LEOPOLD FREIHERR VON CHLUMECKY. ÖSTERREICH-UNGARN UND ITALIEN. DAS WESTBALKANISCHE PROBLEM UND ITALIENS KAMPF UM DIEVORHERRSCHAFT IN DER ADRIA. ZWEITE AUFLAGE. LEIPZIG UND WIEN. FRANZ DEUTICKE. 1907. Druck von Rudolf M. Rohrer in Brunn. Verlags-Nr. 1316. Vorwort zur ersten Auflage. Nur zu sehr ist unser Blick von dem unseligen Bruderzwiste in der Monarchie und dem alten häus- lichen Hader gebannt, der auch in unserem engeren Vaterlande nicht ruht. Wir sehen nicht, wie um uns sich alles ändert, neue Gedanken und neue Kräfte zum Durchbruche ringen. Nebensächliche Vorgänge im Innern wachsen für uns zu ungemessener Bedeutung, während zumeist das, was draußen vorgeht, unbeachtet bleibt. Wir wollen es nicht sehen denn die heimischen , Sorgen scheinen uns dringender, und wir glauben für alles Andere später noch Zeit zu finden. Später? Die Weltgeschichte hat keine Muße zu warten, und kein Mitleid für den Säumigen; sie geht rücksichtslos über ihn hinweg. Darum wäre es an der Zeit, etwas aufitnerksamer um uns zu blicken, und all die Summe an Kraft und Energie, welche heute im heimischen Streite vergeudet wird, einem besseren Ziele zuzuwenden: der geeinten Wahrung gemeinsamer Interessen. Oder sollen wir so lange zögern, bis daß sie un- wiederbringlich schwere Einbuße erlitten, und wir ihren Wert erst an den gemeinsam zu tragenden Verlusten und Schäden ermessen? Einesdieser Lebensinteressen, welches die beiden Teile der Monarchie eng verbindet, scheint bedroht: ! IV die volle Freiheit der Adria. Triest wie Fiume, Osterreich wie Ungarn müßten verkümmern, wenn die Adria das werden sollte, was in Italien neuesten» nicht Wenige fordern: ein italienischer See . . . ! Den Finger auf diese Wunde zu legen, ist des vorliegenden Buches Zweck. Nicht um sie zum Auf- brechen zu bringen, sondernumaufdie Notwendigkeit zu weisen, ernstlich dafür zu sorgen, daß sie baldigst vernarbe. Denn je mehr man von der Ersprießlich- keit des Bündnisses mit Italien durchdrungen ist, um so lebhafter muß man auch wünschen, daß bei- zeiten ein Interessengegensatz erstickt werde, der bei unverminderter Verfolgung gewisser Adria- und Balkan-Aspirationen Italiens für beide Teile recht ernste Gestalt annehmen könnte. Wenn daher in diesem Buche auch notgedrungen in erster Linie nur von dem Italien und die Monarchie Trennenden die Sprache ist, so geschieht dies doch nur in der Hoffnung, daß das uns Entfremdende, je allgemeiner es bekannt und je häufiger es öffentlich besprochen wird, um so eher beseitigt werden kann. Kennen wirersteinmalzurGenügedasÜbel,dann wirddie Heilungvielleicht doch noch möglich werden. Daß diese bald erfolge, sollte beider Verbündeter aufrichtigster Wunsch sein W i e n, Ende Oktober 1906. Vorwort zur zweiten Auflage. Die kurze Frist von drei Wochen, welche seit Erscheinen der ersten Auflage des vorliegenden Buches verstrichen ist, hat keinerlei Verschiebung der in demselben besprochenen Verhältnisse ge- zeitigt und es ist kein Ereignis eingetreten, welches eine Ergänzung oder Modifizierung meiner Aus- führungen bedingen würde. Unverändert übergebe ich daher ein zweitesmal mein Buch der Öffentlichkeit, welche in steigendem Maße ihre Aufmerksamkeit den im Süden der Monarchie sich abspielenden und zu gewärtigenden Vorgängen zuwendet. Möge die Erkenntnis sich all- mählich Bahn brechen, daß das adriatische Problem ein für die Monarchie schicksalschweres, über unsere Zukunft entscheidendes ist! Wien, 21. November 1906. Inhalt. Seite Vorwort zur ersten Auflage III Vorwort zur zweiten Auflage V Erstes Kapitel: Italien im Dreibunde I Zweites Kapitel: Das albanisch-mazedonische Chaos 55 Drittes Kapitel: Italiens Aktion am westlichen Balkan und das Zurückweichen der Monarchie 153 Viertes Kapitel: Wohin...? 219 Italien im Dreibunde. Sehr bald nach Königgrätz und Lissa zeigten sich die verschwommenen Umrisse eines austro- italienischen Bündnisses. Damals freilich in dem Sinne einer ganz andern Mächtegruppierung als jener, welche fast anderthalb Jahrzehnte später Öster- reich-Ungarn und Italien vereinigte. Revanche für Sadowa sollte das geheime Lockmittel sein, durch welches man Osterreich für den Zusammenschluß mit Frankreich und Italien zu gewinnen dachte. Italien scheint für seinen Beitritt zu diesem Bunde, dessen Zustandekommen doch vornehmlich im Interesse Napoleons lag, gerade von Österreich einen hohen Preis gefordert zu haben. Im Falle eines siegreichen Feldzuges gegen Preußen sollte das Trento dem Königreiche einverleibt werden. Die Forderung nach Abtretung dieser Gebiete hatte das Kabinett von Turin bereits bei den drei Jahre vorher stattgefundenen Friedensverhandlungen er- hoben. Trotz Custozza und Lissa wollte man sich mit Venetien nicht begnügen und so vertraten Nigra wie Menabrea mit großer Zähigkeit den Anspruch Italiens auf das Trento. Am 29.Juli, neunTagenachdem der „Re d'Italia" in den Grund gebohrt und die geschlagene italienische Flotte nach Ancona zurückgewichen war, betonte Chlumecky, Österreich-Ungarn undItalien. 2. Aufl. I der Minister des Äußern Visconti Venosta in einer Note an den Botschafter in Paris, Grafen Nigra, daß „der wichtigste Gegenstand der gegenseitigen Ver- handlungen die Rektifizierung der Grenzen des Veneto sei". Dieses müßte bis zum Isonzo und bis zu einer Demarkationslinie, die das Etschtal südlich von Bozen und nördlich von Trient zu durchschneiden hätte, reichen. „Wichtige Gründe erfordern eine solche Grenz- regulierung, durch welche insbesondere das Trento den mit Italien zu vereinigenden Gebietsteilen ange- gliedert werden müsse." Tags darauf überreichte Nigra an Drouyn de Lhu ys eine Note, in welcher der Erwartung Aus- druck gegeben wurde, daß Napoleon die italienische Regierung in diesen ihren Ansprüchen unterstützen werde. „Die Vereinigung des Trento mit dem König- reiche ist", so hieß es in der Note, ,.für Italien un- bedingt erforderlich. Dieses Territorium gehört ethnographisch, geographisch, durch seine Geschichte und in militärischer Beziehung zur Halbinsel. Italien verlangt nicht den ganzen Teil Welschtirols, welcher mit dem alten italienischen Reiche unter der Be- zeichnung ,alto adige' vereinigt war. Seine An- sprüche beschränken sich ausschließlich auf die von Italienern bewohnten Gebiete DieseFrage ist daher . . . von ungemein großer Bedeutung. Von der Art ihrer Lösung hängt zum großen Teile die Schaffung eines dauernd freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Italien und Österreich ab." Obwohl sich die französische Regierung diesen — AnsprüchenItaliens gegenüber ungemein reserviert — um nicht zu sagen ablehnend verhielt, gab sich Visconti Venosta noch nicht für geschlagen. Der Ver- treter Italiens bei den Friedensverhandlungen, Ge- neral ^Menabrea, wiederholte diese Forderung, bis er sich von ihrer völligen Aussichtslosigkeit überzeugte. Die allgemeine Unzufriedenheit über diesen „Ver- zicht" spiegelte sich aber in zahlreichen Kund- gebungen sowie auch in einer am 13. April 1867 gehaltenen Rede des Abgeordneten Ca iro1i wieder. Dieser sprach unter lautem Beifalle des Parlamentes die Hoffnung aus, etwas Stärkeres als die Waffen, der siegreiche nationale Gedanke, werde die Ver- wirklichung dieser Aspirationen erringen. So war es nur ein Fortspinnen alter Hoffnungen, wenn man auch im Jahre 1869 zur Forderung der Einverleibung des Trento zurückkehrte. Das Kabinett von Turin ist jedoch gar nicht in die Lage gekommen, sich dem wohl unausweichlichen, kategorischen refus der Mon- archie auszusetzen, auf solcher Basis in Verhand- lungen zu treten. Es scheint vielmehr die Frage der weltlichen Herrschaft des Papstes und der Räumung Roms, welche, von Menabrea aufgeworfen, auf Napoleons heftigsten Widerstand gestoßen war, den ganzen Plan zum Scheitern gebracht zu haben, noch ehe er in das Stadium förmlicher diplomatischer Unterhand- lungen getreten war. So wurde schon im Keime der Gedanke einer Staatengruppierung erstickt, welche einen innigeren Zusammenschluß Italiens und Österreichs zur Folge gehabt hätte. — — 4 Für längere Zeit war die Aussicht auf eine Allianz zwischen den beiden Gegnern des Jahres 1866 geschwunden. Der Berliner Kongreß hinterließ sogar eine merkliche Verstimmung zwischen den beiden Mächten: die öffentliche Meinung in Italien war dar- über erregt, daß Österreich-Ungarn dem Berliner Kongresse einen Länderzuwachs verdanke. Diese Un- zufriedenheit machte sich wie stets, wenn die öster- reichische Politik Italiens Mißfallen erregte, in lär- menden, irredentischen Kundgebungen Luft. Damals, wie zum großen Teile auch noch heute, wußte die öffentliche Meinung Italiens nicht, daß nur die Un- entschlossenheit und Schwäche seiner Staatsmänner daran Schuld trug, wenn dieselben mit leeren Händen von Berlin heimkehrten. Schon ein Jahr vor dem Kongresse teilte Andrässy im Namen Bismarcks dem italienischen Botschafter in Wien, Grafen Ro- bi1ant, mit, daß Deutschland eine Okkupation von Tunis durch Italien in keiner Weise behindern werde. Rom kehrte sich nicht an diesen Vorschlag. Ebenso — wies wie der einstige italienische Minister des — Äußern, Capp e11i, bestätigt derVertreter Italiens am Berliner KongTesse, Graf Corti, die ihm von Bü1 ow über Bismarcks Auftrag gemachte Eröffnung, Deutschland wäre mit Vergnügen bereit, die Frage der Besetzung von Tunis durch Italien am Kongresse zu vertreten, mit der ironischen Frage zurück ... „ob denn Fürst Bismarck so großes Gewicht darauflege, uns in einen Krieg mit Frankreich zu verwickeln?" Italien hatte den günstigen Augenblick für eine weit ausgreifende Mittelmeerpolitik versäumt, eine Politik, welche in dieser Form sich dem König-