Christoph Schmidt Pilger, Popen und Propheten Eine Religionsgeschichte Osteuropas Ferdinand Schöningh Titelbild: Illarion M. Prjanišnikov, Oster-Prozession (1893). Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg – Wikimedia Commons Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrecht- lich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Nora Krull, Bielefeld Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn E-Book ISBN 978-3-657-77265-0 ISBN der Printausgabe 978-3-506-77265-7 Inhalt 1. Einleitung: Die Konferenz der Vögel 7 I. ENTSTEHUNG UND VERBREITUNG 2. Schamanismus 27 3. Orthodoxie und Lateiner 38 4. Muslime 64 5. Juden 87 6. Buddhisten 116 II. SPEZIFIK UND DYNAMIK 7. Von West nach Ost: Die Täufer 127 8. Zwischen Ost und West: Die Unierte Kirche 161 9. Spaltung im Protest: Altgläubige und Chassidim 178 10. Der aufgeklärte Gottesacker? 196 11. „Politische Religion“ und sowjetischer Atheismus 227 12. Schluss: Religion als historische Kraft oder der Gottesmann siegt? 241 Anmerkungen 262 Glossar 284 Literaturauswahl 285 Personenregister 291 *** Bildteil nach Seite 160 1. Einleitung: Die Konferenz der Vögel Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen (Jer. 8, 7). Als die Rote Fahne über dem Moskauer Kreml eingerollt war, geschahen seltsame Dinge: Die Sophienkathedrale in Kiev verwan- delte sich 1991 vom Museum zur Kirche; bis 2000 wurde die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau wiederaufgebaut, die 1931 einem Schwimmbad weichen musste; hier fand 2007 der Trauer- gottesdienst für Boris Jelzin statt. Am Ufer des Jenissej in Kyzyl‘ gründeten 2001 vier Männer die Schamanenvereinigung „Adyg Eeren“ (Geist des Bären); sie eröffneten eine Klinik und behandel- ten alle Krankheiten zum Einheitspreis von umgerechnet 45 Euro. 2002 stellten Mönche eines buddhistischen Klosters in Ulan-Ude am Bajkalsee fest, der Leichnam ihres 1927 verstorbenen Ober- hauptes Itigilov sei unverwest; sitzend im Lotos hatte der Mönch seinen eigenen Tod überdauert. Westlich der Wolga entstand in Elista bei den Kalmücken 2005 die größte Buddhastatue Europas; östlich der Wolga wurde gleichfalls 2005 im Kreml von Kazan‘ die Kul-Scharif-Moschee eingeweiht, angeblich die größte Moschee Europas. Was bedeutet all das? Obschon sich die Russische Revolution – wie die Französische – als Vormacht des Atheismus verstand und diesen auch wissenschaftlich zu untermauern pflegte, scheint sie und ihr Dogma von der Geschichte des 20. Jahrhunderts widerlegt. Was als Vertreibung von Religionen begann, endete mit deren Rückkehr. Diese Gesamtdarstellung nimmt daher zunächst das Auf und Ab von Religion und Religionsgeschichte als Ganzes in den Blick. Zehn mehr oder weniger provokante Thesen treten dabei hervor. Noch dazu bieten beide Begriffe, „Religionsgeschich- te“ wie „Osteuropa“, die Chance, bei passender Gelegenheit auch angrenzende Phänomene (Kirchengeschichte) oder Gebiete (Ost- mitteleuropa, Zentralasien) einzubeziehen. 8 1. Einleitung: Die Konferenz der Vögel 1. Religion braucht Kirche nicht. Religion verhält sich zu Kirche wie Gottesnarr zu Petersdom oder wie innerer Dialog zu Lautsprecher. Ein denkwürdiges Beispiel hierfür ist die Familie Lykov. 1928, als durch den Ersten Fünfjah- resplan und die Zwangskollektivierung der Stalinismus begann, nahmen fünf Familien Reißaus und flüchteten in die Wildnis des Altai. Zunächst versuchte die Obrigkeit, sie zur Rückkehr zu be- wegen, aber nach dem Krieg wurden sie vergessen. Eher durch Zufall waren es 1978 Piloten, die die Lykovs wiederentdeckten, weil sie inmitten des Urwalds plötzlich einen kleinen Acker erspäh- ten. 1990 verfasste ein Moskauer Journalist ein Buch über die Ly- kovs, brachte für das Überleben in der Taiga aber weitaus mehr Interesse auf als für Religion. Osip Lykov und seine Familie waren jedoch Altgläubige, genauer gesagt Begunen („Läuflinge“), die aus religiösen Motiven geflüchtet waren: „Die einzige Rettung vor dem im Zaren personifizierten Antichristen, vor Fron und Unterdrü- ckung durch die Obrigkeit war für diese Menschen, zu flüchten und sich zu verstecken. Die Altgläubigen dieser Sekte lehnten nicht nur Bartrasur, Tabak und Wein ab, die Peter der Große eingeführt hat- te, sondern alles Weltliche; staatliche Gesetze, den Dienst in der Armee, Pässe, Geld, jedwede Staatsmacht, festtägliche Volksvernü- gen, Gesänge und alles, was nur Menschen, die keine Gottesfurcht haben, sich ausdenken konnten. Freundschaft mit der Welt ist Feindschaft gegen Gott. Man muss fliehen und sich verstecken!“1 Gerade darin liegt also die Bedeutung von Religion, dass sie zu Kirche in Opposition treten kann und muss. Religion ist älter als Kirche. Sie braucht Symbole, aber keinen Text, der erst mit den Kirchen entsteht. Der einzelne aber kann nicht nur fliehen, er kann der antireligiösen Macht auch entgegentreten, wie es die Gottes- narren vor Peter taten. Hier liefert Nikola aus Pskov ein lebhaftes Beispiel, der den Zaren Ivan IV. in die Schranken wies, als dieser 1570 sein eigenes Land verheerte. So als habe sich der Zar am Fleisch der Novgoroder gesättigt, sandte ihm Nikola ein Stück blutiges Fleisch. In der Tat überkam den Zaren die Angst, so dass er Pskov in Ruhe ließ. Durch Askese beglaubigt, genießen Außen- seiter wie Derwische aber in vielen Religionen einen Sonderstatus, der es ihnen erlaubt, unheilvolle Allianzen von Kirche und Macht zu zerreissen und Kirche zurückzuführen auf Religion.2 1. Einleitung: Die Konferenz der Vögel 9 Die Bedeutung der Religionsgeschichte lässt sich daher mit we- nigen Worten umreißen. Unabhängig davon, ob es der jeweiligen Generation ersichtlich ist oder nicht, findet der Historiker eine natürliche Hierarchie seiner Stoffe vor, angeführt von Literatur, Kunst und Religion. Während Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zumeist schnellem Wandel unterliegen, weisen die drei erstgenann- ten Stoffe gewisse Konstanz auf. Sie „bilden“ und wirken dauer- haft – zumindest ihrem Anspruch nach. Dies gilt insbesondere für Dissidenz. Dennoch unterliegen auch sie Konsum und Verschleiß, dies aber mit vermindertem Tempo. Diesen Geschwindigkeitsun- terschied meint der große Astronom Ulugbek, wenn er behauptet, Imperien zerbrechen, aber Religionen erlöschen. 2. Die Vielfalt der Religionslandschaft Osteuropas überragt die des Westens bei weitem. Auch wenn man Russland auf seinen europäischen Teil reduziert, begegnen Schamanismus (im russischen Norden) und Buddhismus (bei den Kalmüken) dort noch heute. Für eine umfassende Religi- onsgeschichte sind beide Formen elementar, weil sie ein höheres Alter aufweisen als die drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam und diese mehrfach beeinflusst haben. Dies gilt insbesondere für den Schamanismus, dessen Spuren mit der Christianisierung Kievs 988 keineswegs erloschen. Demgegenüber fällt die Reichweite des Buddhismus sehr viel geringer aus, weil die Kalmüken erst im 17. Jahrhundert nach Russland gelangten. Nur im europäischen Osten weisen Juden, Christen und Musli- me eine Siedlungskontinuität auf, die bis ins Mittelalter zurückrei- cht (Konversion der Chazaren an der Wolgamündung zum Juden- tum um 800, Islamisierung der Wolgabulgaren ab 922). Nach der Eroberung Kazans durch Moskau 1552 bzw. den Teilungen Polens existierten diese drei Weltreligionen im Zarenreich zusammen; um 1900 lebten neun Zehntel der jüdischen Weltbevölkerung in Ost- europa. Allerdings machte das 20. Jahrhundert die historische Substanz vielerorts dem Erdboden gleich. Die Bolschewiki entfach- ten einen Atheismus sondergleichen; der Holocaust löschte die jüdische Besiedlung aus. In Osteuropa übt die gegenwärtige Rück- 10 1. Einleitung: Die Konferenz der Vögel besinnung auf Religion daher auch kompensatorische Funktion aus und hat daher andere, vielleicht stärkere Motive als im Westen. Nach alledem trifft Religionswissenschaft im europäischen Osten auf spezifische Voraussetzungen, denen die einführende Literatur kaum entspricht. Vor allem zeigt sie einen Mangel an ethnolo- gischer Rezeption,3 obwohl Ethnologie für stadt- wie schriftarme und daher bildgestützte Kulturen (Ostkirche) grundlegend ist. Religionsgeschichtlich besonders produktiv war der Bruch von lateinischer zu griechischer Kirche zwischen Polen-Litauen und den Ostslaven. Entlang dieser Linie hat Osteuropa eine Reihe ei- genständiger Bewegungen hervorgebracht, vor allem die Unierte Kirche im 16. Jahrhundert, die Altgläubigen im 17. Jahrhundert und die Chassidim im 18. Jahrhundert. Da diese Grenze zwischen West und Ost quer durch die Westukraine verlief, waren Galizien und Wolhynien religionshistorisch besonders ergiebig. Ob sich diese drei Abspaltungen auch gegenseitig beeinflusst haben, wurde bislang kaum thematisiert – unübersehbare Folge des Stillstands religionshistorischer Forschungen nach 1917. 3. Die bisherige Religionsgeschichte isoliert; sie missachtet den interreligiösen Dialog. Zu sowjetischen Zeiten wurden Kirchen- und Geistesgeschichte systematisch vereitelt, wenn nicht verfolgt. Wer als russischer Historiker der Kirchengeschichte auch nach 1917 die Treue hielt, fand sich alsbald im Gulag wieder. Ein Fach stand auf dem Index – und starb aus. Es hat daher seinen guten Grund, wenn Osteu- ropa zur Kirchengeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert kaum etwas beisteuern konnte. Abgesehen von wenigen Werken aus der Emigration hat die russische Kirchengeschichtsschreibung vor der Revolution ihre Bedeutung daher bis heute bewahrt: Nicht weil sie so gut war, sondern weil sie konkurrenzlos blieb. Nach dem Ende der Sowjetunion nimmt die Zahl der religionsgeschicht- lichen Veröffentlichungen zwar deutlich zu; bei näherem Hinse- hen aber stellt sich heraus, dass es den Autoren oftmals um Hei- matkunde geht – aufgrund der andauernden Isolation auch wenig erstaunlich.