P H I L O L O G US ZEITSCHRIFT FÜR DAS KLASSISCHE ALTERTUM Im Auftrage des Instituts für griechisch»römische Altertumskunde bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Herausgegeben von WOLFGANG SCHMID • OTTO LUSCHNAT ERNST GÜNTHER SCHMIDT Band 112 Heft 1/2 19 68 AKADEMIE*VERLAG / BERLIN in Arbeitsgemeinschaft mit der DIETERICH'SCHEN VERLAGSBUCHHANDLÜNG G.m.b.H. WIESBADEN INHALT von Band 112, Heft 1/2 Seite GOTTHARD STROHMAIER, Demokrit über die Sonnenstäubchen. Ein neues Fragment in arabischer Überlieferung 1 SANFORD' G. ETHERIDGE, Aristotle's Practical Syllogism and Necessity 20 DIETER IRMER, Beobachtungen zur Demosthenesüberlieferung 43 ALEXANDER KLEINLOGEL, Das Stemmaproblem 63 FRANZ QUADLBAUER, Properz 3,1 83 Miszellen HÜGH LLOYD-JCINES, Melanippides Fr. 1.1— 2 (PAGE PMG 757) 119 WESLEY E. THOMPSON, Some Thucydidean Parallels 119 J. DAVIES, A Note on the Philosopher's Descent into the Gave 121 HEINZ GERD INGENKAMP, Die Seele nach Aristoteles, EN I 13 126 ERNST GÜNTHER SCHMIDT, Nachtrag zu Epicurea fr. 314/315 Us 129 ERNST A. SCHMIDT, «MaXvjib}?. Zu Theokrit, Idyll IV 131 PETER HOWELL, Postis 132 JOHN RICHMOND, "-que que-" in Classical Latin Poets 135 T. A. DOREY, Livy XXI-XXV: Codex Oxoniensis, Bibl. Coll. Novi 278 140 RUDOLF KEYDELL, Zur Sprache des Epigrammatikers Lukillios 141 Mitteilung 145 Eingegangene Druckschriften 145 Die Mitarbeiter werden gebeten, die Manuskripte an einen der Herausgeber, Professor Wolfgang Schmid, 5301 Rött- gen bei Bonn, Am Kottenforst 39, oder Professor Otto Luschnat, 1 Berlin 41, Lessingstr. 4, oder Dozent Ernst Günther Schmidt, 69 Jena-Nord, Straße des 8. Mai 30, Korrekturen und sonstige geschäftliche Post an Dr. E. Be- chenberg, Deutsche Akademie der Wissenschaften, 108 Berlin Ü, Otto-Nuschke-Str. 22— 23, zu senden und am Schluß der Manuskripte ihre Adresse stets genau anzugeben. Der Verlag liefert den Verfassern 30 Sonderdrucke eines jeden Beitrages unentgeltlich. Bestellungen auf weitere Sonderdrucke gegen BerechnungAitten wir spätestens bei der Übersendung der Korrektur aufzugeben; ihre Bezahlung erfolgt durch Abzug vom Honorar. Verlag: Akademie-Verlag GmbH, in Arbeitsgemeinschaft mit der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung GmbH, Wiesbaden; 108 Berlin, Leipziger Str. 3-4, Fernruf 22 04 41, Telex-Nr. 01120 20, Postscheckkonto: Berlin 350 21. Bestellnummer der Zeitschrift: 1031. Die Zeitschrift erscheint jährlich in einem Band zu vier Heften. Bezugspreis je Heft im Abbonement 12, — M zuzüglich Bestellgeld. Einzelheft 12, — M, Preis des Doppelheftes 24,- M. Sonderpreis für die DDR 18,- M. Veröffentlicht ipter der Lizenznummer 1297 des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik. Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg. GOTTHARD STROHMAIER DEMOKRIT ÜBER DIE SONNENSTÄUBCHEN Ein neues Fragment in arabischer Überlieferung Überhaupt ist es gar nicht wahrscheinlich, daß Demokrit ein System gemacht habe. Ein Mann, der sein Leben mit Reisen, Beobachtungen und Versuchen zubringt, lebt selten lange genug, um die Resultate dessen was er gesehen und erfahren, in ein kunst- mäßiges Lehrgebäude zusammen zu fügen. Und in dieser Rücksicht könnte wohl auch Demokrit, wiewohl er über ein Jahrhundert gelebt haben soll, noch immer zu früh vom Tod überrascht worden seyn. Wieland, Die Abderiten In dem noch nicht edierten medizinischen Sammelwerk „Bustänu l-atibbä' wa-raudatu l-alibbä'" („Garten der Ärzte und Au der Verständigen")1 von Ibn al-Maträn (gest. 1191 n.Chr.)2 findet sich im Anschluß an eine Darstellung der Krankheitslehre bei den Epikureern folgendes Zitat: Tauqif Dlmvqrätls huwa sähibu l-habä' wa-l-agzä'i llati lä tatagazza'u yaqülu inna tarkiba l-agsäm min habä'i l-habä'i l-mabtüt fi l-hawä'i lladi yabinu fi su'ä'i s-sams. wa-min adillatihi anna l-insän idä waqafa fihi wa-hakka gismahü tasä'ada minhu mitlu dälika l-habä' wa-naqasa mina l-gild hattä 1 Vorhanden, soweit mir bekannt, in vier Handschriften: 1. Army Médical Library, Bethesda/Maryland, Nr. A 8 (vgl. D. M. SCHTJLLIAN U. F. E. SOMMER, A catalogue of incunabula and manuscripts in the Army Médical Library, New York [1951], 299) ; für die freundliche Beschaffung eines Mikrofilms bin ich PH. DE LACY zu Dank verpflichtet, die übrigen Handschriften waren mir leider nicht zugänglich; 2. Ahmadiya-Bibliothek der Zaitüna-Moschee, Tunis, Nr. 5400 (vgl. SALÂHUDDÏN AL-MUNAGGID, Masädir gadïda 'an ta'rlhi t-tibb 'inda l-'arab, Revue de l'Institut des Manuscrits Arabes 5, 1959, Nr. 145, vgl. S. 230, und S. HAMARNEH, Arabie historiography as related to the health professions in Médiéval Islam, Sudhoffs Archiv 50, 1966, 15); 3. Bibliothek des Saih Ridä as-Sabïbï, Bagdad, Nr. 1 (vgl. M. RIDÄ A§-SABIBÏ, Bustänu l-atibbä' wa-raudatu l-alibbä' au Dimasq fl 'asriha d-dahabl, La Revue de l'Académie Arabe [Damaskus] 3, 1923, 2f., und SALÄH- UDDIN AL-MTJNAGGID, a.a.O.); 4. Rampur, Nr. 1:470(29) (vgl. C. BROCKELMANN, Ge- schichte der arabischen Literatur, Suppl.-Bd. 1, Leiden 1937, 892). 2 Ein Leibarzt des aus der Geschichte der Kreuzzüge bekannten Sultans Salähuddin (Saladin), trat vom Christentum zum Islam über (s. R. WALZEB, Galen on Jews and Christians, Oxford 1949, 87—89, und S. HAMABNEH, a. a. O. 14f., dort weitere Literatur). 1 Zeitschrift „Philologus" 1/2 2 GOTTHARD STROHMAIER in dama l-hakk tasallaha l-gild. qala wa-innama dalika t-tasalluh li-naqs mä hariba min binä'i l-badan bi-tilka l-agzä'i llati lä tatagazza''1. „Feststellung des Demokrates — das ist der Mann mit dem Staub und den Teilen, die nicht geteilt werden —, er sagt: Die Zusammensetzung der Körper ist aus dem ganz feinen Staub, der in der Luft verteilt ist und der im Sonnenstrahl sichtbar wird. Ein Beweis dafür ist: Wenn man sich in ihn hineinstellt und seinen Körper kratzt, steigt von ihm solcher Staub auf und nimmt von der Haut ab, so daß die Haut abgeschält wird, wenn das Kratzen andauert. Er sagte: Und dieses Abgeschältwerden ist wegen der Verminderung dessen, was von dem Bau des Körpers aus jenen Teilen, die nicht geteilt werden, zerstört ist." Die nachfolgende Untersuchung wird zunächst auf die Frage der Echt- heit eingehen, ist es doch auf den ersten Blick verwunderlich, daß sich bei einem arabischen Autor des zwölften Jahrhunderts ein Fragment des Philo- sophen finden soll, das uns die anderen Quellen bisher vorenthalten haben. Da es nicht in der originalsprachlichen Fassung vorliegt, ist in diesem Zu- sammenhang auch zu ermitteln, wer es übersetzt hat und wie dessen Zu- verlässigkeit zu beurteilen ist. Eine Interpretation ist sinnvollerweise erst anschließend daran zu geben, sie wird sich zunächst mit den möglichen griechischen Äquivalenten der einzelnen Wörter befassen, danach soll ver- sucht werden, das neue Fragment in das bisher bekannte Material ein- zuordnen. Demokritzitate, dies sei zur Orientierung vorausgeschickt, stellen in der arabischen Literatur an und für sich nichts Ungewöhnliches dar. Sie be- gegnen vor allem in gnomologischer Literatur, die sich im syrisch-arabischen Baum einer ebenso großen Beliebtheit erfreute wie im griechischen. Auf Grund der in dieser Literatur grassierenden Namensvertauschungen, die durch sorglose Bearbeitungen und Neuzusammenstellungen verursacht wurden, muß man sich jedoch hüten, die darin erfolgte Einordnung eines Spruches oder einer Anekdote unter dem Namen eines bestimmten Philo- sophen allzu ernst zu nehmen2. Im Unterschied zu dem Material der Gno- 1 Hs. Bethesda, fol. 85v5-10. 2 Wichtige grundsätzliche Bemerkungen bei J. KRAEMER, Arabische Homerverse, Zeit- schrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 106, 1956, 287—306. Sie gelten m. E. auch für die Demokritsprüche bei as-Sahrastäni, auf die F. ALTHEIM U. R. STIEHL die Auf- merksamkeit gelenkt haben (Neue Bruchstücke Demokrits aus dem Arabischen, Wissensch. Zeitschr. d. Karl-Marx-Univ. Leipzig, Ges.- u. sprachw. Reihe 11, 1962, 567—570, und Die aramäische Sprache unter den Achämeniden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1963, 185 — 192). Besonders anschaulich ist die wertvolle Materialsammlung bei F. ROSENTHAL, Sayings of the ancients from Ibn Durayd's Kitab al-mujtanä, Orientalia N. S. 27, 1958, 29—54 u. 150-183. Demokrit über die Sonnenstäubchen 3 mologien handelt es sich aber bei dem neuen Fragment weder um eine Anekdote noch um eine knapp formulierte Sentenz, die eine allgemeine Weisheit zum Ausdruck bringen soll. Es ist vielmehr ein aus dem Zu- sammenhang gerissenes Stück einer wissenschaftlichen Beweisführung und als solches gänzlich ungeeignet, einen breiteren Leserkreis zu erbauen, wie es der Zweck der Gnomologien ist. Es ist also nicht anzunehmen, daß das Fragment bei Ibnal-Maträn aus einer solchen trüben Quelle geschöpft ist. Eine andere Möglichkeit scheint eine Angabe bei Ibn al-Qifti (gest. 1248 n. Chr.) zu eröffnen, der zufolge Schriften Demokrits über die Atome erst ins Syrische und danach ins Arabische übersetzt worden seien1. Leider nennt er keine Titel, mit Ausnahme von „Briefen", die aber im Fihrist des Ibn an-Nadlm (verfaßt 987 n. Chr.) in einer Liste alchimistischer Schriften aufgeführt werden2. Auf Demokrits Namen gefälschtes alchi- mistisches Material hat in der Tat Eingang in den syrischen und damit zugleich auch den arabischen Raum gefunden3. Wenn also arabische Autoren Angaben über Demokrit machen, so ist zunächst immer mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ihr Wissen aus einer solchen Quelle stammt. Im Falle des neuen Fragments ist dies jedoch sehr unwahrscheinlich. Es liefert ein Argument für die Atomtheorie, diese aber spielt in dem ge- fälschten Schrifttum, soweit ich es übersehe, gar keine Rolle, wie sie auch überhaupt auf die antike Alchimie ohne Einfluß geblieben zu sein scheint4. 1 Hg. v. J. LIPPERT, 182,6f. — Dies wird übrigens von dem als Gewährsmann ge- nannten Ibn Gulgul nicht bestätigt, diesem war nur zu entnehmen, daß Demokrit ein Grieche war, über die Atome schrieb und in den Tagen des Sokrates lebte (Les générations des médecins et des sages, hg. v. FTJ'ÄD SAYYID, Kairo 1955 [Publications de l'Institut Français d'Archéologie Orientale du Caire, Textes et Traductions d'Auteurs Orientaux 10], 33). 2 Hg. v. G. FLÜGEL, Bd. 1, S. 354,23. — Ob diese mit den in der Suda genannten èmaroXat (68 A 31 — das vorsokratische Material wird auch im folgenden, soweit nicht anders erforderlich, nur zitiert nach H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, hier benutzt in 7. Aufl., hg. v. W. KRANZ, Berlin 1954) identisch sind, bleibe dahingestellt. F. ALTHEIM U. R. STIEHL denken an die beiden Demokritbriefe der pseudohippokratischen Briefsammlung (Neue Bruchstücke 570; Die aramäische Sprache 192). 3 Vgl. M. BERTHELOT, La chimie au Moyen Âge, Bd. 2, Paris 1893, S. IX—XII, syr. S. 10—60, S. 19—120; dazu E. O. VON LIPPMANN, Entstehung und Ausbreitung der AI- chemie, Bd. 1, Berlin 1919, 40—46. — Weitere Belege für Demokrit als Alchimisten und auch als Geoponiker s. bei M. STEINSCHNEIDER, Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen, S. 48—53, 237 u. 380f. des Nachdr. Graz 1960. 4 Eine Ausnahme s. bei Stephanus Alexandrinus, De magna et sacra arte. Buch 6 (Physici et medici Graeci minores, hg. v. J. L. IDELER, Bd. 2, Berlin 1842, 223), worauf PAIJL KRAUS (Jäbir ibn Hayyän, Bd. 2, Kairo 1942 [Mémoires présentés à l'Institut d'Égypte 45], 10f., Anm. 3) hinweist. 1* 4 GOTTHARD STROHMAIER Wäre also der Angabe bei Ibn al-Qifti Vertrauen zu schenken, nach der echte Demokritschriften über die Atome ins Arabische übersetzt worden seien? Das neue Bruchstück kann keinesfalls als Beweis dafür dienen, denn es bietet sich für seinen Überlieferungsweg eine weitere Möglichkeit, die ihrerseits alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, nämlich die, daß es als Zitat in einer anderen griechischen Schrift enthalten war, die für uns verloren ist, aber in arabischer Übersetzung im zwölften Jahrhundert noch zugäng- lich war. Leider hat Ibn al-Maträn nicht mitgeteilt, woher er das Zitat entnommen hat. Auch an einer anderen Stelle zitiert er ein Vorsokratikerfragment ohne Angabe seiner Quelle, die sich aber in diesem Falle eindeutig ermitteln läßt und damit zugleich eine erwünschte Parallele zu dem vermuteten Über- lieferungsweg des Demokritfragments bietet. Es heißt: „Empedokles sagte: ,Mit der Erde erkennen wir die Erde, mit dem Wasser erkennen wir das Wasser, mit der Luft erkennen wir die Luft, mit dem Feuer erkennen wir das Feuer.'"1 Dies ist die zwar unpoetische, aber sachlich richtige Wieder- gabe zweier aus Aristoteles' De anima und der Metaphysik bekannter Verse: yait\i [xev yap yatav dnamayLsv, USOCTI 8' üScop, oti&ept 8' al&epa Siov, aTap 7tupl 7iöp CUSTJXOV2. Eine dort weiter zitierte dritte Zeile «TTopyqv 8e aTopyiji, vsixot; 8e rs veixe'i Auyp« fehlt bei Ibn al-Maträn, und sie fehlt auch bei Galen im siebenten Buch von De placitis Hippocratis et Piatonis, wo er das Empedoklesfragment anführt3. Ibn al-Maträn ist dieses Werk wohlbekannt, er zitiert im Kon- text eine Zusammenfassung des nämlichen siebenten Buches4. Sie, und nicht eine der beiden Aristotelesschriften, war also in diesem Falle seine Vorlage. Überhaupt ist Galen von Pergamon derjenige Autor, der im „Bustänu l-atibbä'" bei weitem am häufigsten zitiert wird. Ihm verdanken wir auch sonst einige wichtige Vorsokratikerfragmente, erinnert sei an den Um- stand, daß mit der Herausgabe der nur arabisch erhaltenen Abhandlung Über die medizinische Erfahrung zugleich ein neues Demokritzitat zugäng- lich wurde5. Es ist daher das wahrscheinlichste, daß Ibn al-Maträn sein 1 Qäla Anbäduqlus inna bi-l-ard nudriku l-ard wa-bi-l-mä' nudriku l-mä' wa-bi-l-hawä' nudriku l-hawä' wa-bi-n-när nudriku n-när (Hs. Bethesda, fol. 13r9f.). 2 31 B 109. 3 V 627,17f. KÜHN (= 625,17f. MÜLLER). 4 Hs. Bethesda, fol. 12v5f., s. auch 13v6f. 5 Galen, On medical experience, hg. v. R. WALZER, Oxford 1944 (Nachdr. 1946), Kap. IX §5 (bei DIELS-KRANZ S. S. 423). Demokrit über die Sonnenstäubchen 5 Fragment einer der Galenschriften entnahm, die heute sowohl auf griechisch wie auf arabisch verloren sind, zu seiner Zeit aber noch zugänglich waren. Zu diesen gehört das philosophische Hauptwerk De demonstratione, das Ibn al-Maträn an anderer Stelle zitiert1 und dessen Verlust für uns be- sonders bedauerlich ist. Im 9. Jahrhundert n. Chr. zählte es bei den Arabern noch zum Rüstzeug des Arztes, der auf die philosophische Vertiefung seiner Kunst Wert legte2. Daß es gerade dieses Werk war, dem das Frag- ment entstammt, wird durch den engeren Kontext des „Bustänu l-atibbä'" nahegelegt. Kurz zuvor ist von der Definition der Gesundheit und der Krankheit nach der Lehre der Atomisten die Rede, wobei auch die Namen des Herakleides (von Pontos) und des Epikur genannt werden3. In De demonstratione hatte Galen, wie Selbstzitaten zu entnehmen ist, das ganze dreizehnte Buch der Auseinandersetzung mit den Atomisten gewidmet4. Dabei wäre es nur natürlich gewesen, wenn er auch den Ahnherrn der von ihm befehdeten Richtung zu Wort kommen ließ, und gerade in einer Ab- handlung über das wissenschaftliche Beweisverfahren würde eine Polemik gegen den Wert des geschilderten Experiments seinen guten Platz gehabt haben. Wenn also das Fragment aus De demonstratione oder einer anderen Galenschrift stammt, so dürfte damit zugleich feststehen, in welchem Kreise die Übersetzung aus dem Griechischen ins Arabische erfolgt ist. Die Galenübersetzungen, die sich bei den arabischen Ärzten durchsetzten, stammen fast ausnahmslos von dem Nestorianer Hunain ibn Ishäq (809 bis 873 n. Chr.) oder seinen Schülern®. Die Güte ihrer Arbeiten steht außer jedem Zweifel, es handelt sich indes nicht um solche sklavisch genauen Übersetzungen, aus denen sich das Original Wort für Wort rekonstruieren ließe. Falls die Vermutung richtig ist, daß das Fragment dem dreizehnten 1 Hs. Bethesda, fol. 59r2—12; hier übernommen aus Hunains Schrift „Zur Entschuldi- gung Galens" (Fi l-i'tidär 'an Öällnüs, vgl. Hunain ibn Ishäq Über die syrischen und ara- bischen Galen-Übersetzungen, hg. v. G. BERGSTRÄSSER, Leipzig 1925 [Abhandlungen f. d. Kunde d. Morgenl. 17,2], Nr. 46). 2 Siehe CH. BÜRGEL, Die Bildung des Arztes. Eine arabische Schrift zum „ärztlichen Leben" aus dem 9. Jahrhundert, Sudhoffs Archiv 50, 1966, 353, 357 u. 360. 3 Hs. Bethesda, fol. 85r9 u. 12. 4 Siehe I. v. MÜLLER, Über Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, Abhandlungen d. bayer. Akad. d. Wiss., 1. Kl., Bd. 20, 2. Abt., München 1895, 471-473. - Über Galens eigene Vorstellungen vom Aufbau der Materie, in denen er sich ganz an Aristoteles an- schließt, vgl. Kommentar zu Galen, Über die Verschiedenheit der homoiomeren Körper- teile, hg. v. G. STROHMAIER (Corpus Medicorum Graecorum, Suppl. Orientale III; ih. Vorb.). 5 Siehe G. STROHMAIER, Art. Hunayn b. Ishäk, The Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Leiden—London 1960ff., Bd. 3, 578—581. 6 GOTTHARD STROHMAIER Buch von De demonstratione entnommen wurde, so ließe sich damit noch Genaueres über die Person des Übersetzers sagen. Hunain berichtet selbst, daß er von Bagdad über Damaskus bis nach Alexandrien gereist ist, um Galens philosophisches Hauptwerk zu beschaffen. Er konnte, wenn auch nicht das Ganze, so doch ansehnliche Bruchstücke davon auftreiben, die er hernach ins Syrische übertrug. Darunter befand sich auch das voll- ständige dreizehnte Buch, das einem Nachtrag zu Hunains Bericht zufolge später von seinem Sohn Ishäq ibn Hunain ins Arabische übertragen wurde1. Auf alle Fälle ist es gerechtfertigt, bei der folgenden Ermittlung einiger entscheidender griechischer Äquivalente die anderen Übersetzungstexte der Hunainschule zum Vergleich heranzuziehen. Dimuqrätis (Demokrates): Diese Namensform ist in der arabischen Literatur bei weitem häufiger anzutreffen als die ebenfalls vorkommende Form Dlmüqrltus*, die korrekte Tran- skription von AvüiÄJcpiTo?, die z. B. in den bisher herausgegebenen Galenübersetzungen der Hunainschule begegnet3. Die Schreibung Dimuqrätis, oft auch verkürzt zu Dlmuqrät oder ähnlich, scheint auf die in griechischen Handschriften verbreitete Lesart AYj(j.oxptzTr^4 zurückzugehen, die sich vor allem in den Florilegien5, aber nicht nur dort findet6. Da im Arabischen beide Namensformen geläufig waren und ihre Identität bei den philosophisch Gebildeten gleichwohl feststand, konnte es auch geschehen, daß sie im Verlauf der hand- schriftlichen Überlieferung gegeneinander vertauscht wurden, weil ein Abschreiber oder ein Benutzer die eine oder die andere Form für die korrektere hielt. Ein anschauliches Beispiel dafür liefern zwei Handschriften, die Hunains Übersetzung von Galens De elemen- tis secundum Hippoeratem enthalten7. In dieser Schrift kommt der Name Av)[x6xpiT0i; dreimal vor8, und dafür bietet die erste Handschrift jedesmal die Lesart Dlmüqrltus, die zweite aber jedesmal Dimuqrätis. Die vorliegende Form bei Ibn al-Maträn bedeutet also keineswegs, daß in der griechischen Vorlage An)[ioxpä"n)<; zu lesen war. Galen hat auf alle Fälle AT)[i6xptTO<; geschrieben. 1 Galen-Übersetzungen ..., Nr. 115. — Die von G. BERGSTRÄSSER später ausgewertete Rezension des Buches bietet zu diesem Nachtrag keine sachlichen Abweichungen (Neue Materialien zu Hunain ibn Ishäq's Galen-Bibliographie, Leipzig 1932 [Abhandlungen f. d. Kunde d. Morgenl. 19,2]). 2 Vgl. M. STEINSCHNEIDER, a. a. O. 48—53. 3 Über die medizinischen Namen, hg. v. M. MEYERHOF U. J. SCHACHT, Abhandlungen d. Preuß. Akad. d. Wiss., phil.-hist. KL, 1931, Nr. 3, arab. S. 21,4; On medical experience ..., 19,12 u. 36,15; On the parts of medicine, On cohesive causes, On regimen in acute diseases in accordance with the theories of Hippocrates, hg. v. M. LYONS, Berlin 1969 (Corpus Medicorum Graecorum, Suppl. Orientale II), 60,4. 4 Siehe dazu R. PHILIPPSON, Demokrits Sittensprüche, Hermes 59, 1924, 371 —378. 8 Vgl. 68B 35-115 u. 178, Anm. e Vgl. die Textüberlieferung von Plutarch, Non posse suaviter vivi secundum Epicurum (1100A; Moralia VI, 2, hg. v. M. POHLENZ, Leipzig 1959, 155,21 App.). 7 Aya Sofya 3593 und Aya Sofya 3701 (s. H. RITTER U. R. WALZER, Arabische Über- setzungen griechischer Ärzte in Stambuler Bibliotheken, Sitzungsberichte d. Preuß. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl., 1934, 809; Filme in der Fotothek des Corpus Medicorum Grae- corum). 8 1416,7 417,10 483,16 KÜHN (= 3,4.21 51,25 HELMREICH). Demokrit über die Sonnenstäubchen 7 huwa sähibu l-habä' uia-l-agzä'i llatl lä tatagazza'u (das ist der Mann mit dem Staub und den Teilen, die nicht geteilt werden): Ob diese Erläuterung von Ibn al-Maträn oder etwa bereits von dem Übersetzer stammt, läßt sich nicht entscheiden. Die Nennung des „Staubes" und der „Teile, die nicht geteilt werden," ist nur als eine Synonymenhäufung aufzufassen, wie sie für die arabische Übersetzungsliteratur typisch ist, beide Ausdrücke sollen durch die Nebenordnung keinesfalls begrifflich geschieden werden. Interessant ist ein Vergleich mit der arabischen Version von Galens De causis contentivis. In ihr kommen sowohl der „Staub" wie auch die „Teile, die nicht geteilt werden," in einiger Entfernung voneinander vor, und beide Ausdrücke sind die Wiedergabe desselben griechischen Wortes, nämlich &T0JX011. Im Bewußtsein des Übersetzers wenigstens bestand zwischen den beiden kein Unterschied2. Die Umschreibung „Teile, die nicht geteilt werden," ist übrigens keine Prägung der Hunainschule, sondern war bereits in islamischen Theologenkreisen ein fester Terminus3 und von daher jedem Gebildeten geläufig, wie eine Anekdote bei Hunains älterem Zeitgenossen al-Gähiz zeigt4. Daneben verfielen die Übersetzer auch auf die Wiedergabe mit dem Ausdruck fiubaibät (Körnchen)6, terminologische Konsequenz war also, wie man sieht, nicht ihre stärkste Seite. Aus diesem Grunde ist es also durchaus möglich, daß auch in dem folgenden Text des Fragments sowohl für den „Staub" wie auch für die „Teile, die nicht geteilt werden", das Äquivalent &ZO\J.OI vorauszusetzen ist. Sicher ist dies aber andererseits keineswegs; denn für den im Text des Fragments genannten „Staub" kämen als Äquivalent auch die im Zusammenhang mit Demokrits Seelenlehre von Aristoteles angeführten £6<j[jucTa (Sonnenstäubchen)6 in Betracht, die auf Grund ihrer eigentlichen Bedeutung („Schabsei", von ^to) hier besonders gut passen würden. In der dem Ishäq ibn Hunain zugeschriebenen Übersetzung von De anima sind die an der genannten Stelle tatsächlich mit habä' wiedergegeben7. Die Frage des griechischen Äquivalents ist also nicht mit Sicherheit zu entscheiden, die Bedeutung des „Staubes" kann aber, wie unten zu zeigen sein wird, aus der Interpretation des ganzen Fragments erschlossen werden. min habä'i l-habä' (aus dem ganz feinen Staub): Wörtl. „aus dem Staub des Staubes", eine paronomastische Genitivkonstruktion, wie sie für semitische Sprachen typisch ist und 1 Der griechische Text ist zwar verloren, aber aus der weitaus wörtlicheren lateinischen Übersetzung des Nikolaus von Rhegium, die beide Male „at(h)omi" bietet, in diesem Punkte sicher zu erschließen, s. On the parts of medicine, 62,13 (= 137,31) u. 68,19 (= 140,20). 2 Weitere Belege für eine terminologische Verwendung von habä', freilich nicht immer im strengen Sinne von „Atom", s. bei Kraus, Jäbir ibn Hayyän, Bd. 2, 154, Anm. 6. 3 Vgl. 0. Pretzl, Die frühislamische Atomenlehre, Der Islam 19, 1931, bes. 122f. u. 125, und S. Pines, Beiträge zur islamischen Atomenlehre, Berlin 1936, bes. 3f. 4 Kitäbu l-buhalä\ hg. v. G. van Vloten, Leiden 1900, 139,16. 5 Siehe Galen On médical experience, Kap. XV §7 (für äxojxa steht: al-hubaibät wa-hiya l-agzä'u llatl lä tatagazza'u), vgl. auch den Kontext bei Ibn al-Maträn, die Schule der Atomisten ist dort firqatu l-hubaibät (Hs. Bethesda, fol. 85r14) ; vgl. dazu noch den Ausdruök perde in einem syrischen Text von Hunains Vorgänger Sergios von Res'ainä (A. Merx, Proben der syrischen Übersetzung von Galenus' Schrift über die einfachen Heilmittel, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 39, 1885, 246). • 67 A 28 (404a 3), s. u. S. 9. 7 Aristü fi n-nafs, hg. v. A. Badawï, Kairo 1954 (Diräsät islämiya 16), 8; vgl. dazu Avicennas Referat der Stelle (Psychologie d'Ibn Sïnâ [Avicenne] d'après son œuvre as- Sifä', hg. v. J. BakoS, Bd. 1, Prag 1956, 20).