D. Karch R. Michaelis B. Rennen-Allhoff H.G. Schlack Nortnale und gestorte Entwicklung Kritische Aspekte zu Diagnostik und Therapie Mit einem Beitrag von H. Nickel Unter Mitarbeit von R. Feike G. Haas 1. Krageloh-Mann G. Niemann M. Schellenschmitt Mit 31 Abbildungen und 11 Tabellen Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo Hong Kong Professor Dr. DIETER KARCH Klinik fiir Kinderneurologie und Sozialpadiatrie Kinderzentrum Maulbronn gem. GmbH Knittlinger Steige 21,0-7133 Maulbronn Professor Dr. med. RICHARD MICHAELIS U niversitats-Kinderklinik Tubingen Abteilung fur Entwicklungsneurologie FrondsbergstraBe 23,0-7400 Tubingen Dr. phil. Dipl.-Psych. BEATE RENNEN-ALLHOFF Abteilung Kinder-und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Landesklinik/Universitatsklinik Dusseldorf Bergische LandstraBe 2, 0-4000 Dusseldorf 12 Professor Dr. med. HANS-GEORG SCHLACK Kinderneurologisches Zentrum Bonn Gustav-Heinemann-Haus Waldenburger Ring 46, 0-5300 Bonn 1 ISBN-13:978-3-540-51337-7 e-ISBN -13:978-3-642-83841-5 DOl: 10.1007/978-3-642-83841-5 Normale und gestorte Entwicklung: kritische Aspekte zu Diagnostik und Therapie / D. Karch ... Mit e. Beitr. von H. Nickel. Unter Mitarb. von R. Feike ... -Berlin; Heidelberg; New York; London; Paris; Tokyo; Hong Kong: Springer, 1989 rSBN-13:978-3-540-51337-7 NE: Karch, Dieter [Mitverf.] Dieses Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oderder Vervielfiiltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfiiltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Yom 9. September 1965 in der Fassung Yom 24. Juni 1985 zulassig. Sie ist grundsatzlich vergiitungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1989 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB so1che Namen im Sinne der Warenzeichen und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden diirften. Produkthaftung: Fiir Angaben iiber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann Yom Verlag keine Gewahr iibernommen werden. Derartige Angaben mussen yom jeweiligen Anwender im Einzelfall an hand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit iiberpriift werden. 2125/3145-543210 -Gedruckt auf siiurefreiem Papier Vorwort Die Erkennung und Behandlung von Entwicklungsstorungen beschliftigt seit Jahr zehnten Padagogen, Therapeuten, Psychologen und Arzte ebenso wie die Eltem betroffener Kinder. Dennoch bestehen immer noch erhebliche Unsicherheiten tiber die normale Entwicklung, die Untersuchungsmethoden, die Abgrenzung von nor maler und abnormer Entwicklung, die Indikation zur Behandlung und die erreich baren Erfolge. Dies gilt fUr infantile Zerebralparesen ebenso wie fUr Teilleistungs st6rungen. Die unterschiedlichen Konzepte tiber die neurologischen und psychi schen Grundlagen der normalen Entwicklung fiihren zu unterschiedlichen Behand lungsansatzen und beeinflussen auch die Behandlungsziele. Die Autoren dieses Buches versuchen tiber ihre eigenen Erfahrungen und die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zu berichten und sie kritisch zu werten. Sie konzentrieren sich dabei vor allem auf die motorische, perzeptive und kognitive Entwicklung der Kinder bis zur Einschulung. Die Beitrage beruhen auf Referaten bei Fortbildungsveranstaltungen der Klinik fUr Kindemeurologie und Sozialpadia trie in Maulbronn, die fUr Ante, Lehrer, Therapeuten und Psychologen gehalten wurden. Zum Teil fuBen sie auch auf Vortragen bei Fortbildungsveranstaltungen des Berufsverbandes der Kinderarzte. AIle Autoren sind sich einig, daB es an der Zeit ist, sich kritisch mit den dia gnostischen und therapeutischen Moglichkeiten und ihren theoretischen Voraus setzungen auseinanderzusetzen, urn evtl. auch neue Wege zu Mfnen, die reali stische Ziele verfolgen, das Kind mit seiner Personlichkeit in den Mittelpunkt rticken, die psychosozialen Gegebenheiten insbesondere auch die familiare Situati on berucksichtigen und dadurch ein individuelles Vorgehen ermoglichen. Maulbronn, im April 1989 D. Karch Inhaltsverzeichnis Beurteilung der motorischen Entwicklung im friihen Kindesalter R. Michaelis, I. Krageloh-Mann, G. Haas .................... 1 Kontrolle der motorischen Funktionen D.Karch ..................................... 17 Methodik der Entwicklungsdiagnostik B. Rennen-Allhoff .......... . . ................. 29 Psychosoziale Einfliisse auf die Entwicklung H. G. Schlack ............... . . .......... 41 Das Problem der Schulreife - Eine systemische Analyse und ihre praktischen Konsequenzen H. Nickel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Kognitive FriihfOrderung B. Rennen-Allhoff .. . ............................ 69 TeilleistungsstOrungen D. Karch ....... . .......................... 79 Psychomotorische Therapie D. Karch, M. Schellenschmitt, R. Feike ............. 91 Theorie und Praxis krankengymnastischer Methoden auf neurophysiologischer Grundlage R. Michaelis, G. Niemann, I. Krageloh-Mann .... . ........ 105 Ergebnisse der Friihbehandlung infantiler Zerebralparesen D. Karch .......................... . . .. 117 Wie spezifisch wirken "Therapie" und "Milieu" auf die Entwicklung behinderter Kinder? - Konsequenzen fUr die Praxis H. G. Schlack 127 Sachverzeichnis 135 Mitarbeiterverzeichnis Ria Feike Klinik fiir Kinderneurologie und Sozialplidiatrie Kinderzentrum Maulbronn gem. GmbH Knittlinger Steige 21 7133 Maulbronn Priv. Doz. Dr. med. Gerhard Haas U niversitlits-Kinderklinik Abt. Entwicklungsneurologie FrondsbergstraBe 23 7400 Tiibingen Prof. Dr. med. Dieter Karch Klinik fiir Kinderneurologie und Sozialplidiatrie Kinderzentrum Maulbronn gem. GmbH Knittlinger Steige 21 7133 Maulbronn Dr. med. Ingeborg Krageloh-Mann Universitlits-Kinderklinik Abt. Entwicklungsneurologie FrondsbergstraBe 23 7400 Tiibingen Prof. Dr. med. Richard Michaelis Universitlits-Kinderklinik Abt. Entwicklungsneurologie FrondsbergstraBe 23 7400 Tiibingen Prof. Dr. phil. Horst Nickel Institut fUr Entwicklungs- und Sozialpsychologie Abt. Entwicklungs- u. Erziehungspsychologie UniversitatsstraBe 1 4000 Dusseldorf 1 Dr. med. Gerhard Niemann U niversitats-Kinderklinik Abt. Entwicklungsneurologie FrondsbergstraBe 23 7400 Tubingen Dr. phil. Beate Rennen-Allhoff Abt. Kinder- u. Jugendpsychiatrie der Rheinischen Landesklinik Dusseldorf Bergische Landstr. 2 4000 Dusseldorf 12 Michael Schellenschmitt Klinik flir Kinderneurologie und Sozialpadiatrie Kinderzentrum Maulbronn gem. GmbH Knittlinger Steige 21 7133 Maulbronn Prof. Dr. med. Hans-Georg Schlack Kinderneurologisches Zentrum Bonn Gustav-Heinemann-Haus Waldenburger Ring 46 5300 Bonn 1 x Beurteilung der motorischen Entwicklung im fruhen Kindesalter Richard Michaelis, Ingeborg Krageloh-Mann, Gerhard Haas 1 Einleitung Die Darstellung der motorischen Entwicklung des Kindes solI zunachst an zwei Entwicklungstheorien beschrieben und auf deren Konsequenzen fiir die Beurtei lung der Motorik des Kindes eingegangen werden. Aus der Theoriediskussion ergeben sich dann Moglichkeiten, wie die motorische Entwicklung des Kindes im V orschulalter unter den eingeschrankten Bedingungen der arztlichen Routine rasch und relevant nach dem Prinzip der Meilensteine der Entwicklung beurteilt werden kann. Trotz umfangreicher Literatur tiber die motorische Entwicklung hat sich bisher kein Entwicklungskonzept fiir die Beurteilung der Motorik herauskrlstalli siert, das wegen seiner Praktikabilitat groBere Verbreitung in der kinderarztlichen Praxis gefunden batte. Den verschiedenen Aussagen zur motorischen Entwicklung des Kindes liegen unterschiedliche theoretische Vorstellungen zugrunde, die dariiber hinaus auch noch berufsspezifisch sind. Eine Darstellung der Entwicklung der Motorik, die aus einer krankengymnastischen Sicht stammt - und schon hier existieren sehr unterschiedliche Meinungen -, wird durchaus anders sein als wenn von einer kinderneurologischen oder anthropologischen Position ausgegangen wird. 2 Entwicklungstheorien Der Beurteilung der kindlichen Entwicklung im kinderarztlichen Alltag, aber auch der Konstruktion von Entwicklungstests, liegen Vorstellungen tiber das Wesen der menschlichen Entwicklung zugrunde, die tradiert und tibernommen wurden, ohne daB eine genaue Reflexion dariiber erfolgte, auf welcher theoretischen Grundlage Verstehen, Beurteilen und Handeln im Bereich der Entwicklungsdiagnostik tiber haupt moglich ist. Solche Vorstellungen tiber die Art der menschlichen Entwick lung werden durch Studium, Fort- und Weiterbildung gepragt, ohne daB die theo retischen Grundlagen solcher Entwicklungsprozesse dargestellt werden. 2.1 Das deterministisch-reflexologische Entwicklungskonzept Dieses Entwicklungskonzept geht davon aus, daB Entwicklungsprozesse in linea rer Progression ablaufen nach dem Schema: Von der primitiven Reaktion oder Reflex zu immer komplexeren Funktionseinheiten und Handlungsablaufen oder zu immer komplizierteren Reflexstrukturen. Die Konstruktion der Mtinchner Funktionellen Entwicklungsdiagnostik basiert z.B. auf einem solchen Verstandnis der menschlichen Entwicklung. Dieser Ent wicklungstest geht davon aus, daB einem bestimmten "Alter" auch definierte Ent wicklungsschritte zugeordnet werden konnen. So legt der Begriff "Krabbelalter" nahe, es gabe eine durchgehende und jederzeit festlegbare Entwickungslinie von der Geburt bis zum Erlernen des Krabbelns oder flir das "Sitzalter", bis zum Erwerb des freien Sitzens, oder flir das "Laufalter" bis zur Fahigkeit des freien Gehens. Die Abb. 1 zeigt die Darstellung eines linearen Verlaufes der motori schen Entwicklung yom Liegen bis zum freien Gehen. Ein solches Entwicklungs verstandnis liegt nahezu allen heute gultigen und akzeptierten Darstellungen und Publikationen uber die motorische Entwicklung zugrunde. Ein deterministisch-reflexologisches Entwicklungskonzept basiert aber auf Konsequenzen die nur selten - wenn uberhaupt - bedacht werden: • Die motorische Entwicklung lauft in strenger zeitlicher und funktioneller Ord nung ab, der jedoch eine ebensolche Ordnung in der Reifung der entspre chenden zentralen morphologischen und neuronalen Strukturen entsprechen muB, urn den korrekten Entwicklungsablauf sicherzustellen. • Kein Entwicklungsschritt kann eintreten, bevor nicht zeitlich vorgeschaltete Entwicklungsschritte absolviert sind. • Zeitlich und funktionell starr organisierte Entwicklungsablaufe erfordern eine genetisch festgelegte Programmierung des Entwicklungsablaufes. • Die motorische Entwicklung beginnt mit einfachen Reflexschemata, denen ent sprechend einfache neuromorphologische und neuronale Organisationsstruktu ren zugrundeliegen, die durch zunehmend komplexere Reflexorganisationen abgelost und ersetzt werden (Vojta 1988; Wyke 1975). • Die motorische Entwicklung und der Erwerb der Haltungs- und Bewegungs kontrolle ist damit als ein deterministischer ProzeB zu verstehen. • Bei einer genetisch festgelegten Programmierung des motorischen Entwick lungsverlaufes des Menschen mussen sich alle Kinder dieser Welt in gleicher Weise und in gleichen zeitlichen und funktionellen Sequenzen entwickeln (On togenese der motorischen Entwicklung). • Variationen des zeitlichen und funktionellen Ablaufes der Entwicklung sind nicht moglich, sie sind als pathologisch aufzufassen. Deterministisch-reflexologische Entwicklungskonzepte liegen auch heute noch in der Regel dem Verstiindnis von Entwicklungsprozessen zugrunde. Sie lassen sich auf zwei Wurzeln zuriickfuhren. Die erste Wurzel: Entwicklungsprozesse sind determiniert, sie werden genetisch gesteuert, Variationen im Ablauf mussen als pathologisch angesehen werden (Gesell u. fig 1946; McGraw 1935). Die zweite Wurzel laBt sich auf reflexorientierte und reflexgesteuerte Entwicklungsmodelle der 20er Jahre zuriickverfolgen, die heute noch von Capute (1978), Vojta (1988), Wyke (1975) vertreten werden. 2.2 Adaptives, epigenetisches Konzept der motorischen Entwicklung Eine Reihe von Beobachtungen zur motorischen Entwicklung lassen sich jedoch mit einem deterministisch-reflexologischen Entwicklungsmodell nicht erklaren. So geschieht es immer wieder, daB Mutter ihre Kinder in der Praxis vorstellen, wei! diese sich mit ihrer Entwicklung nicht an die erwarteten und in entsprechenden 2 BAUCHLAGB ROCKBNLAGB SBITROLLEN SITZEN 1 4-FOSSLER STAND KRABBELN HOCHZIEHEN ZUM STEHEN 1 STEHEN MIT FESTHALTEN GEHEN MIT FESTHALTEN 1 FREIES GEHEN Abb. 1. Lineares Entwicklungsmodell der motorischen Entwicklung. Die einzelnen Entwicklungsschrit te erfolgen nach einem solchen Modell in strenger zeitlicher Ordnung, die eine zeitliche oder funktioneI Ie Variabilitlit der einzelnen Entwicklungsschritte nicht erlaubt Ratgebem beschriebenen Entwicklungslinien halten. Die Mtitter auBem daher die Meinung, das Kind zeige eine nicht normal verlaufende motorische Entwicklung. Sie geben an, das Kind stehe bereits mit Festhalten, sitze jedoch noch nicht; das Kind zeige parallel verlaufende Entwicklungsschritte, die eigentlich hintereinan der auftreten sollten; das Kind lcrabble bereits, sitze aber noch nicht; das Kind habe stehen gelemt, habe aber noch nie gelcrabbelt; das Kind habe bereits moto rische Fahigkeiten gezeigt, die plOtzlich und auch tiber langere Zeit nicht mehr zu sehen gewesen seien. Weiter wird berichtet, daB Kinder, die die Bauchlage be vorzugen, haufig einen anderen Entwicklungsverlauf zeigen als Kinder, die be vorzugt auf dem Rticken liegen. Untersuchungen bei Kindem anderer Kulturen haben ergeben, daB die moto rische Entwicklung anderen Sequenzen folgt, als sie flir die westlichen Zivilisa tionen verbindlich zu sein scheinen. So existieren Kulturen, die stark inhibierend 3