LEHRBÜCHER UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER EXAKTEN WISSENSCHAFTEN 20 REIHE DER GRUNDLEHREN DER EXAKTEN WISSENSCHAFTEN BAND I PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN DER QUANTENMECHANIK VON HANS REICHENBACH PROFESSOR DRR PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITlT VON KALIFORNIEN IN LOS ANGELES INS DEUTSCHE ÜBERSETZT VON MARIA REICHENBACH Springer Basel AG 1949 Nachdruck verboten. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten ISBN 978-3-0348-4057-6 ISBN 978-3-0348-4130-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-0348-4130-6 Copyright 1949 by Springer Basel AG Ursprünglich erschienen bei Verlag Birkhäuser, Basell949. Softcoverreprint ofthe bardeover 1st edition 1949 VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE Durch die Initiative des Verlages Birlchäuser ist es möglich geworden, mein Buch einem deutschsprachigen Leserkreis zugänglich zu machen. Die Über setzung des in englischer Sprache niedergeschriebenen Textes wurde von meiner Frau, MARIA REICHENBACH, nach sorgfältiger Diskussion der zu wählenden Terminologie ausgeführt. Es schien mir im allgemeinen nicht notwendig, nennenswerte Änderungen des Textes vorzunehmen. Doch sind am Ende des § 36 einige Betrachtungen hinzugefügt worden, die sich nicht in der englischen Ausgabe befinden und die auf kritische Bemerkungen zurückgehen, für welche ich Herrn "Professor W. PAULI in Zürich zu großem Dank verpflichtet bin. Los Angeles, Juni 1949. HANS REICHENBACH VORWORT ZUR ENGLISCHEN AUSGABE Zwei große gedankliche Schöpfungen haben der modernen Physik ihre heu tige Gestalt gegeben: die Relativitätstheorie und die Quantentheorie. Die erste ist im großen und ganzen die Entdeckung eines Mannes gewesen, denn das Werk ALBERT EINSTEINS steht einzig da, trotzaller Beiträge anderer Wissenschaftler, wie z. B. der Arbeiten von HENDRIK ANTON LoRENTZ, die sehr nahe an die Grundlagen der speziellen Relativität herankamen, oder der vierdimensionalen Deutung von HERMANN MINKOWSKI, welche der Theorie ihre geometrische Form gab. Anders ist es mit der Quantentheorie, die aus der Zusammenarbeit mehrerer Wissenschaftler hervorgegangen ist, von denen jeder einen wesent lichen Teil beigetragen, aber in seiner Arbeit auch von den Ergebnissen der an deren Gebrauch gemacht hat. Die Notwendigkeit einer solchen Zusammenarbeit scheint tief im Gegen stand der Quantentheorie verwurzelt zu sein. Erstens war die Entwicklung die ser Theorie wesentlich abhängig von Beobachtungsresultaten und der Genauig keit der erhaltenen Zahlenwerte. Ohne die Hilfe einer Legion von Experimental physikern, die Spektrallinien photographierten oder das Verhalten elementarer Massenteilchen mit Hilfe von komplizierten Instrumenten beobachteten, wäre es, selbst nachdem ihre Grundlagen bekannt waren, unmöglich gewesen, die Quantentheorie durchzuführen. Zweitens sind diese Grundlagen in ihrer logi schen Form von denen der Relativitätstheorie sehr verschieden, denn sie sind nie in die Form eines einheitlichen Prinzips gebracht worden, nicht einmal, nachdem die Theorie vollständig ausgearbeitet war. Sie setzen sich vielmehr 6 Vorwort aus mehreren Prinzipien zusammen, die unstrotzihrer mathematischen Ele ganz nicht auf den ersten Blick überzeugen, wie· es z. B. für das Prinzip der Relativität der Fall ist. Schließlich weichen sie auch viel weiter von den Prin zipien der klassischen Physik ab, als die Relativitätstheorie es je in ihrer Kritik von Raum und Zeit getan hat; abgesehen von einem Übergang von Kausal gesetzen zu Wahrscheinlichkeitsgesetzen bedeuten sie eine philosophische Neu orientierung hinsichtlich der Existenz unbeobachteter Objekte, ja sogar der Grundlagen der Logik, und reichen bis an die tiefsten Wurzeln der Erkenntnis theorie heran. Wir können vier Phasen in der Entwicklung der theoretischen Form der Quantenphysik unterscheiden. Die erste Phase ist mit den Namen MAX PLANCK, ALBERT EINSTEIN und NILS BoHR verknüpft. Nach PLANCKS Ein führung der Quanten im Jahre 1900 kam EINSTEINS Ausdehnung des Quanten begriffs auf die Strahlung in der Form der Annahme einer Nadelstrahlung (1905). Den entscheidenden Schritt machte jedoch BoHR mit seiner Anwen dung der Quantenidee auf die Deutung der Atomstruktur (1913), die eine neue Welt physikalischer Entdeckungen eröffnete. Die zweite Phase, die 1925 begann, stellt das Werk einer jüngeren Genera tion dar, die in der Physik von PLANCK, EINSTEIN und BOHR erzogen worden war und dort anfing, wo die ältere Generation aufgehört hatte. Es ist erstaun lich, daß sich im Anfang dieser Phase, welche zur Quantenmechanik führte, niemand genau im klaren war, was dieses Unternehmen wirklich bedeutete. Louis DE BROGLIE führte Wellen ein, die die Teilchen begleiteten; ERWIN ScHRÖDINGER, der sich von mathematischen Analogien mit der Wellenoptik leiten ließ, entdeckte die beiden fundamentalen Differentialgleichungen der Quantenmechanik; MAx BoRN, WERNER HEISENBERG, PASCUAL JoRDAN und, unabhängig davon, PAUL A. M. DIRAC konstruierten die Matrizenmechanik .. die jeder Wellendeutung zu spotten schien. Diese Periode stellt einen über raschenden Triumph mathematischer Technik dar, welche, meisterhaft an gewandt und mehr durch physikalischen Instinkt als durch logische Prinzipien geleitet, den Pfad zur Entdeckung einer Theorie zeigte, die in der Lage war, alle Beobachtungsdaten einheitlich wiederzugeben. All dies geschah in sehr kurzer Zeit; schon im Jahre 1926 hatte die mathematische Struktur der neuen Theorie eine festumrissene Form angenommen. Die dritte Phase folgte unmittelbar darauf; sie bestand in der physika lischen Deutung der erhaltenen Resultate. SCHRÖDINGER zeigte die Identität der Wellenmechanik und der Matrizenmechanik; BORN erkannte die Wahr scheinlichkeitsinterpretationder Wellen; HElSENBERG sah, daß der mathema tische Mechanismus der Theorie eine nicht zu überwindende Ungewißheit von Voraussagen und eine Störung des Objekts durch die Messung in sich schließt. Hier griff nun BOHR wieder in das Werk der jüngeren Generation ein und zeigte, daß die durch die Theorie gelieferte Naturbeschreibung eine spezifische Zwei deutigkeit offenließ, der er den Namen Komplementaritätsprinzip gab. Die vierte Phase dauert bis auf den heutigen Tag und ist mit Untersuchun gen angefüll~, welche die bisher erhaltenen Ergebnisse in immer größerem Vorwort 7 Ausmaße anwenden und auf neue experimentelle Resultate ausdehnen. Diese Erweiterungen sind mit mathematischen Verfeinerungen verbunden, unter welchen die Anpassung der mathematischen Methode an die Forderungen der Relativität besonders im Vordergrund steht. Wir wollen aber hier von diesen Problemen absehen, da wir es uns zur Aufgabe gemacht haben, die logi~hen Grundlagen der Theorie aufzuzeigen. In der Phase der physikalischen Deutung wurde auch die Neuartigkeit der logischen Form der Quantenmechanik erkannt. Es war in dieserneuen Theorie etwas geschehen, was im Widerspruch mit allen traditionellen Begriffen von Erkenntnis und Wirklichkeit stand. Trotzdem war es nicht einfach, das, was sich ereignet hatte, zu formulieren, d. h. der Theorie eine philosophische Deutung zu geben. Auf Grund der physikalischen Deutung wurde von den Physikern eine Philosophie zum allgemeinen Gebrauch entwickelt, die von der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt sprach, oder von Bildern der Wirklichkeit, die vage und unbefriedigend bleiben müssen, oder vom Operationalismus, der zufrieden ist, wenn richtige Beobachtungsvoraussagen gemacht werden und jede Deutung als unnötigen Ballast über Bord wirft. Solche Vorstellungen können recht brauchbar dazu sein, die rein technische Arbeit des Physikers fortzuführen; aber es kommt uns vor, als ob der Physiker sich mit dieser Philo sophie immer ein bißeben geniert habe, wenn er den Versuch machte, sich wirklich darüber bewußt zu werden, was er eigentlich tat. Er merkte dann nämlich, daß er sozusagen über die dünne Eisschicht eines nur leicht gefrore nen Sees lief, und wurde sich darüber klar, daß er jeden Augenblick einbrechen konnte. Dieses Gefühl der Unsicherheit hat den Verfasser veranlaßt, nach einer philosophischen Deutung der Grundlagen der Quantenmechanik zu suchen. Wohl wissend, daß die Philosophie nicht versuchen soll, physikalische Ergeb nisse zu entdecken, hat er doch geglaubt, daß eine logische Analyse der Physik möglich ist, die sich nicht mit verschwommenen Begriffen und zweifelhaften Ausreden zufrieden gibt. Die Philosophie der Physik sollte so sauber und klar sein wie die Physik selbst. Sie sollte sich weder in Gedankengebilde einer spe kulativen Philosophie versteigen, die im Zeitalter des Empirismus unmodern erscheinen muß, noch die operationale Form des Empirismus benutzen, um Problemen der Logik der Interpretationen aus dem Wege zu gehen. Von diesen Gedanken ausgehend, hat der Verfasser in dem vorliegenden Buch versucht, eine philosophische Interpretation der Quantenphysik zu entwickeln, die frei von Metaphysik ist und uns trotzdem erlaubt, die quantenmechanischen Er gebnisse als Aussagen über eine atomare Welt anzusehen, die ebenso wirklich ist wie die gewöhnliche physikalische Welt. Es ist kaum nötig, zu betonen, daß diese philosophische Analyse von tiefster Bewunderung des großen Werkes der Physiker getragen ist und sich nicht an maßt, in die Methoden der physikalischen Forschung einzugreifen. Was mit diesem Buche beabsichtigt ist, ist nur eine Klärung von Begriffen, und man darf daher in der vorliegenden Darstellung keinerlei Beitrag zur Lösung physika lischer Probleme erwarten. Während die Aufgabe der Physik darin besteht, die 8 Vorwort physikalische Welt zu analysieren, besteht die Aufgabe der Philosophie in einer Analyse unseres Wissens von der physikalischen Welt. Unser Buch möchte in diesem Sinne philosophisch sein. Die Einteilung des Buches ist so geplant, daß der erste Teil die allgemeinen Gedanken darstellt, auf welche die Quantenmechanik begründet ist; dieser Teil gibt daher einen Überblick über unsere philosophische Interpretation und faßt ihre Resultate zusammen. Die Darstellung setzt weder mathematische Kenntnisse noch eine Bekanntschaft mit den Methoden der Quantenphysik voraus. Im zweiten Teil geben wir die mathematischen Methoden der Quanten mechanik im Umriß wieder; dieser Teil ist so geschrieben, daß die Kenntnis der Differentialrechnung den Leser in die Lage versetzen sollte, die Darstellung zu verstehen. Da wir heute eine Anzahl ausgezeichneter Textbücher über die Quantenmechanik besitzen, könnte dieser Teil überflüssig erscheinen; wir fügen ihn aber ein, um den Weg zu den mathematischen Grundlagen der Quanten mechanik für alle diejenigen abzukürzen, welche keine Zeit zum gründlichen Studium des Gegenstandes haben oder in einem kurzen Rückblick sich noch einmal der Methoden vergewissem möchten, die sie in vielen Einzelproblemen angewandt haben. Unsere Darstellung macht selbstverständlich keinerlei An spruch auf Vollständigkeit. Der dritte Teil handelt von den verschiedenen In terpretationen der Quantenmechanik, und wir machen hier sowohl von den philosophischen Ideen des ersten Teils als auch von den mathematischen For mulierungen des zweiten Teils Gebrauch. Wir diskutieren darin die Eigen schaften der verschiedenen Interpretationen und konstruieren mit Hilfe einer dreiwertigen Logik eine Interpretation, die uns als die adäquatelogischeForm der Quantenmechanik erscheint. Ich bin Dr. VA LENTIN BARGMANN vom Institute of Advanced Studies in Princeton zu großem Dank für seinen Rat in mathematischen und physika lischen Fragen verpflichtet; zahlreiche Verbesserungen, besonders im zweiten Teil, wurden auf seine Anregung hin gemacht. Ich danke auch Dr. NoRMAN C. DALKEY von der University of Califomia at LosAngelesund Dr. ERNEST H. HuTTEN, früher in Los Angeles, jetzt an der Universität von Chicago, für die Gelegenheit, mit ihnen Fragen logischer Natur zu diskutieren, und für ihre Hilfe in Angelegenheiten des Stils und der Terminologie. Schließlich danke ich auch den Mitarbeitern der University of Califomia Press für ihre Sorgfalt und Rücksichtnahme bei der Herausgabe des Buches und für die Freizügigkeit, mit der sie meinen Wünschen hinsichtlich gewisser Abweichungen von der tra ditionellen Interpunktion entgegengekommen sind. Die in diesem Buch entwickelten Gedanken, einschließlich des in § 32 ein geführten Systems einer dreiwertigen Logik, sind vom Verfasser auf dem Unity-of-Science-Kongreß an der Universität Chicago am 5. September 1941 vorgetragen worden. · Department of Philosophy, HANS REICHENBACH University of Califomia, Los Angeles; Juni 1942. 9 INHALT Erster Teil. Allgemeine Betrachtungen § 1. Kausalgesetze und Wahrscheinlichkeitsgesetze 11 § 2. Die Wahrscheinlichkeitsverteilungen 15 § 3. Das Unbestimmtheitsprinzip . . . . . . . . 19 § 4. Die Störung des Objekts durch die Beobachtung 25 § 5. Die Bestimmung unbeobachteter Objekte 29 § 6. Wellen und Korpuskeln . . . . . . . . . . . 32 § 7. Analyse eine~ Interferenzexperiments . . . . . 36 § 8. Erschöpfende und einschränkende Interpretationen 45 Zweiter Teil. Mathematische Grundzüge der Quantenmechanik § 9. Entwicklung einer Funktion in eine Reihe von orthogonalen Funk- tionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 § 10. Geometrische Interpretation im Funktionenraum . . . . . . . . 66 § 11. Umkehrung und Hintereinanderschaltung von Transformationen 71 § 12. Funktionen mehrerer Variablen und der Konfigurationsraum 77 § 13. Ableitung von ScHRÖDINGERS Gleichung aus DE BROGLIES Prinzip 79 § 14. Operatoren, Eigenfunktionen und Eigenwerte physikalischer Größen 86 § 15. Die Vertauschungsregel . . . . . . . . . . . 89 § 16. Operatormatrizen . . . . . . . . . . . . . . 92 § 17. Bestimmung der Wahrscheinlichkeitsverteilungen 94 § 18. Zeitabhängigkeit der !p-Funktion . . . . . . . 99 § 19. Transformation auf andere Zustandsfunktionen . 104 § 20. Bestimmung der !p-Funktion aus Beobachtungen lOS § 21. Mathematische Theorie der Messung. . . . . . 109 § 22. Die Wahrscheinlichkeitsregeln und die Störung durch die Messung 115 § 23. Vom Wesen der Wahrscheinlichkeit und statistischer Mengen in der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Dritter Teil. Interpretationen § 24. Vergleich der klassischen und der quantenmechanischen Statistik 125 § 25. Die Korpuskelinterpretation . . . . . 131 § 26. Die Unmöglichkeit einer Kettenstruktur . . . . . . . 136 § 27. Die Welleninterpretation . . . . . . . . . . . . . . 143 § 28. Beobachtungssprache und quantenmechanische Sprache 150 10 Inhalt § 29. Interpretation mit Hilfe einer einschränkenden Sinnesdefinition . 154 § 30. Interpretation mit Hilfe einer dreiwertigen Logik 159 § 31. Die Regeln der zweiwertigen Logik . . . . . . . . 162 § 32. Die Regeln der dreiwertigen Logik. . . . . . . . . 164 § 33. Unterdrückung kausaler Anomalien mit Hilfe einer dreiwertigen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 § 34. Unbestimmtheiten in der Beobachtungssprache . 182 § 35. Die Begrenzung der Meßbarkeit . 184 § 36. Verschränkte Systeme. 185 § 37. Schlußbetrachtungen 194 Sachregister . . . . . . . . 195