Enno Freye Opioide in der Medizin 6. Auflage Springer-Verlag Berlin Heide1berg GmbH Enno Freye Opioide in der Medizi 6. aktualisierte und erweiterte Auflage Mit 236 Abbildungen und 93 Tabellen Springer Professor Dr. med. Enno Freye Deichstraße 3a 41468 Neuss-Uedesheim ISBN 978-3-662-09097-8 ISBN 978-3-662-09096-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-09096-1 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikrover filmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grund sätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1999, 2004 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 2004 Softcover reprint of the hardcover 6th edition 2004 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewährung übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Ulrike Hartmann, Springer-Verlag Projektmanagement: Gisela Schmitt, Springer-Verlag Lektorat: Michaela Mallwitz Herstellung: PRO EDIT GmbH, Heidelberg Satz: Hagedorn Kommunikation, Viernheim Umschlaggestaltung und Layout: deblik, Berlin 106/3160beu-göh - 5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf säurefreiem Papier v Vorwort zur 6. Auflage Vorwort zur 6. Auflage Nach anfänglichen Hindernissen ist jetzt die 6. Auflage dieses zum Standard einer Opioidtherapie gehörenden Buches geglückt. In der Neuauflage wird sowohl auf das für den Durchbruchschmerz neu entwickelte orale transtherapeutische System von Fentanyl (Actiq) als auch auf ein weiteres, erst kürzlich entwickeltes transdermales System, das Bupre norphin-TTS (Transtee) näher eingegangen. Insbesondere wird zur Erleich terung der Wahl zwischen Fentanyl-TTS und/oder Buroprenorphin-TTS der Therapeut auf die potenziellen Vor- und Nachteile der beiden Opioid applikationsformen und auf die Risken (Missbrauch, Toleranzentwicklung) hingewiesen. Zur differenzierteren Anwendung von Opioiden bei weiblichen Patienten ist ein neues Kapitel zum Thema »Sex, Gender und Schmerz« hinzugefügt worden. Dieser Zusatz erscheint insofern gerechtfertigt, weil nicht nur sozio kulturelle Unterschiede ein unterschiedliches Schmerzempfinden von Mann und Frau aufweisen, sondern vielmehr auch zyklusbedingt das Schmerzemp finden differiert und bei der Frau die analgetische Wirkungsstärke der Agonisten/Antagonisten in der Vergangenheit völlig unterschätz worden ist. Des Weiteren wurde das Kapitel »Opioide im Rahmen der Allgemeinanäs thesie« insofern erweitert, als die geschichtliche Entwicklung der intravenösen Anästhesie, die ohne Opioide nicht denkbar ist, abgehandelt wird. Es werden die Anästhesisten, die daran maßgeblich beteiligt waren, entsprechend gewür digt, weil sie Wegbereiter der heutigen Narkosetechniken sind und alle aus der Ära der klassischen Neuroleptanästhesie (NLAE) stammen, einer Zeit in der fast alle 2 Jahre ein neues Opioid auf dem Markt kam. Zum momentanen Zeit punkt sind grundsätzliche Innovationen neuerer Opioide nicht mehr zu erwarten, weil aufgrund der Denkweise pharmazeutischer Firmen ein rein marktorientiertes Management vorherrscht, und selbst ehemalige Marktführer auf dem Opioidsektor von Anästhesie und Intensivmedizin an Bedeutung ver loren haben. Neu abgehandelt werden zwei selektiv-peripher wirkende Opioidanta gonisten (Metyl-Naltrexon, Alvimopan), die zur Therapie opioidbedingter Nebenwirkungen, insbesondere der Obstipation, kurz vor der Zulassung stehen. Und schließlich wird die Opioidtherapie bei zwei extremen Altersgruppen, den Säuglingen und den geriatrischen Patienten, im Detail abgehandelt, um auch bei diesen eine Optimierung der Opioidwirkung zu erreichen. Düsseldorf, im Frühjahr 2004 Prof. Dr. med. Enno Freye VI Hinweis für den Leser Hinweis für den Leser Die aus den früheren Auflagen übernommene Literatur ist kapitelweise geord net (Anhang D.l und D.2) und wird im Text mit Zahlen in eckigen Klammern zitiert. Gegenüber der Literatur der 5. Aufl. erscheinen die in der 6. Aufl. neuen Literaturstellen im Text mit Autoren und Jahreszahl. Diese neu hinzuge kommenen Literaturstellen sind alphabetisch geordnet und im Anhang D.3 aufgelistet. VII Vorwort zur 5. Auflage Vorwort zur 5. Auflage Auch die 4. Auflage war innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Und weil die Nachfrage weiterhin besteht, ist es jetzt notwendig geworden, eine 5. Auflage herauszubringen, die eine weitere Überarbeitung und Straffung erfahren hat. Im Besonderen wird auf die Differenzierung zwischen somatischen und neurotischen Schmerzen, ihre unterschiedlichen Auslösemechanismen und die Bedeutung der Opioide in der Therapie solcher Schmerzsyndrome näher eingegangen. Weiterhin werden neue galenisch aufbereitete Formen der Opioide zur Schmerztherapie in Klinik und Praxis aufgenommen und erhält das Kapitel »der narkosegestützte Opioidentzug« eine Erweiterung, weil das Interesse an diese Form des Entzugs beim Opioidabhängigen zugenommen hat. Des Weiteren erhält die Methode der transdermalen Opioidapplikation, die in den vergangenen Jahren mit dem Fentanyl-TTS Eingang in die Klinik gefunden hat, durch einen neuen Kandidaten, dem partiellen Agonisten Buprenorphin in Form der transdermalen Applikation zur Therapie chro nischer Schmerzen, eine Erweiterung. Eine weitere neue Applikationsform ist die durch Osmose betriebene Minipumpe von der Größe eines Streich holzes, die subkutan in den Oberarm für mehrere Monate implantiert werden kann. Hierbei wird das Opioid Sufentanil kontinuierlich abgegeben, so dass bei chronischen Schmerzen dauerhaft eine gleichbleibende Konzentration im Organismus aufrecht erhalten wird. Diese neue Verabreichungsform stellt jedoch nur den Beginn einer Therapieform dar, eine Reihe von Substanzen auf diesem Wege kontinuierlich und über einen längeren Zeitraum zu ver abreichen. Auch wird in der 5. Auflage auf die Problematik einer unzureichen den Schmerztherapie beim Neonaten und Kleinkind im Detail hingewiesen, wobei auf die in den frühen Lebensjahren richtungsweisenden, schmerzhaften Engramme und ihre Bedeutung für das spätere Verhaltensmuster näher einge gangen wird. Bei allen diesen Neuerungen möchte ich meinen ganz besonderen Dank Herrn Dr. Fischer/Mainz aussprechen, der die schwierige Aufgabe übernom men hatte, stilistische Unebenheiten auszubügeln und aufgrund seiner breiten fachlichen Kompetenz überall dort wo Klarheit angesagt war, auf einer Umfor mulierung zu bestehen. Ich weiß, dass nur durch sein aktives Zutun, die 5. Auflage maßgeblich an Verständlichkeit und Genauigkeit gewonnen hat. Düsseldorf, im Sommer 2001 Prof. Dr. med. Enno Freye IX Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Der Schmerz, 23 Schmerz und Opioide bei Kindern Teil des protektiven Systems und Neugeborenen ..... , ..... . 227 2 Neurophysiologische Grundlagen 24 Einsatz der Opioide bei alten Patienten 243 des Schmerzes 9 2S Analgesie mit Opioiden 3 Hinterhorn des Rückenmarks -Ort der bei Unfallverletzten . · . 253 Modulation nozizeptiver Afferenzen 13 26 Opioide in der Intensivmedizin ... 257 4 Neurophysiologische Grundlagen 27 Neuroaxialer, rückenmarknaher Einsatz chronischer Schmerzen · . 23 von Opioiden . 267 5 Supraspinale Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung .. · . 29 28 Opioidantagonisten: gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle 6 Rationale zur Opioidtherapie Agonisten .. 279 bei Schmerzen 33 29 Toleranzentwicklung unter Opioiden - 7 Opioidwirkung abhängig von Affinität, molekulare Mechanismen, klinische intrinsischer Aktivität und Lipophilie 39 Bedeutung . 291 8 Rezeptorinteraktion von Agonisten, 30 Opioide mit peripherem Angriffsort · . 305 Antagonisten und partiellen Agonisten , , 45 31 Endogene Opioide 9 Wirkungen und Nebenwirkungen (Endorphine, Enkephaline) ... 311 der Opioide 55 32 Exorphine (exogene Opioidpeptide) 10 Antitussive Wirkung der Opioide 79 und ~-Casomorphine , 323 11 Sucht- und Abhängigkeitspotenzial 33 Der opiatabhängige Patient · . 325 der Opioide 81 34 Opioidnachweis durch Bedsidetests 12 Opioide und Nausea - Emesis , ,. . , , ... , 87 oder Sticks , .357 13 Opioide und Muskelstarre (Rigidität) .... 91 35 Opiatentzug in Narkose . .•.•.. 371 14 Opioide und gastrointestinale Hemmung Anhang ... . .......... 379 (Obstipation) 95 A Betäu bu ng smittel-Versch reib u ng s- 15 Opioide und kardiovaskuläre Wirkungen . 99 verordnung (BtMVV) .. .... 379 16 Postoperativer Einsatz von Opioiden .... 105 B Alphabetische Reihenfolge der in Deutsch- land gebräuchlichsten Agonisten, partielle 17 Opioide in der Langzeittherapie Agonisten und Antagonisten sowie einiger chronischer Schmerzen ... 121 Opioide im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 18 Spezielle, alternative Applikationsformen C Glossar ...... ... . . 390 der Opioide 143 Gründe für das häufige Vorkommen von 19 Opioide im Rahmen Anglizismen im Drogenszenenjargon ..... 390 der Allgemeinanästhesie · . 171 D Literatur .. ... . .. 416 20 Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung für den praktischen Einsatz . . 207 D.1 Literatur zu Kap. 1-21, 23-28, 30 .. 416 D.2 Literatur zu Kap. 31-35 ... .............. 437 21 Interaktionen der Opioide mit anderen Pharmaka ... 215 D.3 Zusätzliche (im Vergleich zur 5. Aufl. neu hinzugekommene) Literatur . . .. 445 22 Opioide, Gender, Sex und Schmerz - geschlechtsbedingte Wirkungen . . .. 221 E Sachverzeichnis .. .. . . 459 1 Der Schmerz, Teil des protektiven Systems '.1 Auswirkungen akuter Schmerzen auf den Organismus -, 1.2 Ursachen für eine ungenügende Schmerztherapie. Die 11 Mythen - 3 Der Schmerz ist eine unangenehme und emotional die wegen unerträglicher Schmerzen den Arzt auf stark gefärbte sensorische Empfindung, die mit suchen, ausreichend geholfen werden. einer realen oder potenziell gefährlichen Gewebs zerstörung einhergeht. Er ist dabei jedoch ein 1.1 Auswirkungen akuter Schmerzen integrierter Teil unseres Lebens, der uns vor auf den Organismus möglicherweise gefährlichen thermischen, mecha nischen oder chemischen Noxen schützt, indem er Der Schmerz als Warnsymptom, das die Aufmerk unsere Aufmerksamkeit auf den Insult richtet, samkeit des Individuums auf die verletzte Stelle damit eine weitere Schädigung der Integrität des richtet, damit eine weitere Schädigung vermieden Organismus vermieden wird. wird und schützende Maßnahmen ergriffen wer Dabei ist Schmerz, akut oder chronisch, der den, kann ein derartiges Ausmaß annehmen, Hauptgrund dafür, dass Patienten einen Arzt auf dass die als Schutzmaßnahmen gedachten kör suchen, dessen wichtige Aufgabe es ist, eine Chro perlichen Reaktionen überhand nehmen und nifizierung zu verhindern, damit der Schmerz das Individuum zusätzlich belasten. So führen nicht über den Zeitpunkt einer zellulären Läsion Schmerz und Angst über eine Aktivitätssteigerung hinaus aktiv wird und zu einer Erkrankung »sui des adrenergen Systems zu einer Ausschüttung generis« wird. von Adrenalin und Noradrenalin. Gleichzeitig wer Der Mechanismus der Schmerzentstehung den über die Achse Kortex-Hypothalamus-Adeno ist recht komplex, denn das Schmerzempfinden hypophyse-ACTH die Gluko- und Mineralokorti wird vom jeweiligen emotionalen Zustand des koide aus der Nebenniere ausgeschüttet. Vom Patienten, dem Erkrankungsstadium, den indi Hypophysenhinterlappen werden unter der den viduellen Schmerzerfahrungen, den soziokulterel Schmerz begleitenden Stressreaktion die Hormone len Unterschieden und von dem jeweiligen hor ADH (antidiuretisches Hormon) und STH (soma monellen Status beeinflusst, sodass eine sofortige totropes Hormon) freigesetzt. Alle diese Abwehr klinisch exakte Diagnose nicht immer möglich reaktionen führen im kardiovaskulären System ist. zu folgenden Veränderungen: Während 1/3 der Weltbevölkerung unter aku Hypertonie, ten, wiederkehrenden oder chronischen Schmer Tachykardie, zen leidet und das jeweilige nationale Gesund Vasokonstriktion (peripher und im Splanch heits- und Sozialsystem durch Krankenhausauf nikusgebiet), enthalte, Arbeitsausfall und Erwerbsunfähigkeit vermehrte Herzarbeit, extrem belastet wird, kann nur 50 % der Patienten, gesteigerte kardiale Erregbarkeit, 2 Kapitel 1 Der Schmerz. Teil des protektiven Systems Zunahme des myokardialen 02-Bedarfs Immunosuppression, die auf einer Freisetzung (MV02)· von Glukokortikoiden über einen langen Zeit Zu diesen durch die Hormone der Nebenniere raum basiert und in eine erhöhte Anfälligkeit ausgelösten Herz-Kreislauf-Wirkungen treten hu für bakterielle und virale Erkrankungen mün morale Veränderungen hinzu: det (aAbb. 1-1). Vermehrung des Blutvolumens, Gesteigerte Vulnerabilität des myokardialen Zunahme der Blutviskosität, Erregungs- und Leitungssystems bis hin zum Hyperglykämie (Glukokortikoid- und Adre Ventrikelflimmern. nalinwirkung), Pulmonale Dysfunktionen sind eine der haupt Milchsäureüberschuss (Hyperlaktatämie), sächlichen postoperativen Komplikationen, Anstieg der freien Fettsäuren im Blut (Norad insbesondere nach thorakalen und intraabdo renalinwirkung), minellen Eingriffen [1, 2]. Hierbei kommt es verminderte Na I-Auscheidung und neben einer unzureichenden Ventilation und vermehrter K+- Verlust (Aldosteronwirkung). einer daraus resultierenden Ventilations-Per Neben diesen hormonellen Veränderungen, die fusions-Störung mit Hypoxie auch zu einem dem akuten Schmerz dicht folgen, sind es beson ungenügenden Abhusten, wodurch Atelektasen ders die in der postoperativen Phase auftretenden auftreten und sich eine Pneumonie aufpfropfen Schmerzen, die schädliche Folgen haben, weil sie kann. Funktionsstörungen von Organen und Organsys Zirkulatorische und metabolische Dysfunk temen bewirken: tionen führen zu einem erhöhten Herzschlag- inadäquate Nozizeption Analgesie / Stressreaktion mit Kortisonanstieg Katecholaminanstieg gesteigertes autonomes Nervensystem ! Immunsuppresion / gehemmte Leukozyten gehemmte T-Lymphozy mitose und Lymphokinin tenmitose und -mobilität produktion gestörte Phagozytose verminderte Interleukinfreiselzung verminderte Zell immunität verminderte Tumorimmunität verminderte Wirtsabwehrlage verminderte Antikörperbildung 1 j ? . -i" ,,~~T;""~~ ~l~ :.1] I • _ -- ------ gesteigerte Tumorwachstum und Empfänglichkeit Metastasierung a Abb. 1-1. Ineinandergreifen von ungenügender für Infektionen Analgesie und die Folgezustände im Immunsystem