ebook img

Pieter Bruegel: Landschaft mit Ikarussturz. Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus PDF

88 Pages·1990·4.891 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Pieter Bruegel: Landschaft mit Ikarussturz. Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus

Pieter Bruegel Landschaft mit | Ikarussturz | Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus | Von Beat Wyss | Fischer o Über das Buch Das Gemälde eröffnet den Blick auf das letzte der Vier Weltzeitalter: das Eiserne. Es ist sehr wohl anzunehmen, daß der Künstler in der eigenen Zeit einen Niedergang, ähnlich der Ovidschen Überlieferung, erkannt hat. Die Religionskämpfe, die Abdankung des habsburgi¬ schen Kaisers, die bornierte und blutige Bevormundung der Niederlande durch das katholische Spanien mußten dem Humanisten Zeichen sein für den Zerfall der abendländi¬ schen Kultur. Bruegel empfand wohl wie Erasmus von Rot¬ terdam : den reformatorischen Zielen gegenüber zwar aufge¬ schlossen, fürchteten sie angesichts des entfesselten Reli¬ gionsstreits um die Einheit des christlichen Europas. Nach¬ träglich kann man im Ikarussturz die düstere Prophetie vom Niedergang der Menschheit sehen, die real sich im Dreißig¬ jährigen Krieg erfüllen sollte. Da die Inquisition allein die verordnete Zuversicht duldet, mußte Bruegel die pessimistische Aussage verschlüsseln. Er war ein vorsichtiger Mensch; auf dem Sterbebett trug er seiner Frau auf, die offenbar zeitkritischen Werke zu ver¬ brennen. Hat der „Ikarussturz“ das Autodafe überdauert, weil er für hinreichend verschlüsselt galt ? Oder mußte er vor dem Gesinnungsterror des Brüsseler Blutrats versteckt wer¬ den? Das Gemälde kam erst 1912 zum Vorschein. Es gibt ikonographische Indizien, wonach das Bild selbst zur schlauen Verschwiegenheit rät. In der Grundstimmung be¬ kennt sich das Werk zum Stoizismus, einer Geisteshaltung, welche die Zivilisationsgeschichte des frühen Bürgertums kennzeichnet. Der Autor Beat Wyss, 1947 geboren in Basel, studierte Kunstgeschichte, Philosophie und deutsche Literatur in Zürich, Berlin und Rom. Publikationen auf dem Gebiet der Architekturgeschichte, der neueren Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Er schrieb das Buch: Trauer der Vollendung, Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkri¬ tik an der Moderne, München. Er wirkt als Professor für Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum, Verlags¬ lektor und Herausgeber. Pieter Bruegel Landschaft mit Ikarusstutz Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus Von Beat Wyss Fischer Taschenbuch Verlag kunststück Herausgegeben von Michael Diers Begründet von Klaus Herding 5.-6. Tausend: März 1994 Frontispiz: Pieter Bruegel, Der Maler und der Kenner. Federzeichnung Graphische Konzeption: Max Bartholl und Christoph Krämer Lektorat: Wolfgang Balk Bildredaktion: Carmen Durrant Originalausgabe: Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, April 1990 © 1990 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: Fotosatz Weihrauch, Würzburg Druck: Wagner GmbH, Nördlingen Bindung: G. Lachenmaier, Reutlingen Printed in Germ an y ISBN 3-596-23962-1 Rezeptionsgeschichtliches Nachspiel zu Beginn Der Sturz des Ikarus (Falttafel) von Pieter Bruegel dem Älteren gehört zu den ersten Bilderinnerungen meiner Kindheit. Ob er auf dem Karton eines Abreißkalenders abgebildet war, könnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen; daß er irgendwo längere Zeit herumgelegen oder gehangen hat, muß ich annehmen, denn meine Erinnerung verbindet sich mit dem Gefühl eines gewohnheitsmäßigen, bald flüchtigen, bald wieder genau beobachtenden Hin¬ sehens. In meinem Erinnerungsbild, von der Patina der Halbvergessenheit vielleicht noch eingetrübt, herrscht das Dämmerlicht eines beleuchteten Aqua¬ riums. Ich glaubte zu sehen, daß vor einer zum Meer hin geöffneten Berglandschaff eben der Mond auf¬ gegangen sei, und ich wunderte mich, daß der Bauer bei hereingebrochener Nacht noch pflügte. Sein Tun hatte etwas gespenstisch Somnambules, und ich sehnte mich nach der Heimlichkeit, die jene zwei Städte am Horizont wie ferntönende Melodien hin¬ ter den verschatteten Mauern versprachen. Doch im Verlauf meiner gewohnheitsmäßigen Begegnun¬ i Pieter Bruegel, Landschaft gen mit dem Bild wich, erinnere ich mich, die Ver¬ mit Ikarussturz, Brüssel, wunderung allmählich einer gewissen Verachtung Musees Royaux, Detail über jenen Tölpel von Bauer (Ahb. 1), der ohne Sinn für die atemberaubende Weite der Welt einem Pferdehintern nachtrottete, während doch an der Küste ein Schiff in die Mondhelle hineinrauschte mit knatternd aufgeblähtem Segel! Ich erinnere mich nicht, dem Sturz des Ikarus ins Meer große Beachtung geschenkt zu haben - oder war es ein Ma¬ trose, der mit einem Kopfsprung von der Reling ein Bad nahm? Immer aufdringlicher stand mir dieser Bauer mit den roten Ärmeln im Vordergrund, und für mich war klar: ich würde, statt zu pflügen, lieber unter die Seeräuber gehen. 5 Das kindliche Erinnerungsbild war unter der Last angehäuften Kunstwissens abgetaucht; ich staunte, als es plötzlich wieder da war, während ich in den Musees Royaux des Beaux-Arts von Brüssel vor dem Original stand. Ich gestehe: Der Abreißkalen¬ der damals war mir weiter und geheimnisvoller vor¬ gekommen. Da hing es, kleiner als ich mir vorge¬ stellt hatte, zu klein jedenfalls, um allein die Stirnsei¬ te des Bruegel-Saals erfüllen zu können, hinter Glas, das die abgewetzte Farbe noch stumpfer erscheinen läßt. Walter Benjamins These vom Verkümmern des auratischen Kunstwerks1 ist zumindest einseitig: Im Zeitalter der massenhaften Reproduzierbarkeit durch die Fotografie verliert zwar das künstlerische Original seine Aura; diese aber springt auf die Re¬ produktion über. Man hat heute meist nur Abbil¬ dungen, keine Gemälde mehr vor Augen, und wer mit einem Bild im Kopf vor das Gemälde tritt, ent¬ deckt Dinge, welche die Reproduktion verschwieg: das bescheidene Format, eine ungünstige Hängung, das Beschädigtsein - alles, was die körperliche Seite des Kunstwerks ausmacht, wird durch Gewöh¬ nung an die Reproduktionstechnik als störend empfunden. Die Aura der Hochglanzabbildungen und der leuchtenden Diapositive hat eine Strahl¬ kraft, die ein Original kaum besitzt. Beim Ikarus¬ sturz ist diese Differenz um so auffälliger, als die Tex¬ tur sich in einem erbärmlichen Zustand befindet. Ir¬ gendwann wurde die Leinwand gedoppelt; bei die¬ ser riskanten Operation ging der ursprüngliche Pin¬ selstrich, ja selbst die malerische Substanz weitge¬ hend unter, was die Retuschen an einigen Stellen nur notdürftig wettmachen.2 Die Ernüchterung über die Kleinheit des Originals hängt nicht zuletzt auch mit dem Motiv zusammen: Die Überschau¬ landschaft suggeriert Weite, welche im Medium der Fotografie sich gut überträgt und durch deren Glätte noch gesteigert wird. Vor dem Original hin- 6 gegen stößt die Projektion der Weite sich immer wieder an der Realität des Bildrahmens. Die Vorstel¬ lung atmosphärischer Räumlichkeit verdampft und gerinnt, unter genauem Hinsehen, zur opaken Farb- fläche mit ihren Verletzungen, Sprödigkeiten und Reparaturen. Doch es ist nicht nur die Aura der technischen, son¬ dern auch die Aura der ideellen Reproduktion, die einem Original zusetzen. Peter Bruegels Sturz des Ikarus gehört zu den Ikonen der Kunstgeschichte, die ihren Museen als Aushängeschilder dienen. Ob¬ wohl an dem Werk gerade die Farbe nur fragmenta¬ risch überliefert ist, wirbt der Brüssel-Baedeker mit einer Farbreproduktion vom Ikarussturz für die Musees Royaux des Beaux-Arts. Eine Kopie des Ge¬ mäldes, zierlich aufgestellt auf einer Staffelei, als hätte der Meister noch nach seiner Grablegung da¬ ran zu arbeiten, steht in der Nische der Notre-Dame de la Chapelle. Bruegel darf keine Ruhe finden, son¬ dern muß als guter Geist der Stadt auch posthum seinen Dienst tun. Die benachbarte Jugendherberge trägt seinen Namen, und anläßlich der alljährlichen Bruegel-Feste im September preisen die Wirte ihre gastronomischen Produkte auf Speisekarten mit durchgepausten Motiven des Bauernmalers an. So unbekümmert, wie heute Bruegels Ikarussturz vom Tourismus vereinnahmt wird, hat die klassi¬ sche Bruegel-Literatur der ersten Hälfte des 20 .Jahr¬ hunderts das Gemälde nicht aufgenommen. Als das Werk 1912 im Londoner Kunsthandel auftauchte, reagierte die Fachwelt kontrovers;3 jedoch scheint, gerade die Umstrittenheit habe das Interesse am Ge¬ mälde gesteigert und es mit dem Dunst des Ge¬ heimnisvollen umflort. Die Pilgerfahrt zu Bruegel wurde noch attraktiver, seit die zweite, 1935 aufge¬ tauchte Version (Abb. 2) sich in derselben Stadt Brüssel befindet: ausgestellt im Salon der Privat¬ sammlung Alice und David Van Buuren. Der Streit, welche Version die authentische sei, ist noch nicht 7 entschieden; engagierte Anwälte und Parteigänger 2 Pieter Bruegel (zugeschriebmy haben beide.4 Am schroffsten gegen eine Zuschrei- Landschaft mit Ikarussturz, bung an Bruegel äußerte sich Gotthard Jedlicka: ^rüssft Collection »Von einer schreienden Schwächlichkeit« sei die Figur des Bauern, und der Landschaftsaufbau zeuge von der »Lieblosigkeit des Kopisten«. Beide Versio¬ nen hält Jedlicka für Kopien eines verschollenen Originals. Edouard Michel schreibt die Gemälde ei¬ nem >Pseudo-Bruegel< zu. Für Eigenhändigkeit hin¬ gegen plädiert Max Friedländer, der im Ikarussturz gar »das letzte Wort« des Meisters zu vernehmen glaubt.5 Auch über die Chronologie herrscht Unei- 8

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.