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Schriften des Historischen Kollegs Herausgegeben von der Stiftung Historisches Kolleg Kolloquien 15 R.Oldenbourg Verlag München 1989 Tradition, Norm, Innovation Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung Herausgegeben von Wilfried Barner unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner R.Oldenbourg Verlag München 1989 Schriften des Historischen Kollegs im Auftrag der Stiftung Historisches Kolleg im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft herausgegeben von Horst Fuhrmann in Verbindung mit Knut Borchardt, Lothar Gail, Alfred Herrhausen, Karl Leyser, Christian Meier, Horst Niemeyer, Arnulf Schlüter, Rudolf Smend, Rudolf Vierhaus und Eberhard Weis Geschäftsführung: Georg Kalmer Redaktion: Elisabeth Müller-Luckner Organisationsausschuß: Georg Kalmer, Franz Letzelter, Elisabeth Müller-Luckner, Heinz-Rudi Spiegel Die Stiftung Historisches Kolleg hat sich für den Bereich der historisch orientierten Wissen­ schaften die Förderung von Gelehrten, die sich durch herausragende Leistungen in Forschung und Lehre ausgewiesen haben, zur Aufgabe gesetzt. Sie vergibt zu diesem Zweck jährlich For­ schungsstipendien und alle drei Jahre den „Preis des Historischen Kollegs“. Die Forschungssti­ pendien, deren Verleihung zugleich eine Auszeichnung darstellt, sollen den berufenen Wissen­ schaftlern während eines Koliegjahres die Möglichkeit bieten, frei von anderen Verpflichtungen eine größere Arbeit abzuschließen. Professor Dr. Wilfried Barner (Tübingen) war - zusammen mit Professor Dr. Hartmut Boockmann'(Göttingen) und Professor Dr. John C. G. Röhl (Sussex/ England) - Stipendiat des Historischen Kollegs im siebten Kollegjahr (1986/87). Den Obliegen­ heiten der Stipendiaten gemäß hat Wilfried Barner aus seinem Arbeitsbereich ein Kolloquium zum Thema „Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in Deutschland vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges“ vom 18. bis 21. März 1987 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten. Die Ergebnisse des Kolloquiums werden in diesem Band veröffentlicht. Die Stiftung Historisches Kolleg wird vom Stiftungsfonds Deutsche Bank zur Förderung der Wissenschaft in Forschung und Lehre und vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft getragen. CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung / hrsg. von Wilfried Barner. Unter Mitarb. von Elisabeth Müller-Luckner. - München: Oldenbourg, 1989 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien; 15) ISBN 3-486-54771-2 NE: Barner, Wilfried [Hrsg.]; Historisches Kolleg (München): Schriften des Historischen Kollegs / Kolloquien © 1989 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung au­ ßerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-54771-2 Inhalt Einleitung................................................................................................................................... IX Wilfried Barner Verzeichnis der Tagungsteilnehmer ................................................................................. XXV I. Reich und europäische Politik Michael Stolleis Tradition und Innovation in der Reichspublizistik nach 1648 ........................ 1 Kommentar: Adalbert Wiehert......................................................................................... 14 Diskussionsbericht............................................................................................................. 16 Karl Otmar Freiherr von Aretin Die Türkenkriege als Traditionselement des katholischen Europa ............... 19 Kommentar: Michael Stolleis........................................................................................... 30 Diskussionsbericht............................................................................................................ 32 II. Literaturmodelle und Reformen Gonthier-Louis Fink Vom universalen zum nationalen Literaturmodell im deutsch-französi­ schen Konkurrenzkampf (1680-1770) .................................................................. 33 Kommentar: Thomas Anz................................................................................................ 68 Diskussionsbericht............................................................................................................ 69 Thomas Anz Literarische Norm und Autonomie. Individualitätsspielräume in der mo­ dernisierten Literaturgesellschaft des 18. Jahrhunderts .................................... 71 Kommentar: Wilhelm Voßkamp...................................................................................... 88 Diskussionsbericht............................................................................................................ 90 Karl S. Guthke Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Aus­ druck der Affekte........................................................................................................... 93 Kommentar: Wolfgang Martens...................................................................................... 121 Diskussionsbericht............................................................................................................ 123 Roland Krebs Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform...............................125 Kommentar: Georg Braungart..............................................................................................145 Diskussionsbericht.................................................................................................................147 VI Inhalt III. Literarisch-soziale Spiegelungen Alan Menhennet Vom „Friedewünschenden Teutschland“ zum „Bedrängten Deutschland“. Die Schicksale der „deutschen“ Tradition in der deutschen Literatur vom Barock bis zur Aufklärung.......................................................................................... 149 Kommentar: Gotthardt Frühsorge.................................................................................... 161 Diskussionsbericht............................................................................................................. 164 Gotthardt Frühsorge ,Landleben1: Vom Paradies-Bericht zum Natur-Erlebnis. Entwicklungs­ phasen literarisierter Lebenspraxis........................................................................... 165 Kommentar: Wolfgang Zorn ........................................................................................... 183 Diskussionsbericht............................................................................................................. 186 Bengt Algot S0rensen Die Vater-Herrschaft in der früh-aufklärerischen Literatur...................................189 Kommentar: Ulrich Herrmann.............................................................................................209 Diskussionsbericht..................................................................................................................211 Wolfgang Martens Frommer Widerspruch. Pietistische Parodien auf Oden der frühen Aufklä­ rungszeit ........................................................................................................................... 213 Kommentar: Karl S. Guthke............................................................................................. 228 Diskussionsbericht............................................................................................................. 230 IV. Bildung und Wissenschaft Ulrich Herrmann „Kinderzucht“ oder „Pädagogik“. Traditionelle Normierungen der Erzie­ hung und Unterweisung und die innovative pädagogische Lebensalter- Konzeption in der Pädagogischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts .... 233 Kommentar: Christian Begemann.................................................................................... 246 Diskussionsbericht............................................................................................................. 249 Laetitia Boehm Die deutschen Universitäten im Sozialgefüge des absolutistischen Fürsten­ staates. Zwischen scholastischer Tradition, normativer Wissenschaftsor­ ganisation, adeligen und bürgerlichen Bildungsansprüchen ............................ 251 Kommentar: Karl Otmar Freiherr von Aretin ................................................................ 274 Diskussionsbericht............................................................................................................. 275 Notker Hammerstein Der Wandel der Wissenschafts-Hierarchie und das bürgerliche Selbstbe­ wußtsein. Anmerkungen zur aufgeklärten Universitäts-Landschaft............... 277 Kommentar: Wilhelm Schmidt-Biggemann .................................................................... 291 Diskussionsbericht............................................................................................................. 294 Inhalt VII Wilhelm Schmidt-Biggemann In nullius verba iurare magistri. Über die Reichweite des Eklektizismus ... 297 Kommentar: Notker Hammerstein......................................................................................311 Diskussionsbericht..............................................................................................................................................313 V. Rückgriff und Vorgriff der Kunst Werner Busch Chodowieckis Darstellung der Gefühle und der Wandel des Bildbegriffes nach der Mitte des 18. Jahrhunderts.............................................................................315 Kommentar: Conrad Wiedemann...............................................................................................................344 Diskussionsbericht..............................................................................................................................................346 Bericht über die Abschlußdiskussion...........................................................................347 Register................................................................................................................................353 Einleitung Die Kategorie der ,Tradition' beginnt sich seit einigen Jahren in den historischen Wissenschaften, auch in Teilbereichen der Sozialwissenschaften, aus ideologischen und methodologischen Blockierungen zu lösen. Im kulturellen, wirtschaftlichen, poli­ tischen Leben läßt sich nachgerade eine Konjunktur des Sichberufens auf Tradition beobachten. Das mag bereits wieder skeptisch stimmen. Vielleicht handelt es sich, auch in der wissenschaftlichen Neuorientierung, nur um eine Zwischenphase. Zu ver­ lockend sind die Möglichkeiten, den mit einer langen Geschichte beladenen Begriff für je neue Zwecke zu okkupieren1. Diese Geschichte, die in der frühen Neuzeit ihren ersten Höhepunkt mit der Refor­ mation fand, ist vielfältig handfeste Gegenwart. Seit mit epochaler Symptomatik und zugleich mit unabsehbarer Folgewirkung dem kirchlichen Traditionsbegriff das bibli­ sche Schriftprinzip als ein ursprüngliches1 entgegengesetzt wurde2, hat sich der Be­ griff kaum mehr aus der strikten Dichotomisierung befreien können. Tradition als das Wertvolle, Bewährte, Verbürgte steht gegen Tradition als das Versteinerte, Unproduk­ tive, bloß dem jeweiligen status quo Dienende. Die religiöse und die gesellschaftspoli­ tische Dimension, beides in kaum verhüllter polemischer Konnotierung, bleiben dem 1 Eine einschlägige Darstellung der Begriffsgeschichte - geschweige denn ein umfassender, me­ thodenkritischer Überblick zur Traditionenforschung - existiert bisher nicht. Die beiden großen begriffsgeschichtlichen Unternehmen (Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie und Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe) sind bei den Lemmata „Tradition“ oder „Überlieferung“ noch nicht angelangt. Die Artikel in den großen Enzyklopädien sind ganz unzureichend. Wichtige Beobachtungen zur Begriffsgeschichte, besonders aus theologischer Sicht, bei Walter Magaß, Hermeneutik, Rhetorik und Semiotik. Studien zur Rezeptionsge­ schichte der Bibel (Diss. Konstanz 1985) 131 ff. Im folgenden stütze ich mich verschiedentlich auf zwei eigene Arbeiten: Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung, in: Gunter Grimm (Hrsg.), Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke (Stuttgart 1975) 85 ff. (mit 379ff ); im folgenden zitiert: Barner; Wirkungsgeschichte und Tradition; Über das Ne­ gieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik XII, München 1987) 3 ff.; im folgenden zitiert: Barner, Über das Ne­ gieren von Tradition. Zur aktuellen „Besinnung auf die Tradition“ auch Jürgen Kocka, Traditions- bindung und Klassenbildung. Zum sozialhistorischen Ort der frühen deutschen Arbeiterbewe­ gung (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge 8, München 1987). 2 Aus der Fülle der Publikationen hier nur wenige orientierende Titel: Oscar Cullmann, Die Tra­ dition als exegetisches, historisches und theologisches Problem (Zürich 1954); Yves Marie-Joseph Congar, La tradition et les traditions (Paris 1960); Peter Lengsfeld, Überlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart (Paderborn 1960); Karl Rahner u. Joseph Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung (Freiburg i.B. 1965); Janes Kopas (Hrsg.), Interpreting tradition. The art of theological reflection (Chico, Calif. 1984). X Wilfried Barner Schlagwort3 eingeschrieben - mag man dies als Hypothek fassen oder auch als nützli­ ches Klärungspotential. Lessings emphatischer Apostrophe an Luther: „Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset“"*, korrespondiert recht genau das - nicht nur - gegen den neuen politisch-sozialen Traditionalismus seiner Epoche gerichtete Marx- sehe Diktum: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Ge­ hirne der Lebenden.“5 Gewiß hat sich in den avancierten christlichen Theologien längst eine Annäherung im Sinne einer notwendigen, aber .dynamischen' Traditionsorientierung vollzogen6. Die Position der Traditionalisten indes ist stark geblieben. Gewiß sind die kompro­ mißlose marxistische Verdammung des (.bürgerlichen“) Traditionsbegriffs und seine Substitution durch den (zuletzt ebenso bürgerlichen, aber weniger belasteten) ,Erbe‘- Begriff7 schon fast Vergangenheit. Und doch artikulieren sich bereits wieder Beden­ ken gegen eine allzu pluralistische Öffnung zur Tradition, zur nicht nur als .fortschritt­ lich“ interpretierten. Theologie und Erbe-Debatte erinnern daran, daß .Tradition“ alles andere als nur eine gewissermaßen technische, kommunikationstheoretisch eingrenzbare Größe dar­ stellt. Sie ist eine anthropologische Kategorie. Die einschlägige Begriffsgeschichte, von ihrer Frühphase im römischen Recht an, repräsentiert hiervon nur Aspekte, vermittelt gelegentliche Durchblicke8. Tradition ist notwendige Voraussetzung allen sozialen Handelns. Sie hat in ihren Inhalten (traditum) immer vorgängig kollektiven Charakter - worin sie sich von der ,Gewohnheit“ abgrenzt, die sich auch rein individuell heraus­ zubilden vermag. Tradition im Sinne des Weitergebens (als actus tradendi) geschieht prinzipiell durch Institutionen (Familie, Schule, religiöse Gruppen usw.), die ihrerseits die wichtigsten Garanten für traditionale Kontinuität bilden. Damit ist sie in die Dia­ chronie gespannt, doch jeweils nicht amorph - als alles, was sich .erhalten“ hat son­ dern als bestimmte, ausgewählte Struktur. Das beliebte singularische Reden von .der“ Tradition (oft genug nur nachlässig für eine diffuse .Vergangenheit“ schlechthin ge­ setzt) verdeckt allzu leicht, daß Tradition immer bereichsspezifisch und immer intern hierarchisiert ist. 3 Zu den spezifischen Merkmalen des Schlagworts als eines Kampfworts (hier mit dem Opposi­ tionsbegriff .Fortschritt“) vgl. Wilfried Barner, Rhetorische Aspekte der Schlagwortanalyse, an Texten der Aufklärung, in: Karl Hyldgaard-Jensen (Hrsg.), Linguistische und literaturwissen­ schaftliche Analyse von deutschen Gebrauchstexten (Kopenhagen 1977) 104 ff. 4 Ausgabe Lachmann-Muncker, Bd. 13, 102. 3 Der 18te Brumaire des Louis Napoleon, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8 (Berlin- Ost 1960) 115. 6 Etwa bei Arthur M. Allchin, The living presence of the past. The dynamic of Christian tradition (New York, N.Y. 1981); auch bei den meisten in Anm. 2 genannten Titeln. 7 Wichtige bereits vermittelnde Position: Günter Hartung, Thomas Höhle u. Hans Georg Werner (Hrsg.), Erworbene Tradition. Studien zu Werken der sozialistischen deutschen Literatur (Berlin u. Weimar 1977); umfassende Bibliographie: Günter Schwenk (Hrsg.), Erbe - Tradition - Kultur. Auswahlbibliographie zur Erbetheorie und Erbeforschung in der DDR von 1947 bis Dezember 1983 (Halle/Saale 1985); neuester Stand im knappen Überblick: Walter Schmidt, Das Erbe- und Traditionsverständnis in der Geschichte der DDR (Berlin-Ost 1986). 8 Barner, Wirkungsgeschichte und Tradition, 87 ff. Einleitung XI Am deutlichsten erweist sich dies beim Teilphänomen Kanon9, in dem mitunter eine bestimmte Tradition modellhaft faßbar wird (etwa als Text-Kanon). Kanonbil­ dung wird sich in der Regel nicht,egalitär“ vollziehen, sondern mit zentralen und mit weniger zentralen, mit Leittexten und mit nachgeordneten Texten, die in der Tradi­ tionsgeschichte unter bestimmten Bedingungen auch ,aufsteigen“ oder in die Apokry- phik absinken können. Nur mit Hilfe solcher internen Hierarchisierungen, die im Prinzip ständig durch externe Einwirkungen in Frage gestellt sein mögen, ist über­ haupt Traditionswandel denkbar: mit den beiden Grundtypen Traditionsumbau und Traditionsbruch und mit zahllosen Mischformen. Position innerhalb der traditionalen Hierarchie bedeutet Wertigkeit, Geltungsstärke. Aber sie wirkt nicht als gleichblei­ bende, dem Gegenstand oder der Vorstellung sozusagen ,anhaftende“ Qualität, son­ dern als Funktion im Hinblick auf die zugehörige Gruppe, Institution, Gesellschaft. Der ,Erbe‘-Begriff, als Ersatz für einen als kompromittiert empfundenen Traditionsbe­ griff, sollte gerade dieses indizieren: das nicht Beliebige des Überlieferten, sondern das Verpflichtende des als werthaft Erkannten. Geschichtswissenschaften, Theologie, Jurisprudenz, Sozialwissenschaften sind seit langem mit derlei Traditionsphänomenen befaßt und benennen sie auch mit einschlä­ giger Traditionsterminologie. Zu einer ausgearbeiteten Methodik - gar über Fächer­ grenzen hinaus - ist es ebensowenig gekommen wie zu einer präzisen Nomenklatur10. Kirchengeschichte und Dogmatik haben dabei, nicht zuletzt wegen des hohen kir­ chenpolitischen Stellenwerts, besonders viel distinktive Energie eingesetzt11, nament­ lich etwa zum Thema ,Traditionsbildung im Neuen Testament“12. Doch eine religiöse Ausprägung traditionaler Verpflichtung läßt Verallgemeinerungen nur sehr einge­ schränkt zu. Dies gilt auch für christlich inspirierte philosophische Reflexionen über Tradition13, selbst wenn sie noch so sehr das .Dynamische“, .Lebendige“ gegen ältere Erstarrungen in den Vordergrund rücken. Viel Appellativ-Bekenntnishaftes ist mit im Spiel. In nicht wenigen Bereichen der Sozialwissenschaften herrscht immer noch ein Tra­ ditionsbegriff, der im Sinne der angesprochenen Dichotomie ganz auf die ,traditionali- stische“ Achse ausgerichtet ist. Als Modelle dienen vorzugsweise einfache, archaische 9 Vgl. Artikel „Kanon“ in: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4 (Basel/Stuttgart 1976) 688 ff. 10 Vergleichende methodologische Studien hierzu sind ein dringendes Desiderat. Für den Be­ reich der Sozialwissenschaften scharf kritisch Edward Shils, Tradition (Chicago, 111. 1981). 11 Exempli gratia: Henri Holstein, La tradition dans PEglise (Paris 1960); Walter Kasper, Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule (Freiburg/Basel/Wien 1962); Willy Rordorfu. Andre Schneider, Die Entwicklung des Traditionsbegriffs in der Alten Kirche (Bern u. Frankfurt a.M. 1983). 12 Vgl. die riesenhafte Bibliographie bei Paul Gerhard Müller, Der Traditionsprozeß im Neuen Testament (Freiburg/Basel/Wien 1982). 13 Etwa Josef Pieper, Überlieferung. Begriff und Anspruch (München 1970); August Brunner, Er­ kenntnis und Überlieferung (München 1986). XII Wilfried Barner oder auch differenzierte fernöstliche Gesellschaften14. Sofern bei der Analyse moder­ ner westlicher Sozialphänomene nicht ohnehin „Blindheit“ gegenüber Tradition cha­ rakteristisch ist15, fungiert sie allenfalls als Kontrastkategorie. Wichtige Ansätze zur differentiellen Erfassung von Traditionserscheinungen in der Wissenssoziologie16 sind noch durchaus nicht Gemeingut der Forschung geworden. Im übrigen hat der wieder steigende Einfluß Max Webers mit dazu beigetragen, daß sein ganz konventioneller Traditionsbegriff17 - zugespitzt erkennbar in seinem „traditionalen Herrschaftstyp“18 - auch in den Geschichtswissenschaften recht fest verankert ist. Kritische Konzepte, die Tradition nicht einfach als .vorhanden1 oder .entstanden“ voraussetzen, sondern ge­ zielt nach Bedingungen dieses Entstehens fragen, ja sogar mit dem .Machen“ von Tra­ dition operieren, scheinen sich vor allem in angelsächsischen Ländern zu regen: etwa „the invention of tradition“ von Eric Hobsbawm und Terence Ranger19. In den Kunst- und Literaturwissenschaften hat das Fragen nach Tradition schon deshalb fast von Beginn an eine Rolle gespielt, weil der Kunstcharakter der Werke, ihre Geschaffenheit oder Gemachtheit, zumindest für die älteren Epochen manifest auf .handwerkliche“ Traditionen verwies: solche der Verskunst, der Wortwahl, der Mo­ tive, der Gattungen usw. Zwar haben immanentistische Gegenbewegungen seit dem Ersten Weltkrieg sich wiederholt einem ausufernden interpretatorischen Traditionalis- mus (als Teil des Positivismus gefaßt) zu widersetzen versucht20. Gleichwohl erreichte gerade Traditionsforschung weltweit Konjunktur - es sei nur an Ikonographie und Toposforschung als an zwei herausragende Beispiele erinnert21. In ihren schlechten, bald serienhaft hergestellten wissenschaftlichen Produkten - bei den Meistern wie Ernst Robert Curdus nur sehr eingeschränkt - tendierte diese Richtung zur Isolation 14 Positionen sehr verschiedener Schulen: Arthur R. Cohen, Attitude change and social influence (New York/London 51964); Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels (Köln/Berlin 1969); S. N. Eisenstadt, Tradition, change, and modernity (New York, N.Y. 1973); H. T. Wilson, Tradition and innovation. The idea of civilization as culture and its significance (London, Boston, Melbourne, Henley 1984). 15 Shils (wie Anm. 10) 7-10. Vgl. Barner, Über das Negieren von Tradition, 12. 16 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (Frankfurt a.M. 1969; engl, zuerst 1966) mit dem wichtigen Kapi­ tel über „Sedimentbildung und Tradition“ u.a. 17 Vgl. Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks (Tübingen 1987): etwa modellhaft 73 ff. zur ländlichen Arbeitsverfassung Ostelbiens als „Fundus“. 18 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft - Grundriß der verstehenden Soziologie (1922) 2 Bde. (Köln/Berlin 1964), dort Bd. 1, 167 ff. Ähnlich einseitig fixiert und wissenschaftsgeschichtlich fol­ genreich David Riesman, Die einsame Masse (Hamburg 1958; engl, zuerst 1950) 26 ff. 19 Das exemplarische Untersuchungsfeld bilden vor allem regionale und koloniale Erscheinun­ gen der britischen Geschichte: Eric Hobsbawm u. Terence Ranger (Hrsg.), The invention of tradi­ tion (Cambridge usw. 1983); wichtig Hobsbawms Einführung S. 1 ff. 20 Hierzu mein im Rahmen des Historischen Kollegs gehaltener Vortrag über „Literaturwissen­ schaft - eine Geschichtswissenschaft?“1 (1. Juni 1987, erscheint in den .Schriften des Historischen Kollegs1). 21 Die Verdienste dieser bedeutenden Forschungsrichtungen seien hier in keiner Weise ge­ schmälert. Gemeint sind die Hunderte von Aufsätzen und Monographien (in Kunst- wie Litera­ turwissenschaft) vom Typus ,Die Tradition des Schlangenmotivs von ... bis“.

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die antiken Geographen sowie auf Bodin, der schon in De la Republique (1583) . 55 Essai sur les moeurs (Classiques Garnier, Paris 1963) Bd. 2, 810: „II Veranstaltung stilisiert, in der selbst ein bißchen mythologische Jean Bodin in seiner staatsrechtlichen Abhandlung, „Les six Livres de la
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