Linzer Universitätsschriften Festschriften Monographien Studientexte Monographien Band 15 Springer-Verlag Wien GmbH Philosophische Betrachtungen und Wissenschaftstheoretische Analysen Rudolf Wohlgenannt 1993 Springer-Verlag Wien GmbH o. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Wohlgenannt Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie A-4040 Linz, Johannes-Kepler-Universität Linz Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Linzer Universitätsschriften-Vereins übersetzt oder in irgendeiner Form vervielfältigt werden. © 1993 by Springer-Verlag Wien Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Wien -New York 1993 ISSN 0720-8790 ISBN 978-0-387-82496-3 ISBN 978-1-4899-3780-3 (eBook) DOI 10.1007/978-1-4899-3780-3 Vorwort Die einzelnen Artikel dieses Buches sind teilweise zu ganz unter schiedlichen Zeiten entstanden, aber alle sind innerhalb der letz ten Monate ausformuliert worden. Es handelt sich bei einigen Bei trägen, so vor allem bei jenen, die unter den Begriff einer "wissen schaftstheoretischen Analyse" fallen, um ausführliche Untersu chungen, deren Zweck es war, auch dort schon notwendige Klä rungen herbeizuführen, wo eine Erweiterung der Analysen durch Einbeziehung der aktuellsten Diskussion sinnvoll sein hätte kön nen. Die zu den "philosophischen Betrachtungen" gehörenden Themen, vor allem das Kapitel "Sinnproblem ", stellen Kurzfas sungen oder Vorwegnahmen eingehender Reflexionen dar, bei denen ich jedoch nicht annehme, noch zu wesentlich anderen Er gebnissen zu kommen bzw. kommen zu müssen.- Die knappe Be handlung einzelner Punkte, die teilweise sogar umfassende Grundfragen der Philosophie betreffen, läßt manches allzu apo diktisch formuliert und inhaltlich verkürzt erscheinen, aber ich meine, der Leserschaft dafür oder damit auch neue Gedanken und weiterführende, vielleicht sogar problemlösende Ideen anbieten zu können. Herrn Univ.-Prof. Dr. Richard Holzhammer habe ich für seine umfassende Beschäftigung mit dem Manuskript, woraus zahlrei che kritische Hinweise und wertvolle Anregungen resultierten, und für seine unerschöpfliche Hilfsbereitschaft mehr zu danken, als ich es hier jemals auszudrücken vermöchte. Ich danke Frau Mag. Karin Filzmaser und Frau Gertraud Schild für die hervorragende Arbeit, die sie bis zur Erstellung des ka merareifen Umbruchs geleistet haben, aber auch für ihr Engage ment und ihr stets freundliches Verständnis, das sie unter teil weise ungewöhnlichen, erschwerenden Bedingungen gezeigt ha ben. Linz, im Mai 1993 Rudolf Wohlgenannt Inhaltsverzeichnis Vorwort............................................................................................... V Existenzielles und wissenschaftliches Denken ................. ........ .. ... 1 Der Erkenntnischarakter der Metaphysik ...................................... 29 Metaphysik und Nicht-Metaphysik ................................................ 82 Die Stellung der Wissenschaftstheorie innerhalb der Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften .... 101 Wirklichkeitsänderung durch Wissenschaft.................................. 121 Wissenschaftsbegriff und Wirklichkeitsauffassung ...................... 123 Selbstdeutung und Selbstgestaltung ............................................... 137 Gibt es eine notwendige oder eine "absolute" Aufgabe der Philosophie?................................................................................. 142 "Aufklärung" ....................................................................................... 151 Ursprungsfrage-Weltentstehung Wer was verstehen oder wer was wissen kann?........................... 155 Auswahlbibliographie Ursprungsfrage .......................................... 160 Gott oder Zufall .................................................................................. 163 Schöpfung?.......................................................................................... 167 Entweder-Oder................................................................................. 171 Menschsein im Kosmos . .. .. .. .. .... .. .. .. .. ........ .. .. .. ...... .. ........ .. .. ........ .. .... 173 "Alles ist determiniert"....................................................................... 185 Ethik und Semantik............................................................................ 190 Zur Sinnfrage .... .. ...... .. .. .. .. .. .. . . .... .. .. . . .. .. .... .. .. .. .. ...... .. .. .. .... .. .. .. .. .... .. ..... 197 I. Einleitung . .. . . .. .. .. .. .. .. .. .. . . .. .... .... .. .. .. .. .... .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 197 II. Ist die Frage nach dem Sinn des Lebens sinnvoll?.......... 198 III. Grundpositionen ................................................................... 207 IV. Der "gewöhnliche" Sinn-Sinn im üblichen Verständnis............................................................................ 215 V. Der Übergang zur philosophischen Sinnfrage ................. 218 VI. "An sich seiender" Sinn? ..................................................... . 224 VII. Sinnberatung ........................................................................ . 226 VIII. Wer beantwortet die Sinnfrage? ........................................ . 228 IX. "Hat" das Leben einen Sinn? .............................................. . 232 X. Sinn finden oder erfinden? ................................................. . 233 XI. Glück und Sinn ..................................................................... . 235 XII. Sinn und Unsterblichkeit ................................................... .. 237 XIII. Suspendierung des Sinnzweifels ....................................... . 238 XIV. Verstand und Gefühl ........................................................... . 241 Auswahlbibliographie "Sinnproblem" ............................ ................. 248 VIII Existenzielles und wissenschaftliches Denken Mit 24 Jahren, noch vor seinem Doktorexamen, wird Friedrich Nietzsche auf Empfehlung seines Lehrers Ritschl auf eine Lehr kanzel für Klassische Philologie nach Basel berufen. In einem Brief bemerkt er dazu, der Teufel "Schicksal" locke mit einer philologi schen Professur. Noch glaubt er aber, seinen erlernten Beruf mit seiner wirklichen Bestimmung verbinden zu können: Alle und je de philologische Tätigkeit, fordert er jetzt, solle umschlossen und eingehegt sein von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt. Mit kritischen Augen sieht er nunmehr auf das Tun seiner Berufsgenossen, die er später die "Zunft der Gelehrten" nennt. So schreibt er in einer seiner Frühschriften ("David Strauß, Der Bekenner und der Schriftsteller"): "Unsere Gelehrten unterschei den sich kaum und jedenfalls nicht zu ihren Gunsten von den Ackerbauern, die einen kleinen ererbten Besitz mehren wollen und emsig von Tag bis in die Nacht hinein bemüht sind, den Acker zu bestellen, den Pflug zu führen und den Ochsen zuzu rufen. Nun meint Pascal überhaupt, daß die Menschen so angele gentlich ihre Geschäfte und ihre Wissenschaften betreiben, um nur damit den wichtigsten Fragen zu entfliehen, die jede Einsamkeit, jede wirkliche Muße ihnen aufdringen würde, eben jenen Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin. Unseren Gelehrten fällt sogar, wunderlicherweise, die allernächste Frage nicht ein: wozu ihre Arbeit, ihre Hast, ihr schmerzlicher Taumel nütze sei".l Nietzsche hat diese Frage selbst zu beantworten versucht, frei lich nicht mehr als Altphilologe, sondern bereits als Philosoph. Wir wollen nun ergründen, ob das in einer besonderen Form des wissenschaftlichen Denkens geschehen ist, das etwa den bedeut samer erscheinenden Problemen entsprechen würde, oder ob wir es als ein gänzlich anderes Denken überhaupt bezeichnen müssen. Sollten wir, so werden wir fragen, diesem Denken deswegen den Namen "existenzielles Denken" geben, weil die Gegenstände oder Probleme, mit denen es sich beschäftigt, tatsächlich oder vermeint lich bedeutsamer, "existenzieller" sind als jene des von Nietzsche kritisierten Denkens der Gelehrten? Um eine begründete Antwort geben zu können, müssen wir vorerst die Frage nach dem Wesen, der Funktion und dem wechselseitigen Verhältnis des existenziel len und des wissenschaftlichen Denkens beantworten. Das Ziel dieser Überlegungen ist, zwei unterschiedliche Denk weisen miteinander in Beziehung zu setzen. Die eine scheint dabei einen Vorrang zu besitzen, denn das Thema "Existenzielles und wissenschaftliches Denken" soll selbst auch wissenschaftlich be- 1 handelt werden. Auch über dieses Thema wollen wir Wissen er langen und vermitteln, allerdings ein Wissen, das sich auf Bedeut sameres als lediglich ein "Kopfproblem" (Nietzsche) erstreckt. Ich werde daher meine Darlegung wie folgt gliedern: I) Am Beginn sind einige Überlegungen allgemeinerer Natur über den Begriff des Denkens anzustellen. II) Daran anschließend werden die Begriffe "wissenschaftlich", "Wissenschaft" und "wissenschaftliches Denken" erläutert wer den. III) Danach werde ich das Wesen und die Eigenart des existenziel len Denkens entwickeln. IV) Darauf soll das wechselseitige Verhältnis beider Denkweisen erörtert und bestimmt werden; außerdem sind einige prinzipielle Erwägungen notwendig. I. "Denken" Die Verbindung der beiden Ausdrücke "existenziell" und "wis senschaftlich" mit dem Wort "Denken" zeigt an, in welchem um fassenden Sinn der Begriff des Denkens in den nun folgenden Überlegungen verwendet werden soll. Es könnte daher mit glei chem Recht auch von existenzieller und wissenschaftlicher "Me thode" oder "Vorgangsweise" gesprochen werden. Der Ausdruck "Denken" erhält hier eine Bedeutung, die mehr umfaßt als jedes bewußte Vorstellen oder Urteilen. Es wird auch untersucht werden müssen, ob die Verbindung der beiden Begriffe "existenziell" und "Denken" in sich selbst widersprüchlich ist. II. "Wissenschaft" -"wissenschaftlich" - "wissenschaftliches Denken" Es ist eine bekannte Tatsache, daß das Wort "Wissenschaft" Un terschiedliches bedeuten kann und daß es in sehr uneinheitlicher Weise auch tatsächlich verwendet wird. Daher gibt es mehrere Wissenschaftsbegriffe: "Wissenschaftlichkeit" wird nicht nur für das beansprucht, was wir vom philosophischen Standpunkt aus mit dem Wort "Einzelwissenschaft" bezeichnen, also nicht nur für die nicht-philosophischen Formal- und Erfahrungswissenschaften, sondern Wissenschaftlichkeit nimmt durch den Mund der mei sten und der bekanntesten ihrer Vertreter auch die Philosophie für sich in Anspruch. Dieses Interesse ist sogar derart stark, daß man che Philosophen ihre Disziplin als "die" Wissenschaft betrachten, als Wissenschaft "im strengsten und eigentlichen Sinn", so etwa Hegel, wenn er behauptet, eine Disziplin sei gerade nur in dem 2 Ausmaß Wissenschaft als sie Philosophie enthält. - Über die Recht mäßigkeit solcher Ansprüche muß und soll hier nicht geurteilt werden; es versteht sich aber von selbst, daß sie an sich geprüft werden müssen; es waren Philosophen, die sich dieser Aufgabe im mer wieder unterzogen haben. Ungeachtet aller Unterschiede in der Wissenschaftsauffassung gibt es aber auch gemeinsame Merkmale, welche die mannigfalti gen Wissenschaftsbegriffe untereinander verbinden. Sie sind ge wissermaßen die Minimalkriterien. Zusammengenommen erge ben sie ein Minimalforderungsprogramm, dem alles genügen soll te, was als "Wissenschaft" bezeichnet wird. Berücksichtigen wir vorerst die Resultate, so sind es folgende Forderungen: 1) Systemcharakter: Aneinanderreihungen von Satzfunktionen oder Aussageformen, wie sie in den Formalwissenschaften "reine" (bzw. "freie") Mathematik und "reine" Logik vorkommen, oder von Aussagen, wie in den sog. faktischen Wissenschaften bzw. Real- oder Erfahrungswissenschaften, wären noch keine Wissen schaft. Wissenschaft wird vielmehr als Beschreibungs- und Klassi fikationszusammenhang und/ oder als Begründungszusammen hang verstanden. Am besten drückt dieses Verlangen noch immer die bekannte Formulierung Kants aus: "Wissenschaft ist ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes von Erkenntnissen" - wobei sowohl "Prinzip" als auch "Erkenntnis" im Sinn der modernen Auffas sung der Wissenschaft interpretiert werden müssen. Wir sprechen daher von "Hypothesen", "Theorien", "Gesetzen", "Axiomen", "Postulaten" und "Theoremen", sowie von "Wahrscheinlichkeit", "Bestätigungsgraden" und "Bewährung". Wesentlich ist, daß nur dort von einem systematischen Zusam menhang die Rede sein kann, wo (sprachliche) Ausdrücke von unterschiedlicher Allgemeinheitsstufe vorliegen. Denn dort, wo nur singuläre Aussagen, Aussagen, die sich auf Einzelereignisse oder -zustände beziehen, oder wo nur Aneinanderreihungen belie biger Aussagen oder Satzfunktionen vorkommen, ist die System forderung nicht erfüllt. 2) Konsistenz: Dieser Zusammenhang muß jedoch als wider spruchsfrei zumindest intendiert sein, weil aus kontradiktorischen Prämissen bzw. Voraussetzungen alle überhaupt möglichen Be hauptungen (Aussagen) oder Aussageformen abgeleitet werden können. In diesem Fall wäre der systematische Zusammenhang, der jeweils als "Wissenschaft" bezeichnet wird, ohne jeden Infor mationsgehalt, da haltbare Resultate gegenüber unhaltbaren nicht mehr ausgezeichnet werden könnten. 3