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Paulus PDF

156 Pages·1951·9.432 MB·German
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S A M M L U NG G Ö S C H EN BAND 1160 P a u l us Von D. Dr. Martin Dibelius D. D. (St. Andrews) weil. (inl. Professor an der Universität Heidelberg Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben und zu Ende geführt von Dr. Werner Georg Kümmel ord. Professor an der Universität Zürich W A L T ER DE G R U Y T ER & CO. vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung . J. Guttentag, Verlags- buchhandlung · Georg Reimer · Kar! J. Trübner · Veit & Comp. Berlin 1951 Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, von der Verlagshandlung vorbehalten Archiv- Nr. 111160 Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 Printed in Germany Inhalt Seite Vorbemerkung 4 1. Paulus in der Geschichte 5 2. Welt und Umwelt 16 3. Der Mensch Paulus 24 4. Die Wendung zu Christus 42 5. Die Mission 61 6. Predigt und Gemeinde 77 7. Zeugnis und Theologie 92 8. Kämpfe 114 9. Das Ende 129 10. Das Werk 141 Literatur 147 Register 150 Stellenregister 153 1* Vorbemerkung Martin Dibelius hinterließ bei seinem am ll.No r vember 1947 erfolgten Tode von dem Manuskript eines für die Sammlung Göschen bestimmten Paulus- büchleins 67 Kapitel in fast druckfertigem Zustand. 2 Vom Rest des Manuskripts war nichts vorhanden au- ßer den Kapitelüberschriften und der Angabe über den ungefähren Umfang des noch zu Schreibenden. Da eine Veröffentlichung des nachgelassenen Werkes in diesem unfertigen Zustand nicht anging, stellte ich mich auf den Vorschlag von Frau Dora Dibelius und des Herrn Verlegers gerne zur Verfügung, um das Manuskript im Sinne meines verstorbenen Lehrers druckfertig zu machen und die fehlenden Teile hin- zuzufügen. Das vorhandene Manuskript, das bis zur Mitte des 7. Kapitels reichte (hier bis S. 103), bedurfte in der Hauptsache nur einer stilistischen Durchsicht und der Entscheidung darüber, was der Verfasser je- weilen als letzte Formulierung beabsichtigt hatte. Ge- mäß der deutlich gekennzeichneten Absicht des Ver- fassers wurde das 2. Kapitel an einigen Stellen etwas erweitert; sonst mußten nur ganz selten Versehen kor- rigiert oder kleine Lücken ergänzt werden. So bietet, von diesen geringfügigen Ergänzungen abgesehen, der Text der Kapitel 1—7 (S. 103) den von Martin Dibelius beabsichtigten Wortlaut und damit auch seine wissen- schaftlichen Anschauungen. Der Rest (ab S. 103) ist von mir hinzugefügt worden. Möge das letzte Werk eines großen Theologen, das das Gegenstück zu seinem in der gleichen Sammlung erschienenen Jesus-Büchlein bilden sollte, vielen dazu helfen, die geschichtliche Ge- stalt des Apostels Paulus klarer zu sehen und seine Bedeutung für den geistigen Kampf der Gegenwart zu erkennen. Zürich, 27. Dezember 1949. Werner Georg Kümmel 1. Paulus in der Geschichte Vom Apostel Paulus weiß alle Welt, daß er der größte Missionar des christlichen Glaubens in der alten, der klassischen Zeit des Christentums war, daß seine Briefe einen erheblichen Teil des Neuen Testa- ments bilden, und daß infolgedessen heute wie in ver- gangenen Zeiten die Kirche wie alle Leser der Bibel, vom gelehrtesten bis zum schlichtesten, in.lebendiger Beziehung zu ihm stehen. Aber sieht man näher zu, so gewinnt man einen zwiespältigen Eindruck. Die Ar- beit des Paulus hat den jüdischen Rahmen gesprengt, der das Urchristentum vor ihm umschloß, und den Weg zur Gewinnung der nichtjüdischen Welt frei ge- macht. Aber vielen scheint es doch so, als hätten ge- rade die Briefe des Paulus bewirkt, daß jüdische Be- griffe und Voraussetzungen in der christlichen Kirche fortleben. Die Christenheit zählt Paulus zu den Apo- steln, aber schon die Urgemeinde zu Jerusalem hat nie- mals ein uneingeschränktes Vertrauen zu ihm gehabt; und nach seinem Tode hat die Kirche zwar seine Briefe gelesen und seine Begriffe aufgenommen, aber sie hat seine Gedanken verharmlost, indem sie sie in ihre Sy- steme einbaute und dadurch verflachte. Immer wieder im Lauf der Jahrhunderte sind dann die echten Ge- danken des Paulus ausgegraben und fortgebildet und umgebildet worden. Zuerst geschah das durch den großen Erzketzer des 2. Jahrhunderts, Marcion, der unter dem Einfluß des Paulus Gesetz und Evangelium als einander ausschließende Prinzipien betrachtete und sie in Verkennung wichtiger Gedanken des Paulus auf zwei verschiedene Götter zurückführte. Dann hat der Kirchenvater Augustin die Gedanken des Apostels über Sünde und Gnade in eigentümlicherweise erneuert und damit den Charakter des abendländischen Christen- 6 Paulus in der Geschichte turns tiefgreifend beeinflußt. Endlich ist Martin Luther nicht nur durch ein Wort des Römerbriefs (1,17) in seiner Heilserkenntnis maßgeblich bestimmt worden, sondern er hat auch sein Christus-Verständnis im we- sentlichen aus den Paulusbriefen gewonnen. Neben diesen großen und für die Geschichte des Christen- tums bedeutungsvollsten Paulus-Reaktionen seien auch andere wichtige Wirkungen der Paulus-Gedanken nicht vergessen: der Begründer der großen Methodisten- Kirche, John Wesley, kam über Luthers Vorrede zum Römerbrief zu seinem entscheidenden „Bekehrungs"- Erlebnis, uad die neue Theologie des 20. Jahrhunderts, die sogenahnte „dialektische Theologie", trat mit ei- nem Paulus-Buch, mit Karl Barths „Römerbrief", auf den Plan. Es hat aber in den letzten hundert Jahren auch nicht an solchen gefehlt, die wesentliche Gedanken des Pau- lus als Verfälschung des Christentums oder Entartung der Religion bezeichneten und damit eine verbreitete Stimmung schufen, die sich gegen Paulus oder gegen den christlichen Glauben überhaupt richtet. Paul de Lagarde, der große Göttinger Gelehrte, hat mit seinen „Deutschen Schriften" (1886) dieser Stimmung bedeut- samen Ausdruck gegeben. Er zeiht den Paulus, den „völlig Unberufenen", eines dreifachen unheilvollen Einflusses auf das Christentum: er habe es mit dem Alten Testament belastet, er habe die pharisäische Aus- legungskunst in der Kirche eingeführt, und er habe ihr „die jüdische Opfertheorie und alles, was daran hängt, in das Haus getragen". Das sind keine sinnlosen Vor- würfe, und es wird sich noch zeigen, daß hinter jeder dieser Anklagen bedeutsame Fragen stehen. Auf diese religionsgeschichtliche Bekämpfung des Paulus folgte die psychologische durch Friedrich Nietzsche. Er hatte noch in der „Morgenröte" (1880) dem „ebenso aber- gläubigen als verschlagenen Kopf", dem Apostel Pau- lus, die Verantwortung dafür zugeschrieben, „daß das Schiff des Christentums einen guten Teil des jüdischen Paulus in der Geschichte 7 Ballastes über Bord warf, daß es unter die Heiden ging und gehen konnte". Acht Jahre später, im „Antichrist", ist ihm derselbe Apostel der „Gegensatz-Typus zum frohen Botschafter, das Genie im Haß", der „Dysan- gelist", der mit dem jüdischen Priester-Instinkt (die Ge- schichte umfälscht, „sich aus einer Halluzination den Beweis vom Nochleben des Erlösers zurecht macht" und damit das Schwergewicht nicht ins Leben, son- dern ins „Jenseits" verlegt — der machtgierige Prie- ster, der Massen tyrannisiert, Herden bildet. Viel ernsthafter hat sich Houston Stewart Chamber- Iain in seinen „Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) um das Problem Paulus bemüht; dies erscheint ihm so verwickelt, daß er bei dem Apostel geradezu zwei Wesenshälften voraussetzt (und deswegen in ihm auch am liebsten den Abkömmling einer Mischehe sehen würde): ein jüdisch erzogener und von jüdi- schen Vorstellungen erfüllter Mensch, der Denkweise des Alten Testaments verpflichtet — und doch zugleich in seiner Lehre von der allgemeinen Sündhaftigkeit und der Erlösung durch „die den Glauben schenkende göttliche Gnade" so unjüdisch — Chamberlain nennt das „indo-europäisch" —, „daß er das Epitheton anti- jüdisch verdient". Um diesen Kern herum hat er ein jüdisches Gebäude errichtet, „eine Art Gitterwerk", das einem kongenialen Auge kein Hindernis ist, aber für das werdende Christentum zur Hauptsache ward. Unter der Voraussetzung des Rasseglaubens hat dann Alfred Rosenberg in seinem „Mythus des 19. Jahrhun- derts" die Stellung Nietzsches ausgebaut. Der „unjü- dische" Paulus existiert für ihn nicht. Ihm bedeuten die Gedanken des Apostels eine „Verbastardisierung, Verorientalisierung und Verjudung des Christentums". „Paulus hat ganz bewußt alles staatlich und geistig Aussätzige in den Ländern seines Erdkreises gesam- melt, um eine Erhebung des Minder-Wertigen zu ent- fesseln". Man meint Nietzsche reden zu hören; nur hatte Nietzsche von der neueren wissenschaftlichen 8 Paulus in der Geschichte Paulusforschung, die gerade erst ihr Anfangsstadium vollendete, wenig Kenntnis; in derZeit zwischen Nietz- sche und Rosenberg aber hat sie sich beträchtlich aus- gebreitet und hat, zum Teil in Auswertung neugefun- dener Zeugnisse antiken Lebens, zu einer wesentlichen Erhellung der Probleme geführt. Eine einseitige Er- ledigung dieser Probleme im Stil der Anklage sollte danach nicht mehr möglich sein. Der erste Gelehrte der neueren Zeit, der erkannte, daß die Gedanken des Paulus nicht im Sinne der kirch- lichen Überlieferung in die allgemein christliche Theo- logie einzubauen und dadurch zu verharmlosen seien, war der Tübinger Ferdinand Christian Baur in seinem 1845 veröffentlichten Buch „Paulus, der Apostel Jesu Christi". Baur und seine Schüler unternahmen es, in Anknüpfung an Hegeische Gedanken die ganze ur- christliche Entwicklung aus dem Gegensatz zwischen Judenchristentum und Paulinismus zu begreifen. Die Auseinandersetzung mit diesem „Tübinger" Aufriß des Urchristentums hat die Forschung der folgenden Jahr- zehnte maßgeblich bestimmt und hat zur Ausdehnung des Problemkreises auf eine Reihe weiterer Fragen ige- führt, deren Bearbeitung bis in die jüngste Zeit fort- dauert. Aus dem Problem, wie es Baur gestellt hatte, ergab sich die Diskussion, ob der Apostel mehr und wesentlicher vom Judentum oder vom Griechentum — oder von Kreuzungen dieser Bereiche, dem helle- nistischen Judentum oder dem orientalisierten Helle- nismus, beeinflußt sei. Und welcher Anteil an seinen Gedanken kommt der Botschaft Jesu zu, wie war über- haupt seine Beziehung zu der geschichtlichen Person Jesu von Nazareth? Mit diesen geschichtlichen Fra- gen hängt auch die sachlich wesentliche zusammen, ob der Kern der Heilslehre bei Paulus die Rechtferti- gung des Sünders durch Gnade sei oder die Befrei- ung der Welt von den unsichtbaren Mächten, die sie bedrücken, ob das Heil für ihn wesentlich in gegen- wärtigem Besitz oder in der Hoffnung auf eine kom- Paulus in der Geschichte 9 mende Weltverwandlung bestehe. Da alle diese Pro- bleme in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommen, mag dieser Hinweis genügen. Man darf dabei auch nicht vergessen, daß die Paulusforschung immer neue Antriebe von andern Wissenschaften erhielt. Das neu- erwachte Verständnis für spätgriechische Sprache und Literatur, die Erforschung des jüdischen Rabbinismus, die Veröffentlichung neugefundener Texte, die Papy- ruskunde, die Religionsgeschichte vor allem des Hel- lenismus, aber auch die neuere Psychologie — sie alle haben zum Verständnis des Apostels beigetragen und unser Paulusbild bereichert, soweit es die Quellen er- lauben. Wir wissen vom Leben und Denken des Paulus verhält- nismäßig viel. Unter seinem Namen sind uns 13 Briefe im Neuen Testament überliefert, und von seinen Fahrten handelt die ganze zweite Hälfte (Kap. 13—28) der Apo- stelgeschichte, desselben Buches, das in Kap. 9 auch schon von der Bekehrung des Christenverfolgers Paulus erzählt hat. Aber wie alle Geschichtsquellen, antike wie neuzeitliche, müssen auch diese wissenschaftlich unter- sucht werden, bevor man sie für eine geschichtliche Dar- stellung benutzt. Der Leser von heute ist erstaunt und leicht befremdet, wenn man ihm versichert, daß nicht alle Briefe, die sich selbst al$ Schreiben des Paulus bezeichnen, wirklich echt, d. h. vom Apostel verfaßt seien. Er muß sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß damals — auch außerhalb des Christentums — ehrenwerte Leute in bester Meinung Briefe unter dem Namen eines bekannten Mannes schrie- ben und in Umlauf brachten, sei es, daß sie seinen Stil nachahmten, sei es, daß sie bestimmte Situationen seines Lebens als Briefanlaß benutzten, sei es endlich, daß sie nur seinen Namen für die Verfasserschaft in Anspruch nahmen. Auch dem Paulus sind solche unechten Briefe zugeschrieben worden. Man hat Jahrhunderte nach ihm einen Briefwechsel zwischen ihm und dem Philosophen Seneca erdichtet; man hat gemäß Kol. 4, 16 einen Brief des Apostels nach Laodicea konstruiert, ebenso einen Brief- wechsel mit den Korinthern, und beides ist in Bibelhand- schriften aufgenommen worden; man hat in der griechi- 10 Paulus in der Geschichte sehen und syrischen Kirche des 3. Jahrhunderts den He- bräerbrief deswegen dem Neuen Testament einverleibt, weil man ihn für einen Paulusbrief erklärte. So darf man auch an die als Paulusbriefe bezeichneten Schreiben des Neuen Testaments mit der Frage herantreten, ob sie alle 13 wirklich von Paulus herrühren. In der Tat können min- destens die beiden Briefe an Timotheus und an Titus (d. h. die drei sogenannten Pastoral- oder Hirtenbriefe) nicht als Quellen für Leben und Lehre des Paulus verwendet wer- den. Sie setzen eine andere, älter gewordene, fester orga- nisierte Kirche voraus, als es die Kirche der Paulus-Zeit war, mit andern Ämtern, mit andern Gegnern, und vor allem mit einem andern christlichen Lebensideal; ihnen sind die Spannungen, von denen Paulus weiß, — zwischen der kommenden Welt und dieser Welt, zwischen Fleisch und Geist — schon fremd geworden, das christliche Da- sein ist ihnen aufgebaut auf der „vernünftigen Lehre", die auf „gute Werke" abzielt und vom Zeugnis des „guten Gewissens" bestätigt wird. Es ist ein Christentum der zweiten oder dritten Generation, das hier redet — und wenn der Ketzer Marcion im zweiten Jahrhundert diese Pastoralbriefe nicht in seine Sammlung der Paulusbriefe aufnimmt, so ist das vielleicht ein Zeugnis dafür, daß da- mals auch in der Kirche ihre Anerkennung sich noch nicht völlig durchgesetzt hatte. Ob echte Paulusfragmente in diesen Briefen verarbeitet sind, kann hier nicht untersucht, kann überhaupt schwerlich zwingend erwiesen werden. Uns mub die Feststellung genügen, daß die Pastoralbriefe als Quelle für unser Paulus-Verständnis auszuscheiden ha- ben (Näheres siehe meine Gesch. der urchristl. Litera- tur II, Sammlung Göschen 935, S. 76ff.). Von den übrigen zehn Paulusbriefen werden in der For- schung vor allem zwei als nicht fraglos echt bezeichnet. Beim Epheserbrief ist es nicht so sehr sein Inhalt als eine merkwürdige, in Verwandtschaft und Unterschieden sich ausdrückende Beziehung zum Kolosserbrief, die zu Be- denken Anlaß gibt (s. meine Gesch. d. urchristl. Lit. II, S. 30ff. u. 42f.). Auch verrät der Epheserbrief im Gegen- satz zu allen anderen Paulusbriefen nichts über die nähe- ren Umstände der Korrespondenz; es ist kein „Brief", es ist ein predigtartiges Schreiben. Selbst der Name „Ephe- sus" am Anfang ist in den ältesten Handschriften nicht genannt; die Bestimmung für die dem Paulus wohlbe-

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