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Nürnberger Blätter für Literatur #2 PDF

92 Pages·1976·3.741 MB·German
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Nürnberger Blätter für Literatur 2 Nürnberger Blätter für Literatur Heft 2 Herausgegeben von Gerhard Wagner Verlag Klaus G. Renner Erlangen 1976 Vorbemerkung Nach einem Jahr liegt nun das zweite Heft der Nürnberger Blätter für Literatur vor. Aus der einmaligen Auflage von 500 Exemplaren wurden 25 Exemplare entnommen und mit je einer Originalzeichnung von Annette Engerer versehen. Es handelt sich dabei um Variationen zum Thema »Lesende Person«. Diese fünfundzwanzig Exemplare sind numeriert und von der Künstlerin signiert. Alle Beiträge zu diesem Heft sind Originalbeiträge, wobei im einen oder anderen Falle eine spätere Veröffentlichung nicht ausgeschlossen ist. Leider mußte auch dieses Heft ohne jede Hilfe finanziert werden; des­ halb bitte ich alle Leser, die dem Heft beigefügte Postkarte ausgefüllt an den Verlag zu senden. Hier wohnhafte Autoren möchte ich auf­ fordern, mir Manuskripte zuzuschicken. Nicht verheimlichen möchte ich, daß ein Lyriker aus Berlin mit seinem letzten Gedichtband auf der Bestenliste des Süddeutschen Rundfunks zu finden war. Zwei dieser Gedichte waren als Vorabdruck in den ersten Nürnberger Blättern für Literatur enthalten. Sein Name ist F.C. Delius. Erneut soll mit dieser Publikation ein Überblick über das literarische Schaffen in Franken gegeben werden - wobei nicht Vollständigkeit, sondern schlaglichtartige Beleuchtung einzelner markanter Punkte Richtschnur ist. Dadurch, daß auswärtige, oft bekanntere Autoren mit aufgenommen werden, soll ein Rahmen gesetzt werden, der nicht zuletzt dem Autor selbst als Orientierung dienen kann : und für den Leser ein Hinweis, daß die fränkischen Autoren nicht isoliert vom Literaturgeschehen stehen. Gerhard Wagner Im Frühjahr 1976 5 Aufgerissene Gräber Günter Herburger Genießend die Vergangenheit, als die Sänger und Schauspielerinnen noch jung waren, die jetzt vor uns in einer riesig beleuchteten Muschel der Olympiahalle ihre Gebisse sausen lassen, ihr Fett zum Tanzen bringen und ihre Pisse tropfenweise von den Lippen lecken, so sehr fühlen sie sich überwältigt von sich, da sollen wir glauben, daß die Toten, die Millionen Gasleichen vergessen sind; daß die alten Schlager und Lieder aus der Reichsgetreidezeit Charm und Berechtigung hatten; daß damals noch nicht in den Arsch gevögelt, sondern nur geliebt wurde; daß die Alkoholiker noch im Frack auf traten und unsere sorgenvollen Mütter, die einsam blieben und nun bitterlich gerührt zuhören, noch Steno lernten und vor der Kasse knixten; daß es Ausflüge ins Grüne gab ohne Folgen; daß die Fische im Wasser noch atmen konnten, der helle Fleck am Hintern der Rehe noch weiß war und in den Spinnereien die Mädchen noch sangen, weil sie arbeiten durften wie jetzt. Auf den Zacken des zertrümmerten Glockenturms der Gedächtniskirche von Berlin begatten sich Quandt, Flick, Mannesmann und Bosch, und darunter, auf einem Sägebock im Licht der Scheinwerfer, die wir aufgestellt haben, schieben sich Siemens und Mercedes gegenseitig einen dicken, nassen Priem ins Maul. Daneben steht ein gelb behaarter Sänger namens Rudolf Schock und singt. Anders geht es nicht. Wo legen die Leichenschiffe noch an ? Wie groß kann unser Appetit auch sein ? Über die Autobahnen, die nicht Hitler baute, sondern wir errichtet haben, kriecht die Krebsschlange, die es damals noch nicht so feist gab, aber heute trällern und sammeln die traurigen Gestalten aus der großen Vergangenheit dafür und verrecken nicht aus Scham auf dem Fleck. 6 Marika Rökk, die hunterjährige Soubrette, steppt in Himmlers unerkannter Uniform. Das Liedgut Peter Alexander aus Österreich kommt wieder im Liebesstrudel des Holländers Johannes Heesters als steinerner Gast mit einer kindisch weißen Tolle über der Stirn, die man haßt, Siemens und Thyssen schenken Abs, dem Bankier, eine Orgel, er spielt darauf, bis Bauch und Seele sich endlich öffnen und heiß ersehnte Tropfen auf den Boden fallen, wo Geld an Wert verliert, nur noch der alte, treue Hund, schon blind vor Andacht, seine Schnauze hebt und jault. War es so ? Soll es so bleiben ? Können wir endlich Jaspers deutsche Lüge aus unserer lästerlichen Geschichte vertreiben ? Nie mehr wollen wir mit Quax dem Bruchpiloten, der einst Heinz Rühmann hieß, durch die Lüfte segeln. Nie mehr täglich hundert Zigaretten wie der letzte Krupp, der Angst vor Frauen hatte, doch Milliarden besaß, leise zu Ende stoßen. Wir sind nicht so reich. Nie mehr wollen wir Zeuge sein, daß die Regensburger Domspatzen Feen und Fexe wie Anneliese Rothenberger, Vico Torriani, die Kleinmutter Meysel und den blechernen Affen Frankenfeld auf den Schultern tragen und statt ihrer singen, weil deren Schleim zu Schorf geworden ist. Nie mehr soll ein fetter Industrieller wie Gunter Sachs, diese internationale Leiemabe, in Frauenkleidem auftreten dürfen. Und nie mehr sollen Farben Höchst und Springer im selben Kübel rühren. Die Suppe, die sie kochen, müssen sie selber fressen, bis sie zugrunde gehen. Höre ich Glöckchen, Gelächter, Radau ? Zieht meine Tochter ihre Söckchen aus und zeigt die verkrüppelten Füße ? Der Maler Salvador Dali, der den Faschistendiktator Franco ein wunderbares Wesen nannte, gehört uns. Die merkwürdig grauen Sportsmänner, jeden Morgen in Flugzeugen unterwegs von Stadt zu Stadt und Gesundheitswerte beredend, gehören uns. Die zu kurz gewachsenen Flakhelfer, die inzwischen an die Macht kamen und ihre dritten Zähne zeigen, als könnten sie Starkstromleitungen wie Saiten von Zithern schlagen, gehören auch uns. Die Pianisten, Feuilletonisten und Chronisten aus den verwaisten Niettaschen von Blohm und Voss, wo früher Schiffe gebaut wurden, jetzt aber nur noch 7 Drucke alter Meister gesammelt werden, gehören auch uns. Und die krummen Wichser in den Pissoirs, die von Stalingrad zurückkamen und die letzte Hälfte der Zigarren, die wir ihnen schenkten, unterm Hutband tragen, sie gehören ebenso dazu. In der rosafarbenen Muschel der Olympiahalle verebben die Stimmen unserer Vorfahren, die einmal jung waren und nicht alt werden wollten. AEG pumpt Messerschmitt auf, Hand in Hand; Politiker, früh erschöpfte, die einst tollkühn in fremden Städten Widerstand schufen, entschuldigen sich, als hätten sie Schande begangen, statt den Flieder um die Kameras zu hauen und in Baracken neue Kraft zu holen, wo mit Handwerkszeug und einer Flut von Literatur und Gegenwart wir warten, um die Fehler der Geschichte aufzuklären und die abgetretenen Schuhe neu zu sohlen. 8 Eine Geschichte Peter Rosei (Eine Geschichte erzählen: Dem Schweigen nah kommen ! Das Schweigen umschließt die Kenntnis. Was gesagt werden kann, ist innerhalb der Kenntnis. Was über die Kenntnis hinaus will, sind Worte, ist Geschwätz.) Er ging also den Hang hinauf und auf das Haus zu. Es war erst sechs Uhr, doch herrschte schon völlige Dunkelheit. Im Vorfrühling wird es um diese Zeit dunkel. Obwohl er also nichts sehen konnte als Schwarz und in dem großen, dumpfen Schwarz die zwei erleuchteten Fenster des Hauses, auf das er zustrebte, wußte er doch, daß der Hang, den er hin­ aufstieg, von gelbbraunem, niedergepreßtem Gras bedeckt war. Die Schneelasten waren erst vor einigen Tagen verschwunden. Es gluckste. Er spürte, wie der feuchte Lehm seine Schuhe haftend um­ schloß. Oben an der Haustür würde er die Lehmklumpen an der Schwelle von den Füßen scheren. Dort blieben sie liegen, trockneten aus und knirschten, wenn man auf sie trat. Der Hang stieg nicht stetig an. Erst hatte man eine Steilstufe zu über­ winden, dort war der Weg von eisigen Gerinnen überzogen, dann folgte ein flaches Stück, eine von jetzt entlaubten Birnbäumen bestandene Mulde, an deren tiefster Stelle sich zur Zeit der Schneeschmelze ein trüber, lehmiger Tümpel bildete, zuletzt war der Hang so steil geneigt, daß ihn der Weg nicht in der Fallinie, sondern nur in zwei langgezo­ genen Kehren überwinden konnte. Dabei war er bloß für Fußgänger gedacht, ein schmaler Steig, bei dessen Anlage auf nichts anderes Rücksicht genommen worden war, als auf die Leistungsfähigkeit menschlicher Beine, Lungen, Herzen. (Was eine Geschichte ausmacht, ist immer nur der Rest, das sind die übrigbleibenden Sätze, die dann so auf dem Papier stehen, daß man glauben könnte, es hätte nie andere gegeben und diese da wären schon alle.) Er ging also den Hang hinauf und auf das Haus zu. In der Früh war er den Weg in umgekehrter Richtung gegangen. Er ging diesen Weg jeden Tag zwei Mal. Er arbeitete im Holz, in der Rutterschen Forstver­ waltung. Auch Tschemer, mit dem zusammen er die Baracke, das Holzhaus, bewohnte, auf das er nun zustrebte, arbeitete dort. Offen­ sichtlich war dieser heute früher aus dem Schlag heimgekehrt, daher das Licht. Vielleicht hatte er schon Wasser aufgesetzt für den Tee, für das Heißmachen des Rums. Es war kalt geworden. Der Himmel schwarz und hoch, ohne Wolken. 9 Er erinnerte sich einer schwarzen, triefend nassen, vom Wind geblähten Fahne. Diese Fahne war aus Anlaß des Todes des alten Rutter aus der Dachluke der Forstkanzlei gehängt worden. Das war schon Jahre her. Das ist mindestens fünf oder sechs Jahre her, dachte er. Der alte Rutter war damals bei einer Inspektion am Hochschlag oben von einem stürzenden Baum erschlagen worden. Die Umstände, die zu dem Un­ glück geführt hatten, waren nie ganz aufgeklärt worden. Es fanden erst polizeiliche, dann gerichtliche Nachforschungen statt, ein Arbeiter, ein gewisser Irsigler, wurde verhaftet, dann angeklagt, dann verurteilt, zu einer langen Haftstrafe verurteilt und eingekerkert. Irsigler war nicht geständig gewesen, mancher Nebenumstand ließ seine Schuld unwahr­ scheinlich erscheinen, die Wahrheit ist also nicht ans Licht gekommen. Jetzt ist der Hochschlag ein kahler, steiniger, von verrotteten Baum­ stümpfen und Brombeerstauden durchsetzter Steilhang. (Vorgebliche Bestimmtheiten, die ein einziger Satz als Setzungen ent­ larvt: Er blickte zur Baracke hinüber, sah die Lichter hinter den Fenstern verlöschen, dachte, Tschemer ist in das Dorf, in das Wirtshaus hinunter gegangen, was tue ich allein in der Baracke, und kehrte nach einer kurzen Verschnaufpause in der Dunkelheit um. Die Geschichte gibt sich als eine Kette von Fakten. Sein Gesicht war klein und weiß in der Nacht und er weinte, als er sah, daß oben in der Baracke das Licht verlosch. Er kniete nieder, grub seine Finger in Erde und Gras und achtete des Schmutzes nicht und der Kälte nicht und der Zeit nicht. Die Windrose der Möglichkeiten, scheinbar unbegrenzter, tatsächlich begrenzter.) Er ging also den Hang hinauf und auf das Haus zu. Obwohl die Luft kalt war, erfüllte sie ein Geruch nach modrigen Blättern und faulen Grasstengeln. Im Sommer stand das wilde Gras kniehoch. Wegen der Steilheit des Hanges wurde es nicht abgemäht. Maschinen konnte man nicht verwenden, die menschliche Arbeitskraft war aber zu kostspielig, um sie an einer solch unproduktiven Stelle zum Einsatz zu bringen. Immer mehr Landarbeiter wanderten in die Stadt ab. Viele aus der Gegend waren diesen Weg gegangen. Beinahe hätte er, Marko, es auch getan. Warum auch nicht ? - Nichts band ihn an diesen Ort. Die Holz­ arbeit war schwer und gefährlich, der Lohn nicht angemessen. Er war trotzdem geblieben. Vielleicht war • es Angst vor dem Ungewissen gewesen, die ihn davon abgehalten hatte. Er hatte von Leuten gehört, die in der Stadt keine oder doch nur eine unbefriedigende, eine leichte, stumpfsinnige, ja zermürbende Arbeit gefunden hatten. - So war er ge­ blieben, arbeitete in der Rutterschen Forstverwaltung und bewohnte mit Tschemer die Holzbaracke am Hang, die, Überbleibsel einer früher weit größeren Arbeitersiedlung, etwas außerhalb des Dorfes gelegen war. Sie war das Ziel seines Weges. 10

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