Gerhard Lehmbruch Parteienwettbewerb im Bundesstaat Gerhard Lehmbruch Parteienwettbewerb im Bundesstaat Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland 3., aktualisierte und erweiterte Auflage Westdeutscher Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iiber <http://dnb.ddb.de> abrufbar. 1. Auflage 1976, erschienen im Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2., erweiterte Auflage 1998 3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2000 Aile Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden, 2000 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer. www.westdeutscher-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. 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Auflage Die erste Auflage dieser Untersuchung erschien 1976, etwa zur Halbzeit der soziallibe ralen RegierungskQalition, die mit einem christlich-demokratisch beherrschten Bun desrat zu leben hatte. Damals prognostizierte ich, doill sich eines Tages eine CDU gefuhrte Bundesregierung mit einer SPD-Mehrheit in der Uindervertretung konfron tiert sehen konnte. Das hat sich dann fiinfzehn Jahre spater bestatigt. Aber das war nicht einfach eine spiege1bildliche Wiederholung der Konstellation der siebziger Jahre. Wiederum tauchte der Topos der "Reformblockaden" durch die Landervertretung auf, indessen -wie zu zeigen sein wird -in eigentiimlich zugespitzter Weise. Es lag nahe, die langst vergriffene Untersuchung wieder zuganglich zu machen. Eine unveranderte Neuauflage hatte indes die Auseinandersetzungen zwischen den Mehr heiten von Bundestag und Bundesrat nicht verstandlich machen konnen, die im Schei tern des Steuerreformgesetzes 1997/1998 gipfe1ten. Die Ausgangsbedingungen haben manche Wandlungen erfahren. Seit den siebziger Jahren haben sich sowohl der deut sche Foderalismus als auch das Parteiensystem zum Teil spiirbar verandert, und das findet seinen Niederschlag in manchen neuen Konfliktkonstellationen. Auch die Wandlungsprozesse, weIche die deutsche Vereinigung ausgelost hat, sind noch keines wegs abgeschlossen. Hinzu kommt, daB politische Akteure aus Erfahrungen der Ver gangenheit lernen konnen - ob zum Guten oder zum Schlechten. Dafiir bieten die neunziger Jahre wiederum wichtiges Anschauungsmaterial. Konstanz und Tiibingen, im Juli 1998 Vorbemerkung zur 3. Auflage Nach dem Ende der Ara Kohl bietet die Neuauflage die Gelegenheit, die Analyse der Wechse1wirkungen zwischen Parteiensystem und bundesstaatlichen Institutionen an den Erfahrungen der Friihphase der rot-griinen Koalition noch einmal zu iiberpriifen. Von dieser Erganzung (zum 5. Kapitel) abgesehen habe ich mich auf unerlaf~liche Aktualisierungen beschrankt und stilistische Unebenheiten sowie einige kleinere T extfehler bereinigt. 1m April 2000 Dem Gedenken an Theodor Eschenburg (1904-1999) Inhalt Einleitung: "Reformblockaden" oder institutionelle Verwerfungen? .....•...•......... 9 1. Konkurrenzdemokratie und Verhandlungsdemokratie ............................... 14 1.1. Innenpolitische Regelsysteme im modemen Staat ................................................ 14 1.2. Konkurrenzdemokratie und die Handlungslogik des Parteienwettbewerbs ....... 19 1.3. Verhandlungssysteme und Verhandlungsdemokratie .......................................... 24 1.4. Die Verschrankung von Entscheidungsebenen und Regelsystemen .................... 27 2. Das Parteiensystem auf dem Wege zum bipolaren Wettbewerb ....••...........• 31 2.1. Das Vielparteiensystem als V erhandlungssystem ................................................. 31 2.2. Die Konzentrationsbewegung des westdeutschen Parteiensystems ..................... 37 2.3. Die sozialliberale Koalition und der polarisierte Wettbewerb ............................. 45 2.4. Die Erosion des Dreiparteiensystems und ihre Folgen ........................................ 48 2.5. Das Parteiensystem und die deutsche Ve reinigung ............................................... 52 2.6. Koalitionsmanagement und Informalisierung des Parlamentarismus .................. 55 3. Der deutsche Bundesstaat als Verhandlungssystem •..•..••.••••••.••.•.••.............. 59 3.1. Kooperation im obrigkeitlichen Bundesstaat der Bismarckverfassung ................ 59 3.2. Der Bundesstaat im Zeichen der Parlamentarisierung ......................................... 65 3.3. Interdependenzen von Vielparteiensystem und Bundesstaat ............................... 70 3.4. Die Konstruktion des Bundesrates als Widerlager zur "Parteipolitik" ................ 77 3.5. Die Parteien als Bindeglieder zwischen Bundes-und Landerpolitik .................... 82 4. Unitarisierung und Politikverflechtung ......•.••••...•••.•••..••••..••..•................... 89 4.1. "Biindischer Unitarismus" in der Bonner Republik ............................................. 89 4.2. Die wachsende Bedeutung der Selbstkoordinierung der Lander .......................... 98 4.3. Die Unitarisierung und der Exekutivfoderalismus ............................................. 104 4.4. Die Finanzreform der GroBen Koalition und die Politikverflechtung .............. 112 4.5. Der Bundesstaat zwischen armen und reichen Landem ..................................... 123 4.6. Die deutsche Vereinigung als Herausforderung an den Foderalismus ............... 127 5. 1m Spannungsfeld von Parteienwettbewerb und Foderalismus .....•........... 134 5.1. Adenauer und die Entdeckung der Interdependenz der Arenen ........................ 134 5.2. Die sozialliberale Koalition und die Konfrontation im Bundesrat .................... 141 5.3 Die kooperativen Planungsgremien im Parteienkonflikt.. ................................. 149 5.4. Die Informalisierung des Bundesstaates in der A.ra Kohl ................................... 158 5.5. Die Nemesis der informellen Koordinierungspraxis .......................................... 162 5.6. Die rot-grune Koalition vor den bundesstaatlichen Kompromillzwangen ........ 173 8 Inhalt 6. Entflechtungsstrategien und ihre Chancen ............................................... 179 6.1. Engpasse im Verhaltnis von Bundesstaat und Parteienparlamentarismus ......... 179 6.2. Die Perspektive der Europaisierung. ................................................................... 184 6.3. Entflechtung des Bundesstaates? ......................................................................... 186 6.4. Flexibilisierung des Parteienwettbewerbs ........................................................... 194 Bibliographischer Anhang .•.•••••••••••.•••••••.••.•••••••••••.•..••••••••••••••••••••••...•..•••••••••.•• 200 Erganzende Hinweise zum Forschungsstand ...................................................... 200 Literaturverzeichnis ............................................................................................. 205 Sachregister •...•.•.•••••••••••••.•.••••••••••••.•...•••.......•••••••••••••••••••••..••.••••...•..••.••••••••••.•• 212 Einleitung: "Reformblockaden" oder institutionelle Verwerfungen? Thema dieser Untersuchung sind die Krisen, in welche die bundesstaatlichen Instituti onen erstmals mit Beginn der siebziger Jahre und dann wieder in den neunziger Jahren geraten sind. Ihr U rsprung liegt darin, daB sich der Parteienkonflikt seit der Bildung der sozialliberalen Koalition verscharlt hat und auch auf das Verhaltnis von Bund und Landern durchschlagt. Es solI im folgenden gezeigt werden, daB hier ein Struktur bruch im politischen System der Bundesrepublik Deutschland zutage tritt, der durch eigentiimliche entwicklungsgeschichtliche Verwerfungen bedingt ist: Das Parteiensys tem einerseits, das foderative System andererseits sind von tendenziell gegenlaufigen Handlungslogiken und Entscheidungsregeln bestimmt und konnen sich unter be stimmten Bedingungen wechselseitig lahmlegen. Schon das Festlaufen zahlreicher Reformvorhaben der sozialliberalen Regierungskoalition in den bundesstaatlichen Institutionen war ein Ausdruck dieser strukturellen Spannungen. In der zweiten Hali te der neunziger Jahre haben die selben institutionellen Verwerfungen aber auch dazu gefiihrt, daB man im Unternehmerlager und in konservativen Sektoren der Offent lichkeit von einem "Reformstau" sprach, der die Anpassungsfahigkeit der deutschen Politik an die Herausforderungen einer gewandelten internationalen Umwelt drama tisch gefahrde. Nach dem Regierungswechsel von 1969, der einen sozialdemokratischen Bundes kanzler brachte und die CDU im Bundestag in die Opposition verwies, schien ein Programm der "inneren Reformen", in dessen Rhetorik John F. Kennedys Proklama tion der "New Frontier" und Lyndon B. Johnsons "Great Society" anklangen, zu nachst eine tiefgreifende innenpolitische Wende zu verheiBen. Die Vieldeutigkeit und Unscharfe der "Reform"-Rhetorik erleichterten zwar die politische Mobilisierung, erschwerten indes auch eine klare Einschatzung von moglichen Zielen und Spielrau men der Veranderung. Zumal unter Sozialdemokraten, die nach fiinfzehn Jahren der Opposition und drei Jahren einer zuletzt schwer ertragenen Juniorpartnerschaft in der GroBen Koalition nun die Fiihrung iibernahmen, war das Hochgefiihl verbreitet, es habe sich ein "Machtwechsel" vollzogen, der viele iiberfallige Veranderungen in den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen erlaube. Dem ent sprach auf der Seite der konservativen Krafte, gleichsam spiegelbildlich, die vage Furcht vor dem Heraufkommen "schwedischer Zustande". Doch wenige Jahre spater war hinreichend deutlich, daB dem bemerkenswerten Kurswechsel in der AuBenpoli tik keineswegs ahnlich tiefgreifende Veranderungen in der Innenpolitik entsprachen. Schon in der zweiten Legislaturperiode der Koalition wurden die Schranken von "Re formpolitik" zu einem wichtigen Diskussionsthema sowohl bei den politischen Ak- 10 Einleitung teuren (insbesondere innerhalb der Sozialdemokratischen Partei) als auch in der Sozi alwissenschaft. Ganz offensichtlich hatte man die moglichen Hindernisse fur eine Politik der Reformen nur zum Teil vorhergesehen, und die Versuche, solche Hinder nisse vorbeugend aus dem Wege zu raumen, erwiesen sich vielfach als unzureichend. Reformen setzen Prozesse der Konsensbildung voraus. 1969 hatten die fiihrenden sozialdemokratischen Politiker zwar ein Konsensproblem offensichtlich genau gese hen und von vornherein als mogliche Hurde einer Reformpolitik einkalkuliert, nam lich das der koalitionsinternen Konsensbildung. Eine geschickte Politik bewuBter Rucksichtnahme auf den kleineren, liberalen Partner vermochte mogliche Friktionen jahrelang zu vermeiden. Die oft behauptete "Bremserrolle" der FDP innerhalb der Koalition ist wohl fiir manche fiihrenden Sozialdemokraten mitunter ein nicht un willkommenes Alibi gegenuber Kritikern in den eigenen Reihen gewesen. Und in der Bilanz der "Reformpolitik" stand der Zuriickhaltung der FDP in einer Materie wie der Mitbestimmung das Engagement der Liberalen beispielsweise in wichtigen Fragen der Rechtspolitik gegenuber. Die mit der Koalitionsproblematik verbundene Ausei nandersetzung uber eine Wahlreform, welche die kleinen Parteien eliminieren und einen "alternierenden Parteienwettbewerb" ohne Koalitionszwang ermoglichen sollte, hatte noch wahrend der GroBen Koalition (1966-1969) eine beherrschende Rolle ge spielt, aber in der politischen Publizistik der Folgezeit ist sie bemerkenswerterweise weitgehend eingeschlafen. Unter den Faktoren, welche den Handlungsspielraum der Regierungen Willy Brandt und Helmut Schmidt eingeengt haben, war die Zusammen setzung der Regierungsmehrheit lange Zeit sicher nicht der gewichtigste. Erst seit den spaten siebziger Jahren lieBen sich die Interessengegensatze zwischen den Koalitions partnern so schwer beherrschen, daB sie schlieBlich 1982 zum Auseinanderbrechen der sozialliberalen Regierungsmehrheit fiihrten. 1m Unterschied zur Koalitionsproblematik wurde aber ein anderes Konsensproblem in den Anfangen dieser Regierungsmehrheit ganz offensichtlich kaum einkalkuliert, namlich das bundesstaatliche. Die Chancen der Opposition, die Regierungspolitik durch die CDU-Mehrheit des Bundesrates zu konterkarieren, hat man wohl unter anderem deshalb unterschatzt, weil es damals in einigen Bundeslandern Regierungs mehrheiten aus CDU und FDP gab, sich somit die Koalitionen in Bund und Landern teilweise uberlappten. Dariiber hinaus machte aber die Leidensgeschichte des Bil dungsgesamtplans friihzeitig deutlich, daB auch die Mehrheit, uber die der Bund mit den sozialdemokratisch gefiihrten Landesregierungen in der Bund-Lander-Kommis sion fur Bildungsplanung verfiigte, fur sich nicht ausreichte, um eine Bildungspolitik im Sinne der Reformprogrammatik durchzusetzen. Die KompromiBzwange des "ko operativen Foderalismus" waren durch den Regierungswechsel keineswegs gemildert worden, und schon daran zeigte sich, daB von einem "Machtwechsel" doch nur sehr eingeschrankt die Rede sein konnte. Die Opposition hatte aus den Erfahrungen jener Jahre gelernt, und unter der Fuh rung von Helmut Kohl entwickelte sie, als sie im Bund wieder zur Macht gekommen war, systematisch einen Stil der informellen Koordinierung der Mehrheiten in Bun destag und Bundesrat, der das bundesstaatliche Storpotential fur die Parteiregierung erfolgreich minimierte, solange die gleichgerichteten Mehrheiten hielten. Ais aber zu "Reformblockaden" oder institutionelle Verwerfungen? 11 Beginn der neunziger Jahre die Mehrheiten erneut - und diesmal mit umgekehrten Vorzeichen - auseinanderliefen, zeigte sich allmahlich die Nemesis des konsequent parteizentrierten Koordinierungsstils. Wie im folgenden gezeigt werden soll, schlugen zwar wahrend der sozialliberalen .Ara die Parteienkonflikte in das Verhaltnis der Staatsorgane durch, aber die foderativen Aushandlungsprozesse wurden damals noch durch die Mechanismen koalitionsinterner Kompromillbildung erleichtert. In den neunziger Jahren hatte sich indes das Parteiensystem so verandert, daB diese Mecha nismen immer weniger griffen. Lid~ sich die Beziehung zwischen den gesetzgebenden Korperschaften in den siebziger Jahren noch als eine stille, wenngleich widerwillig durchgehaltene GroBe Koalition charakterisieren, so versagten in der zweiten Hallie der neunziger Jahre die eingeiibten Strategien der Kompromillbildung zunehmend ihren Dienst. DaB wir es mit einer strukturellen "Verwerfung" innerhalb des politi schen Systems zu tun haben, war in der Vergangenheit nicht immer sichtbar, weil unter giinstigen Bedingungen das Parteiensystem Aushandlungsroutinen entwickelt, die dem Foderalismus institutionell angepaBt sind. Erst am Scheitern der Steuerreform und anderer Regierungsvorhaben, die der Diskussion iiber den deutschen "Reform stau" neue Nahrung gaben, zeigte sich das Problem der Verwerfungen im deutschen politischen System in seiner ganzen Scharfe. 1m folgenden soll also der Frage nachgegangen werden, die Wilhelm Hennis schon wahrend der sozialliberalen .Ara als "ein Kernproblem der westdeutschen Verfassungs struktur" bezeichnet hatte: der "Ve reinbarkeit eines parlamentarischen Regierungssys tems mit Alternierungschance einerseits, einer starken Landerstruktur und foderativ orientierten Parteien andererseits" (Hennis 1974, Anm. 29). Dabei wird sich zeigen, daB verfassungspolitische Dberlegungen, die sich etwa auf die Frage richten, ob eine Partei, die im Bundestag die Opposition stellt, ihre gleichzeitige Mehrheitsposition im Bundesrat miBbraucht -also die CDU in den Jahren von 1969 bis 1982, die SPD zwi schen 1990 und 1998 -, solange vordergriindig bleiben miissen, als sie nicht die funkti onalen Zusammenhange zwischen Parteiensystem und bundesstaatlicher Struktur in den Blick nehmen. Zwar soll die Frage von Hennis nach der Vereinbarkeit von alter nierender Parteiregierung und Foderalismus hier nicht kurzerhand negativ beantwor tet werden. Die Dinge liegen verwickelter; doch es wird zu zeigen sein, daB die eigen tiimliche institutionelle Konstruktion des deutschen Bundesstaates insbesondere das Steuerungspotential des Parteienwettbewerbs deutlich begrenzt und damber hinaus in bestimmten Konstellationen zu schwerwiegenden institutionellen Funktionsstorungen fiihren kann. Ich konstatiere wohlgemerkt keine "generelle Unvereinbarkeit von Parteien- und Bundesstaatlichkeit" (so Abromeit 1993, 142; vgl. auch Abromeit 1984, 143), denn nicht von "Unvereinbarkeit" ist hier die Rede, sondern von "Inkon gruenz". Und das bezieht sich keineswegs "generell" auf Parteiensystem und Fodera lismus als Gattungsbegriffe, sondern auf spezifische "Handlungslogiken" und "Regel systeme", die -wie hier gezeigt werden soll-in bestimmten Abschnitten der Entwick lungsgeschichte in den beiden wichtigsten Arenen des politischen Systems, dem Par teiensystem hier und dem Bundesstaat dort, dominant geworden sind. Die entwicklungsgeschichtliche Perspektive ist fUr die Erklarung der hier unter suchten strukturellen Verwerfungen von zentraler Bedeutung . .Andern sich die politi-