Oscar W. Gabriel· Oskar Niedermayer' Richard Stöss (Hrsg.) Parteiendemokratie in Deutschland Oscar W. Gabriel . Oskar Niedermayer Richard Stöss (Hrsg.) Parteiendemokratie in Deutschland Westdeutscher Verlag Alle Rechte vorbehalten © 1997 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation. Redaktion: Heinz Ulrich Brinkmann Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Ur heberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Satzherstellung: Fotosatz Froitzheim AG, Bonn ISBN 978-3-531-13060-6 ISBN 978-3-322-95609-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95609-5 Inhalt Vorwort 9 I. Systematische Einführung 11 RICHARD STÖSS Parteienstaat oder Parteiendemokratie? 13 11. Parteiensystementwicklung 37 KARLRoHE Entwicklung der politischen Parteien und Parteiensysteme in Deutschland bis zum Jahre 1933 39 ECKHARD J ESSE Die Parteien im westlichen Deutschland von 1945 bis zur deutschen Einheit 1990 59 ECKHARD JESSE Die Parteien in der SBZIDDR 1945-1989/90 84 ÜSKAR NIEDERMAYER Das gesamtdeutsche Parteiensystem 106 111. Institutionelle Rahmenbedingungen 131 DIMITRIS Th. TSATSOS Die politischen Parteien in der Grundgesetzordnung 133 KARL-HEINZ NAßMACHER Parteienfinanzierung in Deutschland 157 5 IV. Bestimmungsfaktoren des Parteienwettbewerbs 177 PETER GLUCHOWSKI/ULRICH VON WILAMOWITZ-MoELLENDORFF Sozialstrukturelle Grundlagen des Parteienwettbewerbs in der Bundesrepublik Deutschland 179 WOLFGANG JAGODZINSKI/STEFFEN KÜHNEL Werte und Ideologien im Parteienwettbewerb 209 OSCAR W. GABRIEL Parteiidentifikation, Kandidaten und politische Sachfragen als Bestimmungsfaktoren des Parteienwettbewerbs 233 V. Innerparteiliche Strukturen und Prozesse 255 ThOMAS POGUNTKE Parteiorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland: Einheit in der Vielfalt? 257 OSCAR W. GABRIEL/OSKAR NIEDERMAYER Entwicklung und Sozialstruktur der Parteimitgliedschaften 277 DIETRICH HERZOG Die Führungsgremien der Parteien: Funktionswandel und Strukturentwicklungen 301 OSKAR NIEDERMAYER Beweggründe des Engagements in politischen Parteien 323 INGRID REICHART-DREYER Partei"reform 338 VI. Die Parteien im politischen System 357 KLAUS VON BEYME Funktionenwandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker 359 WOLFGANG ISMAYR Parteien in Bundestag und Bundesregierung 384 6 HERBERT SCHNEIDER Parteien in der Landespolitik 407 HILTRUD NAßMACHER Parteien und Wählergruppen in der Kommunalpolitik 427 OSKAR NIEDERMAYER Parteien auf der europäischen Ebene 443 1'HEO SCHILLER Parteien und Interessenverbände 459 ULRICH VON ALE MANN Parteien und Medien 478 JÜRGEN W. FALTER/HANS RATTINGER Die deutschen Parteien im Urteil der öffentlichen Meinung 1977-1994 495 VII. Parteien und Politikinhalte 515 HANS-DIETER KUNGEMANN / ANDREA VOLKENS Struktur und Entwicklung von Wahlprogrammen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994 517 MANFRED G. SCHMIDT Parteien und Staatstätigkeit 537 Abkürzungsverzeichnis 559 Personenregister 562 Sachregister 566 Die Autoren 572 7 Vorwort Der vorliegende Band liefert eine umfassende Bestandsaufnahme der Parteien demokratie in Deutschland. Er beschäftigt sich theoretisch wie empirisch auf breiter Grundlage sowohl mit der strukturellen als auch mit der funktionalen Dimension von Parteiendemokratie, analysiert also auf der einen Seite inner- und zwischen parteiliche Strukturen sowie deren Bestimmungsfaktoren und auf der anderen Seite die Funktionen der Parteien und deren Erfüllung. Zunächst erfolgt eine kritische Bestandsaufnahme der Theorie der Parteiendemokratie, danach wird die Parteien systementwicklung in Deutschland von ihren Anfängen im Reichsgründungsjahr zehnt bis nach der Bundestagswahl 1994 - einschließlich der Entwicklung in der ehemaligen DDR - analysiert und auf die institutionellen Rahmenbedingungen und sozialen Bestimmungsfaktoren dieser Entwicklung eingegangen. Den Abschluß der strukturellen Analyse bildet die eingehende Beschäftigung mit den innerpartei lichen Strukturen und Prozessen. Die funktionale Analyse widmet sich der Rolle der Parteien im politischen System und im Policy-Prozeß, wobei besonderer Wert einerseits auf die verschiedenen Ebenen des politisch-administrativen Systems - einschließlich der EU-Ebene - und andererseits auf die Beziehungsstrukturen zu den verschiedenen anderen Akteuren des intermediären Systems gelegt wird. Die einzelnen Beiträge gehen auf eine gemeinsame Tagung des Arbeitskreises Parteienforschung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und der Bundeszentrale für politische Bildung zurück, die im November 1995 in Berlin durchgeführt wurde. Die Herausgeber möchten an dieser Stelle sowohl der Bun deszentrale als auch allen Kolleginnen und Kollegen danken, die zum Gelingen der Tagung und zur Verwirklichung dieser Veröffentlichung beigetragen haben. Berlin und Stuttgart im November 1996 Oscar W. Gabriel Oskar Niedermayer Richard Stöss 9 I. Systematische Einführung RICHARD STÖSS Parteienstaat oder Parteiendemokratie ? I. Problemstellung Anfang Oktober 1985 fand im schweizerischen Freiburg i. Ue. die Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer statt. Die jährlichen Zusammen künfte der honorigen Staatsrechtslehrervereinigung finden zumeist in edlem Am biente statt, werden sorgfältig vorbereitet und mit großer Ernsthaftigkeit durch geführt. Einer der beiden Beratungsgegenstände der Freiburger Tagung lautete »Parteienstaatlichkeit - Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats?«1 Damit nahmen sich die Staatsrechtslehrer einer Problematik an, die in der Politi schen Wissenschaft bereits seit 1973 als Legitimations- oder Vertrauenskrise der Parteien (später: Parteiverdrossenheit) diskutiert wurde, und verliehen dem sozial wissenschaftlichen »Krisengerede« verfassungsrechtliche Bedeutung. Die Feststellung des deutschen Berichterstatters, Michael Stolleis, der Parteien staat sei »heute die allgemein akzeptierte Erscheinungsform des westlichen demo kratischen Verfassungsstaats«2, stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. So plädierte Klaus Schia ich beispielsweise dafür, daß sich die Staatsrechtslehrer von dem Begriff »Parteienstaat« verabschieden sollten. Denn der Begriff beschreibe die »Okkupa tion des Staatlichen und des Gemeinwohls durch die Parteien ... Und er legitimiert diese Okkupation, die die politischen Parteien zwar ganz natürlicherweise ständig anstreben, die das Verfassungs recht aber ebenso permanent abwehren muß.«3 Da mit stellte Schlaich eine Konstante im bundesdeutschen Verfassungsrecht in Frage: Bereits 1952, im ersten Jahr seines Bestehens, hatte das Bundesverfassungsgericht kurz und bündig erklärt: »Heute ist jede Demokratie zwangsläufig ein Parteien staat«4, und es hat diese Auffassung niemals explizit revidiert. Noch 1993 veröffent lichte der damalige Präsident des Gerichts, Roman Herzog, eine Schrift mit dem Titel »Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates«5. 1 Es war das zweite Mal, daß die Vereinigung staatsrechtliche Aspekte des Partei wesens debat tierte. Bereits im Oktober 1958 hatte man in Wien das Thema »Die verfassungsrechtliche Stel lung der politischen Parteien im modernen Staat« behandelt (s. dazu weiter unten). 2 Michael Stolleis in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (hinfort: VVDStRL), Heft 44 (1986), S.4 1 (Leitsätze). Die Leitsätze sind auch abgedruckt in: Die Öffentliche Verwaltung, 38 (1985) 22, S.9 63 ff. 3 VVDStRL,44 (1986), S. 12l. 4 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (hinfort: BVerfGE) 1, S.2 24. 5 Roman Herzog, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates, Heidelberg 1993. 13 Ein Jahr zuvor, 1992, hatte sich Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einem Gespräch mit den ZEIT-Korrespondenten Gunter Hofmann und Werner A. Perger außerordentlich kritisch über die politischen Parteien in der Bundes republik geäußert. Er hielt zwar am Begriff »Parteienstaat« fest, monierte aber, daß sich »die Parteien ... zu einem ungeschriebenen sechsten Verfassungsorgan ent wickelt (haben), das auf die anderen fünf einen immer weitergehenden, zum Teil völlig beherrschenden Einfluß entwickelt hat«6. Diese Äußerung mußte so ver standen werden, daß die fünf obersten Bundesorgane des Grundgesetzes7 durch die politischen Parteien in ihrer Funktion aufs schwerste beeinträchtigt sind, daß der verfassungsgemäße Parteienstaat zur - drastisch gesprochen - verfassungswidrigen Parteiendiktatur verkommt. So dürfte es sich kaum um einen Zufall handeln, daß Herzog sich exakt diesem Vorwurf in seiner bereits erwähnten Schrift widmet: Es habe »sich in letzter Zeit auch die Frage erhoben, ob die politischen Parteien mit ihrem momentanen Thn und Treiben und vor allem mit ihren Machtansprüchen nicht vollends rechtswidrig handeln und ob sie nicht gar dabei sind, die geltende Verfassung in einem anderen, so nicht vorgesehenen und daher eigentlich verfas sungswidrigen Zustand zu transformieren«8. Herzog verneint die Frage, konstatiert allerdings »Fehlleistungen« der Parteien und fordert sie zum »Umdenken und zur Selbstreinigung« auf. Unabhängig davon, ob man eher der Position des amtierenden Bundespräsi denten oder der seines Vorgängers zuneigt, ist festzuhalten, daß der Parteienstaat. Gegenstand auch rechtspolitischer Erörterungen geworden ist: »Sind wir von der >Mitwirkung< der politischen ParteienlO zu einem andere politische Einwirkungs möglichkeiten absorbierenden Alleinvertretungsanspruch der Parteien gekommen, der darüber hinaus die Rechtsbindung der staatlichen Gewalt in manchen Bereichen zu unterminieren droht und Züge einer Selbstermächtigung der Parteien trägt, wird gar der Staat zur Beute der Parteien?«l1 Haben sich die Parteien infolge der »Legalisierung des Parteienstaates«12 durch das Grundgesetz eine verfassungsrechtlich bedenkliche oder gar verfassungswidrige Machtstellung gesichert? Sind rechtspolitische Korrekturen notwendig, die den vom Grundgesetz gewollten Parteienstaat restituieren? Benötigen wir, so fragt Morlok, »nach der ersten Phase des Parteienrechts, in welcher es um die Anerkennung der Parteien und um deren rechtliche Absicherung ging, nunmehr Zeit für eine zweite Phase des Parteienrechts ... , in welchem die Offenheit des politischen Prozesses und 6 Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt a.~. 1992,S. 140. 7 Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht. 8 R. Herzog (Anm. 5), S. VI. 9 Vgl. ebd., S.34; mit ähnlicher Tendenz Peter Haungs, Aktuelle Probleme der Partei endemokratie, in: Jahrbuch für Politik, 2 (1992) 1, S. 37 ff. 10 Art. 21 I }o GG: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung dcs Volkes mit.« Ähnlich § 1 I 2 PartG. 11 ~artin Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet der politischen Parteien, in: Dimitris Th. Tsatsos/Dian Schefold/Hans-Peter Schneider (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich. Die Parteien in den demokratischen Ordnungen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1990, S. 729. 12 BVerfGE 1, S. 226. 14