den Unseren sehr verschieden.* Geht man in diesem Bereich weit zuriick, so stellt man fest, daB im hohen Mittelalter nahezu ausnahmslos von Wohnen keine Rede sein kann. Man hauste zwar auf mehr oder minder groBer Flache, W ohnen in unserem Sinne kann man den zeitweiligen Aufenthalt in geschlossenen Raumen aber kaum nennen. Erst im 16. Jahrhundert begann die adelig-patrizische Oberschicht Italiens zu wohnen. Anregungen dazu hatten die Humanisten aus der Literatur der Antike herbeigeschafft. Die ersten wahrhaft gehobenen Wohnbauten waren wohl die ville rustiche. Hier, fiir uns ganz im Verborgenen, liegen die Anfange unserer Wohnvorstellungen. Es ware zwar interessant, aber reichlich umwegreich, herauszuarbeiten, wie sich dieses neue Wohnen iiber England in die ganze zivilisierte westliche Welt verbreitet hat. Fest steht, daB im England des 18. und 19. J ahrhunderts gewohnt wurde wie sonst nirgends auf der Welt. Zuerst wohnte verstand licherweise die Oberschicht, Wohnen war teuer und personalintensiv; die breite Masse war immer noch mehr oder minder untergebracht und hauste im besten Falle auf einem etwas hoheren Niveau als in den vorangegangenen J ahrhunderten. * Einschrankend ist anzumerken, daB sich aile unsere Dberlegungen auf Mittel europa beziehen. 11