Spezielle pathologische Anatomie Ein Lehr- und Nachschlagewerk Begrundet von Wilhelm Doerr und Erwin Uehlinger Band 13 jVI.A llerausgegeben von Professor Dr. Dres. h.c. Wilhelm Doerr, lleidelberg Professor Dr. Gerhard Seifert, llamburg Pathologie des Nervensystems VI.A Traumatologie von Hirn und Rückenmark Traumatische Schäden des Gehirns (forensische Pathologie) Von F. Unterharnscheidt Mit 224 zum Teil farbigen Abbildungen in 317 Einzeldarstellungen Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH Professor Dr. F. Unterharnscheidt Neuroscience, Inc. 3512 Camp Street, New Orleans, LA 70115, USA Professor Dr. Dres. h. c. W Doerr Pathologisches Institut der Universität 69120 Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 220/221 Bundesrepublik Deutschland Professor Dr. G. Seifert Institut for Pathologie der Universität 29251 Hamburg, Martinistraße 52 UKE Bundesrepublik Deutschland ISBN 978-3-642-63434-5 ISBN 978-3-642-58015-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-58015-4 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Spezielle pathologische Anatomie: ein Lehr- und Nachschlagewerk / begr. von Wilhelm Doerr und Erwin Uehlinger. Hrsg. von Wilhelm Doerr ; Gerhard Seifert. - Berlin ; Heidelberg ; New York ; London ; Paris; Tokyo ; Hong Kong ; Barcelona; Budapest : Springer. Teilw. mit der Angabe: Begr. von Erwin Uehlinger und Wilhelm Doerr. NE: Uehlinger, Erwin [Begr.]; Doerr, Wilhelm [Hrsg.] Bd.13. Pathologie des Nervensystem. 6. Unterharnscheidt, Friedrich : Traumatologie von Hirn und Rückenmark. Traumatische Schäden des Gehirns (forensische Pathologie), A (1993) Pathologie des Nervensystems. - Berlin ; Heidelberg ; New York ; London ; Paris; Tokyo ; Hong Kong ; Barcelona; Budapest : Springer. (Spezielle pathologische Anatomie; Bd. 13) 6. Unterharnscheidt, Friedrich : Traumatologie von Hirn und Rückenmark. Traumatische Schäden des Gehirns (forensische Pathologie), A (1993) Unterharnscheidt, Friedrich : Traumatologie von Hirn und Rückenmark / von F. Unterharnscheidt. - Berlin ; Heidelberg ; New York ; London ; Paris; Tokyo ; Hong Kong ; Barcelona; Budapest : Springer. (Spezielle pathologische Anatomie; Bd. 13) Traumatische Schäden des Gehirns (forensische Pathologie). A. - (1993) (Pathologie des Nervensystem; 6) Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Überset zung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsan lagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. 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Hatte schon der vorangegangene Band betreffend die Traumatologie des Riickenmarkes aIle Erwartungen iibertroffen, konturiert die Priisentation der traumatischen Liisionen von Gehirn, Hirnhiiuten und Schiidel ein Feld der Krankheitsforschung, dessen Grenzen hinter fernen Horizonten unendlich vieler, noch immer offener Fragen des pathogenetischen Details ver diimmern. F. UNTERHARNSCHEIDT hat erneut gezeigt, daB er die Kunst der Synopsis in einem MaBe beherrscht, wie man derlei sonst kaum jemals finden kann. So ist es selbstverstiindlich, daB er die Biophysik der Schiidelverletzungen vorwiegend mathematisch zu charakterisieren weiB, wie wir Pathologen dies seit Richard THOMA (1909) in der speziellen pathologischen Anatomie nie mehr er fahren hatten. Aber auch die Pathophysiologie wird bei allen angesprochenen Ereignisgruppen - Commotio, Contusio, Concussio, Compressio cerebri - her ausgearbeitet, so daB ihm vor allem durch Beriicksichtigung der Zeitgestalt der verschiedenen Geschehensabliiufe die Charakterisierung von Entitiiten, niimlich und besonders die Darstellung des nosologischen Pro fils, gelingt. Es ist nur natiir lich, daB er sich im gegebenen Zusammenhang besonders mit der Erorterung der verschiedensten Schiidelfrakturen, unter anderem der KopfschuBformen, beschiiftigt. Lokalisation und Ausbreitungsmuster von Blutungen der Kopf schwarte, der harten und weichen Hirnhiiute, mit und ohne gleichzeitige Liisio nen der knochernen Rulle oder Schiidelbasis, vor aHem aber die beriichtigte, gerade auch gutachtlich interessante Trennung zwischen chronisch-subduralem Hiimatom und Pachymeningosis haemorrhagica interna werden sorgfiiltig ab gehandelt. Wer von den iilteren Fachgenossen erinnert sich nicht an die Gene raldebatte auf der Mannheimer Pathologen-Tagung (1959)? Auf Schritt und Tritt setzt F. UNTERHARNSCHEIDT das Trauma der verschiedensten Qualitiiten in Bezug zu konstitutionellen Priimissen und akzidentellen Gestaltungsfaktoren (Alkoholismus, Wundinfektionen, Sinusthrombosen etc. etc.), urn aus der Konvergenz aller Bedingungen den tatsiichlich beobachteten Einzelfall zu kliiren. Das Werk ist besonders sorgfiiltig ausgestattet an kasuistischen Belegen, allgemein-historischen, auch philologisch bemerkenswerten Begriffsableitungen, vor allem aber was die Problemgeschichte des Verstehens komplizierter Be fundgruppen angeht. Gerade in dieser Hinsicht hat F. UNTERHARNSCHEIDT enzyklopiidisch-Iexikalische Pionierarbeit geleistet. Das Buch wendet sich vorwie gend an die Kollegen aus dem Bereiche der Rechtsmedizin. An der Erorterung juridischer Fragen, natiirlich auch aus der differierenden Wertung naturwissen- VI Ge1eitwort der Herausgeber schaftlicher, besonders aber auch kausaler Zusammenhange im Sinne der prakti schen Rechtssprechung wurde nicht gespart. Das Werk rallt insofern aus der Reihe einer rein pathologisch-anatomischen Abhandlung heraus, obwohl auch an Hinweisen aufbesondere Modi sogenannter Sektionstechniken nicht gespart wird. Wie ein roter Faden zieht sich durch aile Kapitel der Riickgriff auf eigene, umfangreiche experimentelle Beobachtungen und Erfahrungen. Hier gewinnt der Leser einen Einblick in die Werkstatt des traumatologischen Forschungsinstitutes der US-Navy, eines Arbeitsplatzes von h6chstem wissenschaftlichem Rang. Wir danken Herrn F. UNTERHARNSCHEIDT, daB er - wie immer - bereit war, sich einer Kritik zu stellen und Anregungen aufzunehmen. Den imponierenden Umfang des Gesamtopus rechtfertigen wir durch die Auseinandersetzung des Verfassers mit dem kompliziert gewordenen Gutachterwesen im Bereiche der forensischen Traumatologie. Wir glauben, daB das vorgelegte Werk in keinem Institut fUr Rechtsmedezin, in keiner Biicherei eines Gerichtsarztes fehlen darf, aber auch fUr die Sozialgerichtsbarkeit essentiell sein wird. Wir danken auch heute dem Springer-Verlag, Herrn Professor Dr. Dietrich GOTZE und Herrn Dr. Thomas THIEKOTTER, besonders der bewahrten Herstellerin Frau Dora OELSCHLAGER sowie Frau Stefanie BENKO und Frau Hildegard HEINZMANN, die mit unendlicher Geduld und freundlicher Beratung hilfreich waren. Heidelberg und Hamburg Wilhelm DOERR Gerhard SEIFERT Vorwort "Habent sua fata libelli", die Biichlein haben ihre eigenen Schicksale, stammt aus dem Werk "De litteris, syllabis, metris" (Uber Buchstaben, Silben, Metren) des Terentianus MAURUS (Ende des 3. Jahrhunderts nach Chr.). Wie Terentianus MAURUS selbst seinen Ausspruch weiterhin verstand, zeigen die vorausgehenden Worte "pro captu lectoris", je nachdem, wie der Leser sie aufnimmt. Hier mochte ich aber noch hinzufUgen, "pro captu auctoris", ebenso "nach dem Konzept des Autors", iiber das ich im folgenden einige Anmerkungen zu machen habe. Die erste Fassung des vorliegenden Manuskriptes war bereits 1971 fertiggestellt. Nach damaligem Wissensstand lieBen sich die traumatischen Schiiden des Ge hirns und seiner Umhiillungen noch so darstellen, daB das Manuskript etwa ein Fiinftel des heutigen Umfanges einnahm. Wiihrend eines Umzuges wurde fast die gesamte wissenschaftliche Traumasammlung des Autors, darunter auch siimtli che Abbildungen fUr diesen Beitrag, mit Ausnahme der experimentellen Projekte versehentlich vernichtet. Es erwies sich deshalb als notwendig, den alten Text dem heutigen Stand unserer Kenntnisse anzupassen und neues Abbildungsmaterial zu finden. Erfreulicherweise stell ten Kollegen Abbildungsmaterial aus ihren Institu ten zur VerfUgung. Retrospektiv kann das als ein Gewinn bezeichnet werden, denn auf diese Weise sind die Ergebnisse anderer Autoren, Institute und Schulen sicherlich in viel stiirkerem MaBe beriicksichtigt worden. Die gewaltigen Fortschritte, die die Neurotraumatologie in den letzten Jahren gemacht hat, spiegeln sich eben in dem Umfang dieses Beitrages wider. Hier driingt sich die Frage auf, ob die Darstellung etwas hervorgebracht hat, das der Romanist Ernst Robert CURTIUS einmal, wohl anliiBlich einer Buchbesprechung, spottisch bezeichnet hat als "ein Buch, das, geworfen, todlich wirkt" - ein gewalt einwirkendes Objekt, oder ob der Umfang des Gebietes der Neurotraumatologie den Umfang dieses Beitrages diktiert hat. Auch fiel mir das bekannte Zitat von KALLIMACHOS, bei ATHENAIOS ein: "MEYex. ~t~Aiov, JlEYex. Kex.KOV" ("Ein dickes Buch ist ein groBes Ubel"). Ich dachte auch an jenes etwas verwirrte, aber den noch sehr einsichtige Schulkind, das einen Aufsatz iiber ein umfangreiches Text buch iiber Kaninchen schreiben muBte und sich u. a. so iiuBerte: "Aus diesem Buch lernte ich mehr iiber Kaninchen als ich zu wissen wiinschte". Die Entschei dung dieser Frage muB dem Leser iiberlassen bleiben, der Verfasser vertritt die letztgenannte Erkliirung, niimlich daB der Umfang des Gebietes der Neuro traumatologie den Umfang dieses Beitrages bestimmt. Die Durchsicht der bisher vorliegenden Kapitel und zusammenfassenden Darstellungen iiber die traumatischen pathomorphologischen Schiiden des Ge hirns ergibt, daB sie nicht systematisch sind, sondern nur mehr oder weniger willkiirlich ausgewiihlte Teilgebiete enthalten. Auf der einen Seite wurden viele wichtige Teilaspekte gar nicht behandelt oder Umstrittenes einfach ausge- VIII Vorwort klammert, auf der anderen Seite viele seit langem bekannte Teilgebiete zu aus fUhrlich abgehandelt. Es waren also, wie man es in der Medizin nennt, ausge wahlte Kapitel. Der Verfasser dieses Beitrags ist Facharzt fUr Neurologie, Psychiatrie und Neuropathologe. Er sieht sich selbst entweder als organisch oder somatisch aus gerichteter Neuropsychiater oder auch als klinisch orientierter Neuropathologe. Es handelt sich hierbei trotz der verschiedenen Bezeichnungen urn dasselbe. Ob wohl der Verfasser keine formale Ausbildung in den Ingenieurwissenschaften, der Mathematik oder Physik hat, ist er mit dem Grenzgebiet zwischen Biomechanik und neurologischer Wissenschaft doch besonders dadurch vertraut, da er seit mehr als 30 Jahren mit Vertretern dieser Facher zusammenarbeitet und daher deren Nomenklatur kennt und mit ihren Projekten vertraut ist. Zudem war der Autor fUr etwa 15 Jahre als Medical Officer und experimenteller Neuropathologe in einer Forschungsgruppe der US Navy tatig, in der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Biomechanik betrieben wurde. Daraus leitet sich ab, daB in diesem Beitrag haufig experimentelle Projekte angefUhrt werden, wenn mit ihrer Hilfe tiefere Einsicht in Unfallablaufe und darauf folgende Gewebeschaden er reicht werden konnen. Ein moderner Beitrag zur Neurotraumatologie der Schiidel-Hirn-Verletzun gen sollte heute nicht mehr ohne Einbeziehung biomechanischer Aspekte ge schrieben werden. Die Biomechanik hat wesentlich zu unserem Vertandnis der traumatischen Schaden des ZNS beigetragen, eine Darstellung des Gebietes ohne sie in einem modernen Beitrag ist fUr mich undenkbar. Es werden daher typische Unfallablaufe unter Beriicksichtigung bestimmter Vektorrichtungen der einwirkenden Gewalt analysiert und die mechanischen Krafte mit den klinischen und neurologischen Befunden in Beziehung gesetzt. Die genauere Kenntnis der Biomechanik bestimmter Unfallablaufe und -geschehen erlaubt zudem die Entwicklung und EinfUhrung von SchutzmaBnahmen, die einen schweren oder todlichen Gewebeschaden ganz verhiiten oder aber einen bisher zu Dauerschiiden oder Tod fUhrenden Ablauf iiberlebbar machen oder so beeinfluBen, daB nur leichtere, moglichst reversible Korperstorungen auftreten. CROCK (1976) hob hervor, daB Wissenschaftler, die mit Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Biomechanik befaBt sind, oft wenig oder keine klinischen Kennt nisse oder Kontakte zu Klinikern haben, so daB sie mit den klinischen und morphologischen Aspekten der Traumatologie nur wenig vertraut sind. Die meisten Verletzungen sind durch Energieiibertragung oder Interferenz von Energieiibertragungen verursacht. Der atiologische Faktor besteht in der Ubertragung von kinetischer Energie, die entweder durch sich bewegende Ob jekte wie Geschosse, Messer, Fahrzeuge oder fallende Gegenstande wie Werk zeuge etc. oder von sich bewegenden Personen auf relativ oder absolut stationare Oberflachen wie Windschutzscheiben, Barrieren, Treppen oder Bodenflachen iibertragen wird. Die einwirkende Gewalt fUhrt je nach Intensitat, Einwirkungsdauer und Rich tungsvektor zu einem in Qualitat und Ausbreitung wohldefinierten Gewebescha den oder Schadensmuster, das in einigen Fallen voraussagbar ist. Erreicht die Gewalt nicht den fUr die Schiidigung der betroffenen Gewebestruktur benotigten Schwellenwert oder Schwellenbereich, ergeben sich funktionelle Storungen, die Vorwort IX reversibel oder irreversibel sind. Die einwirkende kinetische Energie (Vorgang) wird auf das Gewebe fortgeleitet und erzeugt den traumatischen Gewebeschaden (morphologischen Befund). Der Terminus Befund darf und solI hier nicht als etwas Statisches betrachtet werden, denn der pathomorphologische Befund andert sich ja mit der zunehmenden Uberlebenszeit. Der Ausdruck Trauma kann sich auf einen Unfallhergang beziehen oder auch dessen Folgen beschreiben. Wegen seiner Doppeldeutigkeit ist er moglichst zu vermeiden. Er wurde meist dann von mir benutzt, wenn ich andere Autoren zitiere, die ihn anwenden. Es bestehen keine grundsatzlichen Unterschiede zwischen Verletzung und Er krankung. Mechanische Gewalteinwirkung groBerer Intensitat fUhrt zu traumati schen "Verletzungen" der Wirbe1saule, dieselben iiber einen langeren Zeitraum einwirkenden Mikrotraumen fUhren zu einer traumatischen Bandscheiben "erkrankung" als Folge eines Bandscheibenschadens. In einem spateren Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welchen EinfluB die stetige Abnahme der Zahl der Autopsien fUr die kiinftige Erforschung der traumatischen Schaden des ZNS hat. In der forensischen Pathologie und forensi schen Neuropathologie werden jedoch Autopsien mit steigender Haufigkeit vor genommen. Noch 1970 stieB DANIEL'S AuBerung kaum aufWiderspruch, daB der Gerichtsmediziner weder die Zeit noch die Kenntnisse habe, das Gehirn hinrei chend zu untersuchen. "His almost universal practice of cutting the fresh brain makes certain that most lesions, apart from the usual uninteresting and not very informative contusions, will be missed." Diese Behauptung ist heute sicherlich falsch. Gerade die Gerichtsmedizin hat in den letzten lahrzehnten wesentliche Beitrage zum Verstandnis der traumatischen Schaden des ZNS gebracht, wie nachstehend erhellt. Ansatze fUr eine forensische Neuropathologie liegen bereits vor, wenngleich eine zusammenfassende Bearbeitung noch aussteht. Aber ohne Zweifel wurden in den letzten 30 lahren von Gerichtsmedizinern bedeutende Beitrage zu einer forensischen Neurotraumatologie geliefert. Diese forensischen Arbeiten auf dem Gebiet der Neurotraumatologie erfolg ten zu einer Zeit, in der Neurologen, Psychiater und Internisten, die ja seit Mitte des letzen Jahrhunderts mitgearbeitet hatten, die Fundamente der allgemeinen und speziellen Neuropathologie zu legen, sich kaum noch neuropathologisch betatigen und beklagenswerterweise das Interesse an diesem Spezialfach verloren zu haben scheinen. Die beklagenswerte Abwendung der Kliniker von der Neuro pathologie muB sich in gutachterlichen Stellungnahmen, die sich mit der Neuro traumatologie befassen, widerspiegeln, da das bisherige so selbstverstandliche Vertrautsein mit neurotraumatologischen Details und neuropathologischen Kenntnissen in dem bisherigen MaBe nicht mehr besteht. Gerichtsmediziner ha ben hier mit ihrem Engagement ganz offensichtlich diese Liicke geschlossen. ledoch besteht mit der auch heute noch in einigen Instituten geiibten Zerlegung des unfixierten Gehirns in tabula ein altes Problem fort. Die Zerlegung eines nichtfixierten Gehirns in tabula stellt m. E. einen arztlichen Kunstfehler dar, der vor allem von Rechtsmedizinern nicht begangen werden sollte! Ein Sektions protokoll, das wegen der Fixierung des Gehirns und anschlieBender Zerlegung in Frontalscheiben zwar einige Tage spater als das des frisch zerlegten Gehirns fertiggestellt wird, bietet jedoch einen weit iiberlegenen makroskopischen Befund. x Vorwort So wie in einem modernen Beitrag zur Neurotraumatologie der Schadel-Hirn Verletzungen die Abhandlung biomechanischer Aspekte imperativ ist, so mussen in gleicher Weise klinische Aspekte zumindest zusammenfassend dargestellt wer den, weil sie ein wesentlicher Bestandteil der Symptomatik sind. Neuropathologie sollte und darf auch nicht losgelost von der Pathologie dargestellt werden, weil damit nur ein Teilaspekt gegeben wurde. Eine solche Darstellung ist auch insofern gefahrlich, weil die Auslassung wichtiger Befunde der allgemeinen und speziellen Pathologie nur ein beschranktes, unvollstandiges und damit letztlich oft auch falsches Bild vom bestehenden Gewebeschaden bietet. Bei der Autopsie besteht oft eine Art "Niemandsland" zwischen Pathologen und Neuropathologen; Areale, die oft weder von dem einen noch dem anderen untersucht werden. Dazu gehort beispielsweise die Untersuchung der Hypophyse, die bei jeder Autopsie eines Patienten mit einer Schadel-Hirn-Verletzung und/ oder einer Verletzung von HWS bzw. Halsmark untersucht werden muB. Bei Verletzungen der kraniozervikalen Ubergangsregion und indirekten und direkten Verletzungen der HWS bzw. des Halsmarkes sind Wirbelsaule mit umgebenden anatomischen Strukturen in situ in einem Block zu entfernen, oder aber es ist eine schichtweise Untersuchung dieser Region durchzufUhren. Die Untersuchung eines traumatisch geschadigten Ruckenmarks allein ohne eine entsprechende der dazugehorigen Wirbelsaule mit allen ihren anatomischen Strukturen ergibt ein nur unvollstandiges Bild des Schadensmusters, umgekehrt, wie auch die Unter suchung der Wirbelsaule allein, ohne Beschreibung der traumatischen Schaden am Ruckenmark ein unvollstandiges Schadensmuster ergibt. Bei traumatischen Schaden am kraniozervikalen Ubergang ist der Schnitt zwischen unterer Medulla oblongata und C 1 zu vermeiden, stattdessen sollte diese Region in toto mit der Medulla oblongata entnommen werden. Die Untersuchung der Karotiden und die der Aa. vertebrales sollte, wenn nicht routinemaBig, so doch bei entsprechenden Autopsien durchgefUhrt werden. Die Auswertung der Literatur zeigt, daB erhebliche Lucken in unserem Wissen um die pathologischen Prozesse in dieser Region bestehen. Eingehende und fundierte anatomische Kenntnisse sind ebenfalls zum Ver standnis neurotraumatologischer Syndrome vonnoten. Es kann und sollte vom Leser dieses Beitrages nicht erwartet werden, fUr das grundlegende Verstandnis topographisch und funktionell neuroanatomischer Gesichtspunkte zunachst nach weiterer, weit verstreuter und oft schwer zuganglicher neuroanatomischer Literatur zu suchen. Die anatomischen Grundlagen zum Verstandnis des trauma tischen Schadens sind in diesem Beitrag in gestraffter Form geliefert worden; die genannte Literatur wird dem naher Interessierten weitere Quellen fUr ein vertief tes Verstandnis liefern. Dieses Kapitel ist nicht nur fUr den Pathologen und Neuropathologen ge schrieben, der sich mit der geweblichen Untersuchung der traumatischen Hirn schaden befaBt, sondern auch fUr den Gerichtsmediziner, fur den die Neurotrau matologie nicht nur von groBter Wichtigkeit ist, sondern der an speziellen rechtsmedizinsichen Aspekten der Neurotraumatologie besonders interessiert ist. Diese Darstellung der Neurotraumatologie ist nach den Vorstellungen des Autors aber auch fUr den interessierten Kliniker geschrieben, wie Neurologen, Neuro- Vorwort XI chirurgen, Chirurgen, Orthopaden, Padiater, Otologen, Psychiater, Ophthal mologen etc., fUr die das Gebiet der Neurotraumatologie besonders wichtig ist und die Informationen iiber bestimmte Aspekte suchen. Das bearbeitete Thema ist eigentlich fUr jede medizinische Fachrichtung von Wichtigkeit, da das Gehirn nicht nur ein regulierendes, sondern auch ein reguliertes Organ darstellt und daher bei traumatischen Schaden am Gehirn auch andere Korperregionen oder Organe beteiligt sind, wie umgekehrt auch traumatische Korperschaden das Ge hirn beeinfluBen. Die traumatischen Schaden des Gehirns konnen nicht dargestellt werden, ohne daB die der Umhiillungen des Gehirns selbst und die des knochernen Scha dels unter Einbeziehung des Gesichts- und Gehirnschadels miteinbezogen wer den. Denn die traumatischen Schaden des knochernen Schadels stellen einerseits wichtige Symptome oder Syndrome bei bestimmten Hirnverletzungsformen dar, andererseits gibt der Schadelknochen oft die einwirkende kinetische Energie auf das Gehirn weiter, er wird damit zum verletzenden Agens. Eine "reine" Neuro traumatologie des Gehirns mit AuBerachtlassung der traumatischen Schaden an den knochernen Umhiillungen wiirde m. E. nur einen limitierten und damit fal schen Teilaspekt des krankhaften Geschehens darstellen. Es wird angestrebt, das Gebiet der traumatischen Schaden des Gehirns und seiner Umhiillungen systematisch darzustellen. Historische Riickblenden sollen die Giiltigkeit umstrittener Vorstellungen und den mehrsinnigen Gebrauch be stimmter Bezeichnungen entscheiden helfen. Dabei wird es evident werden, daB viele sog. Neuentdeckungen aus den 60er, 70er und 80er Jahren bereits viele Jahrzehnte vorher bekannt und publiziert waren. Hier drangt sich ein Satz von SANTAYANA auf: "Those who cannot remember the past are condemned to repeat it". Es handelt sich dabei kaum urn ein neues Phanomen, denn Rudolf VIRCHOW klagte schon im Jahre 1870: "Es ist eine der schlimmsten Seiten unserer gegen wartigen Entwicklungsperiode in der Medicin, daB die historische Kenntnis der Dinge mit jeder Generation von Studierenden abnimmt. Sogar von den selbsttha tigen jiingeren Arbeitern kann man in der Regel annehmen, daB ihr Wissen im hOchsten FaIle nur bis auf 3-5 Jahre riickwarts reicht. Was vor 5 Jahren publi ciert ist, existiert nicht mehr". Die argerliche U nart einiger Autoren, nur noch die Literatur der letzten 5 Jahre zu beriicksichtigen, fUhrt haufig zu sog. "Erstbeschreibungen" von Befunden, die dem mit der Literatur Vertrauten be reits seit vielen Jahrzehnten bekannt sind. Es ist nach Meinung des Autors erstaunlich und traurig zugleich, daB der Name von Hugo SPATZ, mit dem die moderne Neurotraumatologieforschung beginnt, in der angloamerikanischen Literatur nicht zitiert wird, obgleich ein groBeres zusammenfassendes Kapitel von ihm in englischer Sprache erschien (SPATZ 1950), das sehr leicht zuganglich ist, andererseits seine Befunde mit oft groBer Selbstverstandlichkeit ohne ihn zu zitieren verwandt werden. Es sind durchaus nicht immer die mangelnden Kennt nisse von Fremdsprachen bei einigen angloamerikanischen Autoren fUr die wie derholten peinlichen Neuentdeckungen langst bekannter Befunde und Daten verantwortlich zu machen, sondern oft, zu oft, werden Plagiate begangen; es wird abgeschrieben, ohne zu zitieren. Da diese Abhandlung fiir Schadel-Hirn-Verletzungen der jiingsten Zeit und zuriick bis in die letzten Weltkriege zu Rate gezogen wird, stellt es den Wandel