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Perspektiven der politischen Soziologie im Wandel von Gesellschaft und Staatlichkeit: Festschrift für Theo Schiller PDF

248 Pages·2008·1.216 MB·German
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Thomas von Winter · Volker Mittendorf (Hrsg.) Perspektiven der politischen Soziologie im Wandel von Gesellschaft und Staatlichkeit Thomas von Winter Volker Mittendorf (Hrsg.) Perspektiven der politischen Soziologie im Wandel von Gesellschaft und Staatlichkeit Festschrift für Theo Schiller Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1.Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2008 Lektorat:Katrin Emmerich / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15307-0 Inhalt Thomas von Winter und Volker Mittendorf: Einleitung ........................................................................................................7 I. Theoretische Perspektiven auf Staatlichkeit und Interessenvermittlung Rainer Prätorius: Neue Staatlichkeit und Interessenvermittlung ..............................................25 Thomas Noetzel: Die Ironie der Politik. Der postmoderne Staat zwischen Komödie und Tragödie...................................................................................39 Thomas von Winter: Lobbying als politischer Tauschprozess.........................................................49 II. Demokratietheorie und demokratische Praxis Michael Th. Greven: Wer kann die Demokratie bewerten? Reflexionen über das Verhältnis von politischer Wissenschaft und praktizierter Demokratie am Beispiel des Marburger Projekts „Qualifi- zierung von Demokratie“................................................................................71 Dirk Berg-Schlosser: Empirische Demokratietheorie.......................................................................87 Leo Kißler: Kooperative Demokratie. Zum Qualifizierungspotential von Bürgerengagement ................................................................................103 Wilfried v. Bredow: Demokratieexport. Von den Tücken eines Ordnungskon- zepts für die Globalisierung..........................................................................121 III. Direkte Demokratie Volker Mittendorf: Die Rolle des „Volkes“ in Konzepten direkter Demokratie und plebiszitärer Herrschaft .........................................................................139 Hans J. Lietzmann: Direkte Demokratie und die Verfassungspolitik in Europa..........................157 Bruno Kaufmann: Transnationale Direkte Demokratie in Theorie und Praxis – eine Spurensuche.......................................................................................169 Andreas Gross: Ein Ausweg aus der europäischen Verfassungskrise. Ein Blick zurück nach vorne zur Eröffnung einer neuen de- mokratischen Perspektive für Europa...........................................................177 6 Inhalt IV. Interessenvermittlung in einzelnen Politiksektoren Andreas Klages: Politikfeld Sport. Die gesellschaftspolitische Bedeutung des gemeinwohlorientierten Sports...............................................................185 Hans-Jürgen Lange: Innere Sicherheit...........................................................................................203 Norbert Kersting: Zum Siegeszug der süddeutschen Kommunalverfassung. Sackgasse oder Segen? ................................................................................221 Wolfgang Form: Planung und Durchführung west-alliierter Kriegsverbe- cherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg..................................................233 V. Anhang Schriftenverzeichnis von Theo Schiller..................................................................257 Die Autoren............................................................................................................263 Einleitung Thomas von Winter und Volker Mittendorf 1 Problemhorizonte der politischen Soziologie Politische Soziologie, verstanden als eine die Fächer Politikwissenschaft und Sozio- logie verbindende sozialwissenschaftliche Teildisziplin, thematisiert das wechselsei- tige Bedingungsverhältnis von Gesellschaft und Politik. Ihr Gegenstandsbereich ist, folgt man Theo Schillers Definition in seinem einschlägigen Handbuchbeitrag, „die Politik im Wirkungskreislauf der Gesellschaft“ (1995a, S. 419). Danach werden politische Prozesse und Strukturen einerseits von gesellschaftlichen Strukturen be- einflusst, wirken andererseits aber, vermittelt über die politischen Akteure und Insti- tutionen, auch auf die Gesellschaft zurück. Traditionell steht in der politischen So- ziologie die erste dieser beiden Perspektiven im Vordergrund. Gesellschaftliche Faktoren wie Sozialstruktur, Konflikt- und Interessenstrukturen, Werte- und Norm- strukturen sowie gesellschaftliche Machtkonstellationen bilden die Inputs des politi- schen Prozesses, die zur Erklärung für die Art und Weise des Regierens, institutio- nelle Settings, politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse herangezo- gen werden (Schiller 1995, S. 414, 420). Es wäre allerdings eine verkürzte Sichtwei- se des Bedingungsverhältnisses von Gesellschaft und Politik – und darauf hat Theo Schiller stärker als andere hingewiesen –, wenn man nur diese Inputseite in den Blick nehmen würde. Auch wenn sich z. T. schwierige Abgrenzungsprobleme zur an Inhalten orientierten Policy-Forschung ergeben, müssten Politikresultate „… in den Analysehorizont der politischen Soziologie integriert werden, soweit die Politik als Wirkungsfaktor allgemeinere Strukturmuster der Gesellschaft beeinflusst.“ (Schiller 1995, S. 469). Es geht dabei ausdrücklich nicht um spezifische Policy-Impacts, son- dern um die intendierten und vor allem auch um die nicht intendierten Folgen politi- scher Entscheidungen und Steuerungsversuche auf die gesellschaftlichen Strukturen, d. h. um die mögliche Interessenselektivität politischer Steuerung ebenso wie um die Grenzen der politischen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Gesellschaft (Schiller 1995, S. 420, 470). Die beiden Bezugsgrößen der politischen Soziologie, die gesellschaftlichen Strukturen auf der einen Seite und das politische System mit den staatlichen Institu- tionen als Kern auf der anderen Seite, sind einem ständigen Wandel unterworfen, der seinerseits Veränderungen im Wirkungskreislauf der Politik bedingt. Verschie- bungen in der Sozialstruktur, in den gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen oder im Wertgefüge erzeugen in aller Regel eine Veränderungsdynamik in den Strukturen und Handlungsmustern politischer Prozesse. Umgekehrt bleiben Veränderungen im Bereich der politischen Institutionen, in den politischen Denk- und Handlungsmus- tern nicht ohne Folgen für die Gesellschaft. Zeiten beschleunigten Wandels auf beiden Bezugsebenen erzeugen daher auch eine besondere Dynamik im Bereich politisch-soziologischer Vorgänge. Die in den letzten Jahrzehnten beobachtbaren parallelen Wandlungsprozesse in Gesellschaft und Staat stellen eine besondere Her- ausforderung für die politischen Vermittlungsprozesse und damit auch für die politi- sche Soziologie dar. Während wir es auf der einen Seite mit einer Auflösung traditi- oneller sozialstruktureller und soziokultureller Muster, einer zunehmenden Hetero- 8 Thomas von Winter und Volker Mittendorf genität von Werten und Lebensstilen zu tun haben, verändert sich unter dem Druck vor allem der Globalisierung auch das herkömmliche Bild der Staatlichkeit. Dies setzt die politischen Akteure, ihre Denk- und Handlungsmuster sowie die Organisa- tionsformen unter einen starken Anpassungsdruck. Diese Situation ist gemeint, wenn hier von der politischen Soziologie im Wandel von Gesellschaft und Staat- lichkeit die Rede ist. 2 Zum Wandel der Gesellschaft In der Perspektive auf die Sozialstruktur dominierte für einige Jahrzehnte die Auf- fassung, der Wandel hin zu einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, der bereits in den fünfziger Jahren von Schelski prognostiziert worden war, damals aber eher als Verklärung der realen Klassengesellschaft oder allenfalls als Vision erschien, sei angesichts von permanenter Wohlstandssteigerung und Bildungsexpansion ein letzt- lich unaufhaltsamer Trend, durch den die ehemals starke politische Spannungen erzeugenden sozialen Ungleichheiten in eine weniger konfliktträchtige Pluralität von Milieus und Lebensstilen überführt würden. Die in den achtziger Jahren sich entwic- kelnde Vorliebe der politischen Soziologie für Milieukonzepte hatte auch mit dieser Vorstellung eines sozusagen unaufhaltsamen Modernisierungsprozesses zu tun (Hradil 2006, S. 4). In der Tat weist bis heute, zumindest in Westdeutschland, die Sozialstruktur im Spiegel der subjektiven Schichteinstufung jenes bekannte Zwie- belmuster auf (Statistisches Bundesamt 2006, S. 594), das den Hintergrund bildet für die bekannten Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse (Geißler 2006, S. 362). Nicht nur in der Dimension der Lebensstile, sondern selbst bei harten sozial- strukturellen Faktoren, wie etwa beim Einkommen, wird eine zunehmende Plurali- tät, ablesbar etwa an der Vielfalt der Einkommensquellen der privaten Haushalte (Statistisches Bundesamt 2006, S. 589), sichtbar. Doch obwohl der Zusammenhang zwischen objektiver Soziallage und Lebensstil zumindest lockerer geworden ist, haben sich weder die Schichten noch generell die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit aufgelöst (Berger/Vester 1998, S. 24; Geißler 2006, S. 362). Seit den neunziger Jahren kommt es sogar, teils infolge der deutschen Vereinigung, aber mehr noch aufgrund der beschleunigten Globalisierung zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheit, die von manchen als ein regelrechter Kontinuitätsbruch im Modernisierungsprozess gedeutet wird (Berger/Vester 1998, S. 24). Auf der subjek- tiven Ebene ist der Trend zur Mittelstandsgesellschaft insofern gestoppt, als sich heute wieder erheblich mehr Bürger der Arbeiterschicht zuordnen, als dies noch Mitte der neunziger Jahre der Fall war (Statistisches Bundesamt 2006, S. 595). Zwar bleibt die Differenzierung der Lebenslagen und Lebensstile bestehen, aber diese erweist sich nach wie vor als in hohem Maße durch die Schichtstruktur geprägt. Traditionelle sozialstrukturelle Faktoren wie Einkommen, Beruf und Bildungsgrad haben offenbar eine weit stärkere Prägekraft, als man dies vorübergehend ange- nommen hatte (Hradil 2006, S. 4, 7). Auffällig sind zudem die Veränderungen am unteren Rand der Gesellschaft. Die Betroffenheit von Armut und sozialer Ausgren- zung hat sich in einer Weise ausgedehnt und z. T. verfestigt, die die Frage nach einer neuen Spaltungstendenz in der Gesellschaft aufwirft (Statistisches Bundesamt 2006, S. 609, 611, 621 ff.; Geißler 2006, S. 362). Zwar erscheint es übertrieben oder auch nur verfrüht, von einer neuen Unterklasse zu sprechen (Berger/Vester 1998, S. 22). Einleitung 9 Es gibt aber klar definierbare Risikogruppen, die verbreitet die Erfahrung nicht nur vorübergehender Abkoppelung vom allgemeinen Wohlstandsniveau und prekärer Lebenssituationen machen müssen (Böhnke 2005, S. 31 ff.). Tendenzen einer sozia- len Verunsicherung machen sich mittlerweile sogar bis in die Mitte der Gesellschaft hinein bemerkbar (Statistisches Bundesamt 2006, S. 623; Böhnke 2005, S. 34-36). In einer Gesellschaft, in der sich Prozesse der Individualisierung und Pluralisie- rung von Lebenslagen einerseits und eine Verschärfung und Verfestigung von sozia- ler Ungleichheit andererseits gleichzeitig vollziehen, sind traditionelle Muster der politischen Repräsentation wie der Politikgestaltung von zwei Seiten her in Frage gestellt. Die ressourcenstarken Mittelschichten zeichnen sich nicht nur durch wahl- politische Wankelmütigkeit und Unberechenbarkeit aus, sondern verbinden auch ausgesprochen differenzierte Bedürfnisse und Interessen mit einem hohen politi- schen Anspruchsniveau. Sie sind für politisches und gesellschaftliches Engagement durchaus zu gewinnen, neigen aber in immer höherem Maße dazu, Ressourcen und soziales Kapital in freizeitbezogene Aktivitäten zu investieren (Statistisches Bun- desamt 2006, S. 641). Die sozialen Randschichten bilden zwar aufgrund von Fluktu- ationen und innerer Heterogenität keine eigenständige politische Kraft (Geißler 2006, S. 362), sie verfügen aber über ein beträchtliches politisches Anomie- und Störpotenzial. Diese soziopolitische Gemengelage hat die alten Spannungslinien, die die Politik entlang von Klassen, Schichten, Berufs- und Konfessionsgruppen struk- turierte, verblassen lassen. An deren Stelle sind heute vielfältige, sich überlagernde Verteilungskonflikte getreten, bei denen sich verschiedene Generationen, Alters- gruppen, Bildungsschichten, Berufsgruppen, Regionen, Lebensstile usw. gegenüber stehen. Dies hat tendenziell eine Zersplitterung der Gesellschaft in verschiedene, sich ständig neu formierende Konkurrenzgruppen zur Folge (Hamann/Nullmeier 2006, S. 5-7). Die politischen Institutionen und die ihnen vorgelagerten gesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen werden so einem ständigen Belastungstest unter- worfen. Denn die politische Bewältigung der neuen Problemlagen ist insofern schwierig, als mit der tendenziellen „Entkoppelung zwischen objektiven und subjek- tiven Momenten der Sozialstruktur“ (Berger/Vester 1998, S. 11) die „alten“ Vertei- lungsfragen von „neuen“ Lebensstilfragen überlagert werden und daher immer komplexere, den neuen pluralisierten Lebensformen angepasste politische Lösungen gefunden werden müssen. Die Politik muss nun sowohl auf die neue sozialkulturelle Vielfalt, die die alten Milieus abgelöst hat, als auch auf alte und neue Ungleichhei- ten reagieren. An die Stelle der überkommenen, sozial wie kulturell relativ homoge- nen Kollektive ist eine fast unübersehbare Vielfalt von Erwartungen, Bedürfnissen und Interessen getreten, die sich nur schwer zu halbwegs konsistenten polischen Konzepten aggregieren lassen. Politische Mehrheitsbildung wird so zum Drahtseil- akt, der nur noch von Fall zu Fall und in wechselnden Bündniskonstellationen gelin- gen kann. Dabei besteht die Tendenz, dass sich in mittelschichtsdominierten Gesell- schaften „Mehrheiten von oben“ bilden, die politische Entscheidungen zu Lasten des sozialen Randes treffen. Jedenfalls lassen sich anspruchsvolle Ziele wie eine Ver- minderung der sozialen Ungleichheit nur noch im politisch sehr voraussetzungsvol- len breiten Konsens unter Einschluss derjenigen treffen, die eine Umverteilung zu- gunsten dieser Schichten zu finanzieren hätten (Scharpf 1993, S. 35). Dort wo die Probleme gehäuft auftreten, wo etwa die Folgen der Globalisierung und des demo- 10 Thomas von Winter und Volker Mittendorf graphischen Wandels, soziale Gegensätze und staatliche Finanzkrise in konzentrier- ter Form auftreten, wie etwa in der Kommunalpolitik, schlittert die Politik leicht in eine Legitimationskrise, aus der auch mit dem Angebot neuer politischer Partizipati- onsformen kein leichtes Entrinnen ist (Kersting in diesem Band). Eine der sich dar- aus ergebenden Fragen ist, inwieweit hier die Zivilgesellschaft kompensierend wir- ken und genügend soziales Kapital bereitstellen kann, um Defizite der an ihre Leis- tungsgrenzen geratenen öffentlichen Institutionen auszugleichen (Klages in diesem Band). 3 Zum Wandel der Staatlichkeit Im Wirkungskreislauf der Politik nimmt der Staat traditionell eine zentrale Position ein. So lange die formellen Entscheidungen in diesem Zentrum fallen, bildet der Staat selbstverständlich den Adressaten gesellschaftlicher Inputs sowie den Aus- gangspunkt politischer Einwirkungen auf die Gesellschaft. Die Frage ist aber, in- wieweit Veränderungen in den nationalen und internationalen politischen Entschei- dungsprozessen und -strukturen zu einer Aushöhlung der Staatlichkeit im traditio- nellen Sinne geführt haben. Unbestritten ist, dass der Nationalstaat seit langem schon kein Monopol mehr auf die verbindliche Entscheidung über die Verteilung gesellschaftlicher Werte besitzt, sondern sich Hoheitsrechte mit subnationalen, dar- unter auch nicht staatlichen, und supranationalen Akteuren teilt. Hauptkennzeichen dieser „neuen Architektur des Staates“ (Grande 1993, S. 53) ist eine Ausdifferenzie- rung der Souveränität, durch die die territoriale Integrität und die nationale Identität der Politik tendenziell verloren gehen. In den einzelnen Politikfeldern finden wir nun komplexe Akteurskonstellationen und vielfältige institutionelle Zuständigkeiten vor, in denen der Nationalstaat immer noch über eine Art von Vetoposition verfügt, aber eben alleine nicht mehr handlungs- oder zumindest nicht mehr entscheidungs- fähig ist (Grande 1993, S. 52 f., 64 f.). Es liegt nahe, einem sich solchermaßen auch dem staatstheoretischen Zugriff immer mehr entziehenden Gebilde ironisch zu be- gegnen und es als leere Hülle zu begreifen, die „immer aufs Neue mit Inhalt gefüllt werden muss“. Jedenfalls ist dieser Art von Staat mit überkommenen Vorstellungen von linearen Beziehungen zwischen Volk und Regierung, Volkswillen und politi- schen Entscheidungen kaum mehr beizukommen (Noetzel in diesem Band). Die variabel gewordene „Geometrie“ des Staates (Grande 1993, S. 67) verlangt auch von den gesellschaftlichen Kräften, die auf Beteiligung an den politischen Entscheidungen dringen, eine Neuorientierung und ein hohes Maß an Flexibilität. Mit steigender Komplexität der Politik ist der Staat immer stärker auf die Koopera- tionsbereitschaft der Normadressaten angewiesen, teils weil nur diese über die für die Umsetzung von Entscheidungen notwendigen Informationen verfügen, teils weil der Implementationserfolg stark von ihrer aktiven Mitwirkung abhängt (vgl. auch Voigt 1995, S. 23). Die zunehmenden internationalen Verflechtungen und die wirt- schaftliche Globalisierung haben zudem neue Steuerungsprobleme geschaffen, deren Lösung oft nur durch Einbindung der gesellschaftlichen Kräfte möglich erscheint (Benz 2001, S. 236-238). Die zunehmende Dichte von Verhandlungsprozessen im Rahmen von Politiknetzwerken, korporatistischen Arrangements, Kommissionen usw. ist Ausdruck einer Steuerungsform, bei der der Staat vornehmlich als Koordi- nator und Moderator auftritt, der die disparaten Einzelinteressen in gemeinwohlver- Einleitung 11 trägliche politische Entscheidungen zu transformieren versucht (Grande 1993, S. 51; Voigt 1995, S. 13). Der häufig so genannte kooperative Staat kompensiert seine geringer gewordene Durchsetzungskraft, indem er den organisierten Interessen eine Mitsouveränität einräumt, die diese in die Lage versetzt, in den informellen politi- schen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen als Tauschpartner des Staates zu agieren (Voigt 1995, S. 67; Grande 1993, S. 51). Ob solche Arrangements aber ein Ausdruck der Machtlosigkeit des Staates und ob beide Seiten hier wirklich gleichberechtigt sind, wie dies in der Diskussion über den kooperativen Staat gele- gentlich postuliert wurde (Voigt 1995, S. 34 f.), mag eher bezweifelt werden. Bei aller Kooperationsbereitschaft besitzt der Staat nach wie vor die Option, die Rah- menbedingungen der Zusammenarbeit weitgehend selbst zu gestalten, d. h. Ver- handlungsgremien auch wieder abzuschaffen oder ihre Zusammensetzung zu än- dern, einzelne Interessengruppen rechtlich und materiell zu fördern sowie Verhand- lungsblockaden mit der Drohung hierarchischer Steuerung aufzulösen. Dies wird vor allem deutlich in den lange Zeit von der Politikwissenschaft wenig beachteten, tradi- tionell staatsdominierten Politikfeldern, in denen Beteiligungsansprüche von gesell- schaftlichen Gruppen nicht selten abgewiesen werden (Lange in diesem Band). In der neueren Staatsdiskussion wird daher auch zunehmend davor gewarnt, von der Vielfalt der staatlich-verbandlichen Kooperationsformen umstandslos auf ein Ende der Hierarchie zu schließen. Vielmehr bewegten sich, so das plausible Argument, alle beteiligten Akteure in einem staatlichen Ordnungsgefüge, das erst die Voraus- setzungen für diese Pluralität schaffe (Prätorius in diesem Band). Was die supra- bzw. internationalen Bezüge angeht, wurde der Nationalstaat oft als Verlierer der Globalisierung dargestellt. Der internationale ökonomische Wett- bewerb habe den Staat seiner klassischen Steuerungsmittel beraubt und zwinge ihn dazu, wirtschafts- und sozialpolitische Anpassungsleitungen an die globalisierte Ökonomie vorzunehmen (Benz 2001, S. 223). Steuerungstheoretisch wird dies mit dem vermeintlich unauflösbaren Widerspruch zwischen der territorialen Begrenzung nationalstaatlichen Handelns auf der Seite und der sozusagen grenzenlosen Dynamik der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Globalisierung auf der ande- ren Seite begründet (Grande 2003, S. 283). Empirisch deutet bislang aber wenig darauf hin, dass sich der Staat zu einem Blatt im Winde der Globalisierung entwi- ckelt hat. Ein internationaler Deregulierungswettlauf der Staaten hat jedenfalls nicht stattgefunden. Vielmehr greifen der Staat und neben ihm auch gesellschaftliche Akteure aktiv in diese Prozesse ein, indem sie Globalisierungsprozesse einerseits fördern oder sogar in Gang setzen, andererseits sich ihnen entgegenstellen oder die Auswirkungen dieser Prozesse auf die nationalen Gesellschaften regulierend gestal- ten. Jedenfalls ist die unbestreitbare tendenzielle Entgrenzung von Politik, Gesell- schaft und Wirtschaft nicht gleichzusetzen mit einem völligen Souveränitäts- und Autonomieverlust des Nationalstaates (Grande 2003, S. 284, 286; Benz 2001, S. 223, 248, 250). Was jedoch bleibt, ist ein Kongruenzproblem. Auch wenn der Staat weiter über Gestaltungsoptionen für die Fortentwicklung von Globalisierungspro- zessen und die Regulierung ihrer innerstaatlichen Auswirkungen verfügt, ist doch der Einflussbereich nationalstaatlicher Politik nicht mehr deckungsgleich mit der Reichweite der gesellschaftlichen Probleme. Der Wirkungskreislauf der Politik gerät dadurch möglicherweise ins Schlingern, dann nämlich, wenn die Gesellschaft un- verändert hohe Erwartungen an den Staat richtet, dessen Steuerungskapazität aber

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