Conditio Judaica 35 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert Herausgegeben von Hanni Mittelmann und Armin A. Wallas Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis : Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert / hrsg. von Hanni Mittelmann und Armin A. Wallas. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Conditio Judaica; 35) ISBN 3-484-65135-0 ISSN 0941-5866 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren Inhalt Hanni Mittelmann / Armin A. Wallas Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert 1 Gerald Stourzh The Age of Emancipation and Assimilation - Liberalism and its Heritage 11 Emil Brix Assimilation in the Late Habsburg Monarchy 29 Steven Beller Is there a Jewish Aspect to Modern Austrian Identity? 43 Jacques Le Rider Moi'se egyptien 53 Jakob Hessing Edges of Eternity: Richard Beer-Hofmann and Sigmund Freud 77 Milly Heyd Egon Schiele and Arnold Schönberg: Light within the Dissonance 85 Ruth HaCohen Reflections and Inflections of the Transfiguring Self. On the Music of the >Unheimliche< in the Works of Schönberg and Mahler 115 Andreas Herzog Deutsche, Juden oder Österreicher? Zum nationalen Selbstverständnis deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller in Prag (1866-1918) 141 Allan Janik Three Moravian Cosmopolitans: Paul Engelmann, Friedrich Pater, Johannes Oesterreicher 161 VI Inhalt Armin A. Wallas Mythen der Übernationalität und revolutionäre Gegenmodelle. Österreich-Konzeptionen jüdischer Schriftsteller zwischen Monarchie und Exil 171 Albert Berger Wien, Österreich und das >Reich<. Das Scheitern des Dichters Josef Weinheber im Spannungsfeld von Nationalsozialismus, Patriotismus und >innerer Emigration 195 Klaus Amann »Mauthausen ist eine schöne Gegend« - Die Last des Verschwiegenen .. 209 Johann Holzner Österreich-Gedichte von Verfolgern und Verfolgten 229 Evelyn Adunka The Fourth Community. The Reconstruction of the Vienna Jewish Community after 1945 243 Jürgen Egyptien Die unvollendete Symphonie. Das Konzept einer österreichischen Identität und nationalen Souveränität in den Schriften von Ernst Fischer . 249 Evelyn Deutsch-Schreiner >Theaterland Österreich<. Die Rolle des Theaters zur Konstituierung von Identität in der Nachkriegszeit 263 Robert S. Wistrich The Haider Phenomenon 273 Elazar Benyoetz Die Zukunft sitzt uns im Nacken 299 Autoren des Bandes 319 Personenregister 321 Hanni Mittelmann / Armin A. Wallas Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert Sucht man den Begriff »österreichischer Identität« zu definieren, so stößt man auf eine Vielzahl kontroversieller und widersprüchlicher, wie auch ge- genläufiger Tendenzen und Elemente. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, anstatt von »österreichischer Identität« von »österreichischen Identität^«« zu sprechen. Ebenso sind auch die Modelle jüdischer Identitäten, wie sie in den beiden letzten Jahrhunderten - zwischen Emanzipation und Assimilation, Zionismus und Antisemitismus - ausgearbeitet wurden, heterogen und viel- gestaltig. Solche pluralen Identitätsentwürfe wurden im Kontext der politi- schen Ereignisse sowie der sozialen und kulturellen Veränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts vielfach modifiziert und transformiert bzw. durch ge- änderte Identitätsmuster ersetzt. Wie der bedeutendste Historiker österreichi- scher Identität, Friedrich Heer, feststellt, war die Konstruktion von Identität zumeist mit Krisenerfahrungen verknüpft: Es gibt kein geschichtliches Gebilde in Europa, dessen Existenz so sehr mit den Identi- tätsproblemen seiner Mitglieder verbunden ist wie Österreich. [...] Österreichische Identität: Sie lebt im 19. und 20. Jahrhundert - bis 1945 - in ständigen Identitätskri- sen - sie lebt in diesen Krisen, fast ständig bedroht von Identitätsverlust [...].' Konturen und Inhalte österreichischer Identitäten änderten sich zunächst auf- grund historischer und geopolitischer Zäsuren: Bis 1918 umfaßte der Öster- reich-Begriff das Gebiet der Habsburgermonarchie. Doch diese mitteleuropäi- sche Ordnungseinheit befand sich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in krisenhafter Auflösung, vornehmlich bedingt durch das Erstarken der nationa- len Bewegungen, die unzureichend durchgeführte Demokratisierung und die verspätete Modernisierung der Monarchie. Ein Zustand, den Robert Musil im Roman Der Mann ohne Eigenschaften als »kakanisch« beschrieben hat: Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich münd- lich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwyr abgelegt hatte, aber in allen Gefuhlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, däß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren 1 Friedrich Heer: Der Kampf um die österreichische Identität. Wien, Köln, Graz: Böh- lau 1981, S. 9 und 17. 2 Hanni Mittelmann/Armin A. Wallas alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, wel- ches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Ab- solutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. [...] es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eige- nen Existenz und von der großen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht unwiderruflich Geschehenen wie von dem Hauch der Ozeane umspült, denen die Menschheit entstieg.2 Zudem gab es seit der Aufteilung der Monarchie in eine »ungarische« und eine »österreichische« Reichshälfte (»Ausgleich« des Jahres 1867) nur noch wenige Gemeinsamkeiten, die den Zusammenhalt gewährleisteten. Das Gemeinsame beschränkte sich mehr oder weniger auf die Person des Monarchen, die Armee und die Außenpolitik. Der westlichen - »österreichischen« - Reichshälfte fehlte sogar der einigende Name. Statt dessen gab es provisorische Bezeichnungen wie »die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« oder »Cisleithanien« (d. h. das diesseits der Leitha, des Grenzflusses zu Ungarn gelegene Gebiet). Die Namenslosigkeit kann als ein Symptom des sukzessiven Identitätsverlusts ge- deutet werden. Die Bezeichnung(en) »k. (u.) k.« für »kaiserlich (und) könig- lich«, zu unterscheiden lediglich durch den Gebrauch bzw. Nicht-Gebrauch des kopulativen »und«, bezog(en) sich entweder auf die Gesamtmonarchie (k. u. k. - »königlich« bezeichnete in diesem Fall das Königreich Ungarn) oder auf Cis- leithanien (k. k. - »königlich« benannte hierbei das Königreich Böhmen). Die Paradoxien und die Namenslosigkeit (bzw. verwirrende Namensvielfalt) der Monarchie inspirierte Robert Musil zu der satirischen Karikierung dieses Staa- tengebildes im Begriff »Kakanien«. Während die integrativen Kräfte zunehmend an Legitimität verloren, dynamisierten und radikalisierten sich die zentrifugalen Tendenzen. Die Bewohner »Cisleithaniens« verstanden sich immer weniger als »Österreicher«, sondern vielmehr als »Deutsche«, »Tschechen«, »Polen«, »Ita- liener«, »Slowenen« etc. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg brachte den Prozeß der Dekomposition der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu einem Ab- schluß: auf dem Gebiet des ehemaligen Reiches wurden Nationalstaaten - die sogenannten »Nachfolgestaaten« - gegründet; nach der Abdankung des Kaisers entstanden republikanische Staatsformen. »Österreich« beschränkte sich nun auf die deutschsprachigen Gebiete der Monarchie mit der ehemaligen Reichs-, Haupt- und Residenzstadt Wien und den Alpenländern. Die Geschichte der Ersten Republik Österreich wurde von den oft gewaltsam ausgetragenen Konflikten zwischen den ideologischen Lagern und ihren ge- genläufigen Österreich-Konzeptionen geprägt: Deutschnationalismus (Antikle- rikalismus, Antisemitismus, großdeutsch-antiösterreichische Ideologie), christlich- 2 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I. Roman. Neu durchgesehene und ver- besserte Ausgabe 1978. Hg. von Adolf Frise. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990 (Rowohlt Jahrhundert; 1), S. 33ff. (Erstausgabe 1930). Österreich-Konzeptionen undjüdisches Selbstverständnis 3 soziale Bewegung (Katholizismus, Antisemitismus, Kleinbürgertum) und So- zialdemokratie (Internationalismus, Arbeiterbewegung). Einen Höhepunkt er- reichte der Kampf zwischen den Ideologien im Jahre 1934, mit der Nieder- schlagung des Arbeiteraufstands durch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im Februar und das anschließende Verbot der Sozialdemokratie; im Juli folgte ein Putschversuch der Nationalsozialisten, bei dem Dollfuß ermordet wurde. Trotz unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung herrschte in der Ersten Repu- blik lange Jahre der Mythos von der »Lebensunfähigkeit« Österreichs vor, ver- bunden mit dem Streben nach einem »Anschluß« an Deutschland (sei es aus nationalistischen - von Seiten der Deutschnationalen - oder aus internationa- listisch-demokratischen Motiven - von Seiten der Sozialdemokraten). Doch auch die Mythographie Österreichs als des »besseren Deutschland«, mit der sich das Regime des diktatorischen, 1934 eingerichteten »christlichen Stän- destaates« zu legitimieren suchte, erwies sich letzten Endes als ein weitge- hend inhaltsleeres Propaganda-Instrument (Umdeutung der Österreich-Idee im christlich-konservativen Sinn). Abgesehen davon, daß es die ständestaatli- che Österreich-Propaganda nicht vermochte, dem Nationalsozialismus effektiv Widerstand zu leisten, verengte sie den Österreich-Begriff auf den »deutschen« und den »christlichen« Aspekt. Die ursprüngliche Vielfalt und Multinationali- tät des Österreich-Begriffs wurde negiert. Mit dem von der Mehrheit der Bevölkerung freudig begrüßten »Anschluß« Österreichs an Hitler-Deutschland im Jahre 1938 erfolgte die nächste gravieren- de Zäsur. Österreich wurde zwar okkupiert, viele Österreicher stellten sich je- doch willig in den Dienst der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Die österreichischen Juden wurden enteignet, in die Emigration vertrieben, in Kon- zentrations- und Vernichtungslager deportiert und ermordet. Literaten, Künstler und Intellektuelle - vorwiegend jüdischer Herkunft - suchten im Exil ein neues Österreich-Bewußtsein - vielfach unter Rückgriff auf die übernationalen Tra- ditionen der habsburgisehen Vergangenheit - zu rekonstruieren. In dem 1945, nach dem Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland, wiedererrichteten »neu- en« Österreich vollzog sich der langwierige, zuweilen krisenhaft verlaufene Prozeß der Herausbildung einer »österreichischen Nation«, dessen Genese der Sozialhistoriker Ernst Bruckmüller Anfang der 1980er Jahren (d. h. vor dem Aufbrechen der Verdrängungen österreichischer Nachkriegsgeschichte in der Waldheim-Krise) so beschrieben hat: [...] so kann man jedenfalls davon berichten, daß die Nation Österreich heute exi- stiert, hervorgegangen aus Desintegrationsvorgängen wie 1918 und 1945, aber auch aus Integrationsvorgängen - wobei die vor 1945 liegenden teils verdrängt, teils in ihrer Wirkungskraft gering eingestuft werden.3 3 Ernst Bruckmüller: Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1984 (Studien zu Politik und Verwaltung; 4), S. 217. 4 Hanni Mittelmann / Armin A. Wallas Die Zweite Republik präsentiert sich jedoch janusgesichtig: Auf der einen Seite stellt Österreich durchaus das Modell einer funktionierenden Demokratie und ökonomischer Prosperität dar, auf der anderen Seite vermieden es die Nach- kriegspolitiker, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen: die Emigranten wurden bis auf wenige Ausnahmen nicht zurückgerufen; die »Wiedergutmachungs«- Verhandlungen wurden verschleppt. Erst in den 1990er Jahren setzte ein Prozeß der systematischen (noch nicht abgeschlossenen) Aufarbeitung, Dokumentation und Entschädigung von Zwangsarbeit im NS-Staat, Enteignungen jüdischen Vermögens und Raubkunst in öffentlichen Kunstsammlungen ein. Für den (bis heute immer wieder erkennbaren) unsensiblen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich gibt es zwei Voraussetzungen. Zunächst herrschte für lange Zeit der Opfer-Mythos vor: Österreich wurde zum »ersten Opfer Hitlers« stilisiert, damit ging die Weigerung einher, die Mitverantwor- tung für die Verbrechen des NS-Regimes zu übernehmen. Zum anderen wurde es im Rahmen des notwendigen Modernisierungsschubs Österreichs unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Bruno Kreisky in den 1970er Jahren weitgehend verabsäumt, die Voraussetzung jeder mentalen, intellektuellen und sozialen Modernisierung - das ist: die kritische Aufarbeitung der Vergangen- heit - in Angriff zu nehmen. Statt dessen wurde die gesellschaftliche Moderni- sierung vom offensichtlichen Bemühen, das Vergangene zu verdrängen, be- gleitet (Attacken Kreiskys gegen Simon Wiesenthal; ehemalige NSDAP-Mit- glieder im Ministerrang; Kreiskys trotz seiner jüdischen Herkunft gespanntes Verhältnis zum Staat Israel). Der Opfer-Mythos wurde im Zuge der Waldheim-Krise (1986) erstmals umfassend in Frage gestellt. Verdrängte österreichische Vergangenheiten bra- chen auf. Parallel zu der wichtigen historischen Aufarbeitung und der - bis Mitte der 1980er Jahre weitgehend verabsäumten - Rezeption dieser Erkennt- nisse durch die politischen Entscheidungsträger setzte jedoch eine Verselb- ständigung der Geschichtsdarstellung im öffentlichen (politischen und publizi- stischen) Diskurs ein, der in einen neuerlichen Mythisierungsprozeß mündete. Der Mythos von Österreich als »Opfer Hitlers« wurde ersetzt durch den Ge- genmythos von Österreich als »Land der Täter«, dem »Verschweigen« folgte die »Stigmatisierung«. Opfer-Mythos und Täter-Mythos beding(t)en einander. Der Gegenmythos war notwendig, um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit - konkret: die Beteiligung Österreichs an der nationalsozialistischen Vernich- tungspolitik (»Arisierung«, Zwangsarbeiter, Vernichtungskrieg, Österreicher an den Schaltstellen des NS-Staates etc.) - zu initiieren, andererseits birgt er die Gefahr einer Verselbständigung in sich, so daß die Komplexität der öster- reichischen Geschichte und deren Genese aus dem Blick verloren und das Blickfeld der Österreich-Kritik auf die Epoche von 1938 bis 1945 eingeengt wird. Österreich war beides: »Täter« und »Opfer«. Welche Rolle kommt nun dem spezifischen Problem »jüdischer Identitäten« im Kontext der Transformationen und Transfigurationen österreichischer Iden- titäten zu? Die Polyphonie der Diskurse ist bedingt durch die Ausarbeitung