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Nietzsche und die Lebenskunst: Ein philosophisch-psychologisches Kompendium PDF

402 Pages·2016·5.917 MB·German
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Günter Gödde / Nikolaos Loukidelis / Jörg Zirfas (Hg.) Nietzsche und die Lebenskunst Ein philosophisch-psychologisches Kompendium Günter Gödde / Nikolaos Loukidelis / Jörg Zirfas (Hg.) Nietzsche und die Lebenskunst Ein philosophisch-psychologisches Kompendium J. B. Metzler Verlag Die Herausgeber Günter Gödde, Dr. phil., Dipl.-Psych. ist psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis sowie Ausbildungsleiter in der Therapeutenausbildung an der Berliner Akademie für Psychotherapie und an der Psychologischen Hochschule Berlin. Nikolaos Loukidelis, Dr. phil., promovierte am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Jörg Zirfas, Dr. phil. ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Pädagogische Anthropologie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät an der Universität zu Köln, u. a. Vorsitzender der Gesellschaft für Historische Anthropologie an der FU Berlin. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02571-5 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und alterungsbeständigem Papier und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart (Foto: picture alliance / ZUMAPRESS) www.metzlerverlag.de Satz: Claudia Wild, Konstanz, in Kooperation [email protected] mit primustype Hurler GmbH, Notzingen Inhalt Vorwort VII III Thematisierung der Lebenskunst in den frühen Schriften Einleitung: Friedrich Nietzsche und die Vitalisierung Einführung zu den Beiträgen 106 der Lebenskunst Günter Gödde / Jörg Zirfas 1 Theorie und Lebensform der antiken Philosophen im Spiegel Nietzsches Jörn Müller 107 Was uns Nietzsches Ästhetik für die Frage der I Annäherungen an die Biografie Lebenskunst lehrt Paul van Tongeren 118 Lebenskunst als Mythos. Vom Nutzen des Einführung zu den Beiträgen 28 Geschichtenerzählens beim frühen Nietzsche Die Liebe zum Leben. Zur Biografie von Friedrich Thorsten Lerchner 125 Nietzsche Jörg Zirfas 29 Nietzsches »Prügelknabe«: David Friedrich Strauß Friedrich Nietzsche: Leben als Experiment Ferdinand Fellmann 133 Kristina Jaspers 38 Humor, Witz und Ironie als Waffen und Therapie in Nietzsches Werken und Briefen IV Die mittlere Schaffensperiode Vivetta Vivarelli 47 »Auch aus diesem – Kothe Gold zu machen«: Einführung zu den Beiträgen 142 Ein Blick in Nietzsches Alchemistenwerkstatt Der Wert der Muße und ihre Beziehung zur Pia Daniela Volz (Schmücker) 55 Lebenskunst Günter Gödde 143 Nietzsche und die Tradition der Moralistik Robert Zimmer 156 II Nietzsches Verhältnis zur philosophischen Von der Kulturpolitik zur Lebenskunst. D ie gute Tradition der Lebenskunst Nachbarschaft mit den »nächsten Dingen« im »Wanderer und sein Schatten« Einführung zu den Beiträgen 66 Tobias Brücker 164 Lebenskunst als Transformation der Affekte. Schweigen unter schwarzen Zypressen und »Morgen- Nietzsches individualethischer Rekurs auf Spinoza röten«. Friedrich Nietzsche über Lebenskunst- und Goethe strategien Renate Reschke 171 Hans von Seggern / André Martins 67 Vom Wert des Glücksstrebens im Urteil Kants und Nietzsches Beatrix Himmelmann 74 V Das Spätwerk Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauers Pessimismus Martin Morgenstern 84 Einführung zu den Beiträgen 180 Mit dem Leiden leben. Kierkegaard, Nietzsche und »Wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch Jaspers als Leidenskünstler Eike Brock 95 wiederkehren«. Die Lebenskunst des ›Lehrers‹ Zarathustra Gaia Domenici 181 Lachendes Rätsel. Nietzsche und das Paradox der VIII Philosophisch-psychologische Perspektiven ewigen Wiederkunft Johannes Oberthür 188 Dem Leben einen Sinn geben. Nietzsches Lebens- Einführung zu den Beiträgen 290 kunst am exemplarischen Fall von »Ecce Homo« Aspekte einer Philosophie der Lebensführung bei Nicola Nicodemo 199 Nietzsche Nikolaos Loukidelis 291 »Tot vor Unsterblichkeit«. Lebenskunst und Heroische Lebenskunst. Nietzsches Rangordnung Säkularisierung in Nietzsches »Ecce Homo« der Lebensformen Manuel Knoll 299 und Heideggers »Sein und Zeit« Stilvolles Durchwursteln. Nietzsche und die Lebens- Michael Steinmann 208 kunst im Zeitalter der Beschleunigung Helmut Heit 307 »... ich habe Einsamkeit nöthig ...«. Kunst der VI Nietzschelektüren von Camus bis Sloterdijk Kommunikation als Lebenskunst des Einsamen Werner Stegmaier 315 Einführung zu den Beiträgen 220 Nietzsche und die Kunst der Gesundheit Nietzsche und der Französische Existenzialismus Mirella Carbone / Joachim Jung 323 Diana Lohwasser 221 Optionen. Wissens-, Macht- und Selbstverhältnisse bei Michel Foucault und Wilhelm Schmid IX Therapeutik und Lebenskunst Jörg Zirfas 228 »Wir, die Guten, die Glücklichen...«. Eine radikal Einführung zu den Beiträgen 334 phänomenologische Nietzschelektüre im Anschluss Nietzsches und Freuds Psychologien im Vergleich an Michel Henry Rolf Kühn 237 Günter Gödde 335 Lebenskunst als biotechnologische Autooperation. Lebenskunst und schöpferische Kraft bei Alfred Peter Sloterdijks Nietzsche-Lektüre Adler und Nietzsche Almuth Bruder-Bezzel 346 Kevin Liggieri 245 »Werde der, der du bist!« Nietzsches Spuren in C. G. Jungs Verständnis von Selbst und Individuation Roman Lesmeister 355 VII Ästhetik und Lebenskunst Philosophie als Arzneimittel im Dienste des wachsenden und kämpfenden Lebens Einführung zu den Beiträgen 254 Martin Poltrum 363 Nietzsches »höhere Kunst, die Kunst der Feste« Nietzsche und die Philosophische Praxis Marco Brusotti 255 Manos Perrakis 371 Tragik des Lebens und Lebenskunst. Nietzsches Gedanke vom Ursprung der Kultur in der Bewältigung des Todes Birgit Recki 264 X Anhang »Wir Metaphysiker«. Nietzsche, Wittgenstein und de Chirico im Trialog Hans-Peter Klie 273 Siglenverzeichnis 380 Philosophie, Kunst und Leben. Zu einer A usstellung Autorinnen und Autoren 381 von Hans-Peter Klie in Naumburg (2014) Personenregister 388 Barbara Straka 283 Sachregister 390 Vorwort »Das Product des Philosophen ist sein Leben losophie der Lebenskunst gehört seit Ende des 20. Jahr- (zuerst vor seinen Werken). Das ist sein hunderts zu den Denkrichtungen, die nicht nur in Kunstwerk. Jedes Kunstwerk ist einmal dem Lehre und Forschung vertreten, sondern auch von ei- Künstler, sodann den andern Menschen zu- nem breiteren Publikum wahrgenommen werden. Ih- gekehrt« (N 1873, KSA 7, 712). re besondere Stärke besteht in der Kombination von theoretischen und praktischen Momenten. Stellt sie »Ich habe meine Schriften jederzeit mit mei- die uralte Frage: ›Wie soll ich leben?‹ ins Zentrum ih- nem ganzen Leib und Leben geschrieben: ich rer Überlegungen, so begnügt sie sich beim Versuch, weiß nicht, was ›rein geistige‹ Probleme eine Antwort darauf zu finden, nicht mit abstrakten sind« (N 1880, KSA 9, 170). Begründungen und Imperativen, sondern widmet sich einer Reihe von praktischen Aspekten, die jeden In der Zeit vom 9. bis 13. September 2013 fand die 21. Menschen angehen, der ein gelungenes Leben an- Nietzsche-Werkstatt Schulpforta unter Leitung von strebt. Dabei greift sie auf eine reichhaltige Tradition Günter Gödde und Nikolaos Loukidelis statt. Sie war zurück, die mit den Namen Sokrates und Platon, Epi- dem Thema »Nietzsche als Philosoph der Lebens- kur und Seneca, Montaigne und den französischen kunst« gewidmet. Die Teilnehmer waren angehende Moralisten, Kant, Schopenhauer, Kierkegaard u. v. a. DoktorandInnen der Philosophie oder promovierte verbunden ist. PhilosophInnen, die sich auf Nietzsche spezialisiert Bei den neueren Vertretern dieser Richtung findet haben. Ausgewählte Vorträge sowie eine Einleitung in sich zumeist eine prominente Bezugnahme auf Fried- die Thematik wurden im Band 21/2014 der Nietzsche- rich Nietzsche, suchte dieser doch mit bemerkenswer- forschung veröffentlicht. Da die Diskussionen in der ter Intensität und Kreativität herauszufinden, wie es Teilnehmergruppe sehr konstruktiv waren und die gelingen kann, sich selbst und die Kultur insgesamt vi- Bedeutsamkeit der Thematik zeigten, kam gegen Ende taler gestalten und insofern bejahen zu können. Die der Nietzsche-Werkstatt die Idee auf, eine eigene Thematisierung der ›Selbstsorge‹ bildet bei Nietzsche Buchpublikation unter Einbeziehung anderer Nietz- einen zentralen Fokus. Als ›philosophischer Arzt‹ ging schekenner ins Auge zu fassen. In der Folgezeit haben er der Frage nach, was für den einzelnen Menschen Günter Gödde und Nikolaos Loukidelis dazu einen und die Kultur im Gesamten förderlich oder schädlich Entwurf ausgearbeitet und sind bei ihren Bemühun- ist. Dabei hatte er ein starkes Eigeninteresse an solchen gen, kompetente Autorinnen und Autoren für dieses therapeutischen Fragen, da er jahrelang unter schwer- Projekt zu gewinnen, auf große Resonanz gestoßen. wiegenden Krankheitssymptomen litt. Das bedeutete Ähnlich ermutigend verlief die Suche nach einem Ver- eine Herausforderung für seinen Stolz. Nietzsche lag. Der erste Lektor, der für dieses Vorhaben an- suchte (sich) zu beweisen, dass man mit Hilfe der Phi- gesprochen wurde, war Oliver Schütze vom Metzler losophie das Leben verändern, den Schmerzen wider- Verlag. Er fand den Entwurf überzeugend, brachte ihn stehen und die Lust am Leben gewinnen kann. Ihm alsbald in die Redaktionskonferenz ein, und schon schwebte das Ziel einer ›höheren Gesundheit‹ vor. Für nach wenigen Wochen erhielten wir eine Zusage, die ein bejahenswertes Leben, so seine Folgerung, muss zum Vertragsabschluss führte. Bei der Umsetzung des der Einzelne sich immer wieder vom Druck mora- Entwurfs konnten wir Jörg Zirfas, mit dem Günter lischer Konventionen befreien und sein Selbst gegen Gödde bereits mehrere Buchprojekte zur Lebenskunst Übergriffe von Personen und Institutionen behaupten. realisiert hat, als dritten Herausgeber dazu gewinnen. Und er muss den unbedingten Willen haben, sein Le- Nun einige Worte zum Thema: Die aktuelle Phi- ben zu seinem eigenen zu machen. Auf diesem Wege VIII Vorwort zu einer ›höheren Gesundheit‹ werden die Künste scher Denker von Camus bis Sloterdijk. In Abschnitt maßgeblich, die mit ihrem Perspektivismus, mit ihrer VII wird eine Brücke zwischen Nietzsches »Ästhetik Experimentierfreudigkeit und ihrer Kreativität neue und Lebenskunst« geschlagen. Philosophisch-psy- Lebensformen erschließen helfen. chologische Themen wie Lebensführung, Rangord- Das vorliegende Kompendium bildet eine erste sys- nung, Entschleunigung, Einsamkeit und Kunst der tematisierende Behandlung von Nietzsches Beiträgen Gesundheit kommen in Abschnitt VIII zur Sprache. zur philosophischen Lebenskunst, die in möglichst Im letzten Abschnitt IX wird Nietzsches Beitrag zur übersichtlicher und anschaulicher Form dargestellt »Therapeutik und Lebenskunst« in seinen Nachwir- werden sollen. Dies entspricht einem Desiderat so- kungen auf Freud, Adler, Jung und die psychodyna- wohl der Nietzsche-Forschung als auch eines an mische und philosophische Therapiepraxis heraus- Nietzsches Denken interessierten Publikums. gearbeitet. Zum Aufbau: Die Beiträge dieses Kompendiums Bei den Autorinnen und Autoren bedanken wir sind in neun Abschnitte mit je vier bis fünf Beiträgen uns für ihren Enthusiasmus, den sie diesem Projekt aufgeteilt. Nach einer Einleitung zu »Friedrich Nietz- entgegengebracht haben, und ihre Kooperations- sche und die Vitalisierung der Lebenskunst« werden bereitschaft, die uns die Realisierung dieses Vor- biografische Annäherungen (I) und das Verhältnis habens wesentlich erleichtert hat. Herzlich danken Nietzsches zu maßgebenden Denkern der philoso- wir auch Oliver Schütze für die Initialzündung zur phischen Tradition wie Spinoza, Kant, Goethe, Scho- Zusammenarbeit mit dem Metzler-Verlag sowie Fran- penhauer und Kierkegaard (II) behandelt. Die Ab- ziska Remeika und Ferdinand Pöhlmann für das sorg- schnitte III–V sind Nietzsches Thematisierung der fältige Lektorat und die Werkbetreuung; in allen gro- Lebenskunst in seiner frühen, mittleren und späten ßen und kleinen Fragen war auf sie immer Verlass. Schaffensperiode gewidmet. In Abschnitt VI geht es Günter Gödde, Nikolaos Loukidelis und Jörg Zirfas um die Nietzschelektüren französischer und deut- Einleitung: Friedrich Nietzsche und die Vitalisierung der Lebenskunst 1 Einleitung: Friedrich Nietzsche und Unvorhersehbaren und Plötzlichen umgehen zu kön- die Vitalisierung der Lebenskunst nen. Und das tut not. Denn hinter der Kunst und hin- ter der Lebenskunst steht bei Nietzsche immer das Le- ben. Dieses Leben soll entwickelt, gefördert und er- Lebenskunst hat Konjunktur. Dafür gibt es eine Rei- weitert werden. Lebenskunst scheint nicht nur für he von Gründen, die insgesamt mit theoretischen wie Nietzsche, sondern für die Moderne insgesamt buch- praktischen Entwicklungen und Problemlagen der stäblich lebensnotwendig zu werden. Moderne zu tun haben. Stichwortartig kann man Betrachtet man den einschlägigen Diskurs der hier etwa nennen: die aktuellen kulturellen Verunsi- letzten Jahrzehnte, der häufig mit den Schriften von cherungen angesichts von Migrationsbewegungen Michel Foucault und Wilhelm Schmid in Verbin- und Globalisierungsentwicklungen, die philosophi- dung gebracht wird, so zeigt sich, dass wir es mit ei- sche Rückbesinnung auf die antiken Ethiken, die nem sehr unterschiedlichen Feld der Lebenskunst zu nachlassende Konjunktur von abstrakten philosophi- tun haben, in dem die Fragen nach einem schönen schen Begründungslogiken, die Entwicklungen im und glücklichen Leben sehr heterogen und sehr häu- religiösen Verhalten weg von den konfessionellen fig im Anschluss an Nietzsche fokussiert wurden. Kirchen und hin zu spirituellen und parapsychologi- Daher erscheint uns Nietzsche als Ausgangspunkt ei- schen Bewegungen. Anders und kurz formuliert: Le- ner modernen Lebenskunst unumgänglich zu sein. benskunst ist immer dann gefragt, wenn man sich Von ihm aus betrachtet erhalten die späteren Wei- nicht mehr auskennt und nicht mehr weiß, wie es chenstellungen der Lebenskunst zur Individualität, weitergehen soll. Die Frage nach der ›Lebenskunst‹ zur Ästhetik, zum Experiment, zur Leiblichkeit oder wird in Zeiten virulent, wenn sich das Leben immer auch zur Gegenwärtigkeit ihre maßgeblichen Poin- weniger von selbst versteht, wenn Traditionen, Kon- tierungen. ventionen und Normen an Überzeugungskraft ver- Wir wollen in dieser Einleitung in einem ersten lieren und die Individuen sich um sich selbst zu sor- Schritt einen keineswegs umfassenden, sondern zu- gen beginnen. Dabei hat die Lebenskunst im Kern nächst einmal sondierenden Vorschlag zur Systema- ein praktisches Ziel, geht es ihr doch letztlich nicht tisierung des Diskurses der philosophischen Lebens- um die große Theorie einer magna moralia, sondern kunst der letzten drei Jahrzehnte machen und die um die kleine Praxis einer ars vivendi, die auch und Entwicklungen sowie die kritischen Auseinanderset- gerade auf den Alltag der Menschen zielt. Und dieser zungen der Debatten um die Lebenskunst anhand Alltag soll letztlich den Kriterien eines geglückten von einzelnen Autoren skizzenhaft resümieren. Diese und schönen Lebens gerecht werden (vgl. Brenner/ Skizzen sollen wiederum dazu dienen, die in diesem Zirfas 2002). Was aber bedeutet in der Moderne ein Kompendium dargestellten philosophischen und glückliches und schönes Leben? psychologischen Aspekte der Lebenskunst von Nietz- Wie in vielen anderen Bereichen des modernen Le- sche besser verstehen und einordnen zu können. Zu- bens – sei es die Moral, die Kunst, die Psychologie gleich werden in dieser Sondierung Bezüge zu Nietz- oder die Religion – findet man eine ganze Reihe ak- sche und seinen Vorstellungen der Lebenskunst her- tueller Fragen der Lebenskunst und Antworten auf die gestellt. Sie verdeutlicht, inwiefern die modernen Suche nach einem schönen und glücklichen Leben Konzeptionen Nietzsche verpflichtet sind und auch, schon bei Friedrich Nietzsche. Mit ihm werden mo- wie sie ihn weiterentwickeln. derne Problemlagen – auch mit Bezug auf die Lebens- Nach diesem Resümee der aktuellen Debatten ge- kunst – auf die Spitze getrieben. Indem er die Moder- hen wir auf die Tradition der Lebenskunstphilosophie ne in einer historisierenden Lesart als letzte Epoche ei- ein. Aufgrund des begrenzten Raums in der Einlei- ner langen Geschichte des Abendlandes versteht, ver- tung und aufgrund der im Kompendium selbst dis- bindet er nicht nur die Anfänge des philosophischen kutierten Vorläufer Nietzsches, konzentrieren wir uns Denkens mit ihren aktuellen Ergebnissen, sondern er dabei auf drei Philosophen, die für Nietzsche enorme bestimmt auch die Kunst dazu, die archaischen ›Quel- Bedeutung hatten, nämlich Sokrates, Epikur und len des Lebens‹ wieder zugänglich zu machen. Die Montaigne. Daran anschließend suchen wir, um einen moderne Situation der Verunsicherung und des Nihi- einführenden Überblick über Nietzsche selbst zu bie- lismus fordert den Weg der Kunst und der Ästhetik, ten, zentrale Motive seiner Lebenskunstphilosophie die allein in der Lage erscheinen, mit den Erosionen unter dem übergreifenden Aspekt der ›Vitalisierung‹ des Normativen und Normalen und den Welten des darzustellen. G. Gödde et al. (Hrsg.), Nietzsche und die Lebenskunst, DOI 10.1007/978-3-476-05397-8_1, © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart 2 Einleitung: Friedrich Nietzsche und die Vitalisierung der Lebenskunst Zeitgenössische Theorien und Modelle (Hadot 1991, 15–47). Die Lebenskunstphilosophie philosophischer Lebenskunst trägt dazu bei, nicht nur moralisch und glücklich, son- dern präsent und ganzheitlich zu werden, will doch je- Im Einzelnen stellen wir in diesem Abschnitt folgende der Augenblick gelebt und soll doch das ganze Leben Theorien und Modelle der Lebenskunst in knapper, verändert werden. konziser Form mit Blick auf Nietzsche vor: Histori- Aus diesen Rekonstruktionen wird deutlich, dass sche Lebenskunst (Hadot/Horn); Ästhetische Lebens- das regulative Ziel der antiken Lebenskünste die Weis- kunst (Foucault); Phänomenologische Lebenskunst heit ist, als eine Lebensweise, »die Seelenruhe (atara- (Schmid); Anthropotechnische Lebenskunst (Sloter- xia), innere Freiheit (autarkeia) und kosmisches Be- dijk); Geteilte Lebenskunst (Marten); Therapeutische wußtsein mit sich brachte« (ebd., 165). Philosophie ist Lebenskunst (Gödde/Zirfas) sowie Kritische Lebens- Therapie der Angst, in der Welt zu sein, ebenso wie kunst (Kersting/Langbehn). Einübung in die innere und äußere Freiheit; sie ist die Kunst, glücklich und zufrieden zu werden, ebenso wie die Technik, sich als Teil des großen kosmischen Gan- Historische Lebenskunst zen zu begreifen. Dabei wirkt die Weisheit (sophia) als Mit dem Titel »Historische Lebenskunst« (vgl. Hadot ein regulatives Ziel: ›Der‹ Antike war bewusst, dass 1991, 1999; Horn 1998) ist der Versuch gemeint, im man nicht dauerhaft und umfänglich weise sein konn- Rückgriff vor allem auf antike Philosophen bzw. anti- te, doch man war sich sicher, dass es Augenblicke und ke philosophische Schulen an Theoreme der Lebens- Phasen im Leben gibt, die diesem Anspruch gerecht kunst zu erinnern, die selbstredend nicht pauschal werden können. Diese dienten als Orientierung und und unmittelbar an die moderne Lebenssituation an- Legitimation einer Lebenskunst, die auf vernünftige schlussfähig gemacht werden können, aber über ihre und übende Selbstbeziehungen, Beziehungen zu den – durch die Differenz des historischen Abstandes be- Mitmenschen und Beziehungen zum Kosmos setzte. dingten – Reflexionsangebote hinaus einerseits genea- Das Zentrum der asketischen Übungen der antiken logische und andererseits auch praktische Anschlüsse Lebenskunst – Askese im Sinne einer intensiven Be- an die Gegenwart der Lebenskunst erlauben. Im Sinne arbeitung – bildet die Idee, dass erst durch die Habi- einer Genealogie der Moral (Nietzsche) lässt sich da- tualisierungen von richtigen, vernünftigen Einsichten her auch von Genealogien der Lebenskunst sprechen, ein glückliches Leben möglich ist, weil durch die Um- die auf die vergessenen Zusammenhänge abendlän- formung der Leidenschaften und Vorstellungen eine discher philosophischer Theorien und Praktiken des Ordnung und Stabilität des Lebens gewährleistet wer- (alltäglichen) Lebens abheben; und diese genealogi- den kann. Zu diesen Umformungspraktiken gehörten: sche Perspektive findet sich in allen der hier verzeich- literarische Übungen, die die Aufmerksamkeit auf be- neten Lebenskunstkonzepte, wobei der Schwerpunkt stimmte Lehrinhalte konzentrieren sollten; dialogi- der Historischen Lebenskunst darin liegt, den beson- sche Übungen, in denen man sich wechselseitig (und deren Charakter vor allem der antiken Lebenskünste häufig auch freundschaftlich oder in Schulen verbun- zu rekonstruieren. Das heißt vor allem: Daran zu er- den) über Ziele, Inhalte und Umsetzungen eines ge- innern, dass Philosophie eine Lebensart bedeutet und lungenen Lebens verständigte; monologische Übun- dass die Philosophie der Lebenskunst das Ziel ver- gen, in denen in Selbstgesprächen Selbstprüfungen folgt, die Menschen zu formen. und selbstkritische Stellungnahmen vorgenommen Aus heutiger Sicht sind es nicht so sehr die großen werden sollten; und auch imaginative Übungen, inso- theoretischen Überlegungen der Metaphysik eines fern man durch gezielt hervorgerufene Vorstellungen Platon und Aristoteles, die hier interessant sind, son- Einstellungen, Emotionen und Träume zu beeinflus- dern vielmehr die praktischen Überlegungen, die auf sen suchte (vgl. Horn 1998, 38). Diese Perspektive be- ein reflektiertes Alltagsverständnis und auf konkrete trifft vor allem die Antizipation von Krankheiten und Übungen abheben wie etwa Meditation, Achtsamkeit Todesfällen sowie die Ablösung von Ärgernissen und und Kontemplation, Memorieren, Gewissenserfor- unangenehmen Erlebnissen. schung und Selbstermahnungen (Marc Aurel) oder Differenziert man die antiken Übungstechniken in Erziehung, Beratung und Therapie, wie sie von Sokra- intentionaler Hinsicht, so lassen sich die therapeuti- tes, Seneca oder Epikur vorgetragen werden. Kurz, es schen Übungen, die zur Überwindung von falschen geht um das »Leben lernen«, das »mit anderen reden Einstellungen, Vorstellungen und Affekten führen lernen«, das »Lesen lernen« und das »Sterben lernen« sollten, von den sensibilisierenden Übungen unter-

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